16. Erinnerung ans Vergessen

Stolpersteine

Gegen Jahresende ballen sich die Erinnerungszumutungen. Allenthalben muss memoriert werden, was in den vergangenen elf Monaten geschehen ist. Deswegen ist der Dezember üblicherweise auch so ein ereignisloser Monat, in dem nichts – oder fast nichts – geschieht. Schließlich sind alle so intensiv mit Erinnern beschäftigt. So wie auf kollektiver Ebene die Jahresrückblicke einander die Klinke in die Hand geben, wird auch im Privaten dem Gewesenen gedacht, werden die familiären Chroniken in kondensierter Form unters befreundete Volk gebracht, werden Bilder und Filme und Sonstiges, das sich an diversen Orten angesammelt haben, fein säuberlich sortiert. Ein Jahr vorbei, das nächste kann kommen.

Gegen diese Form der Erinnerungsarbeit wäre wohl gar nichts zu sagen, wenn sie auf den Dezember beschränkt bliebe. Aber man muss zuweilen den Eindruck haben, dass ein nicht ganz unerheblicher Teil des gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens auch während der übrigen elf Monate für das Erinnern draufgeht. Gedenktage, Erinnerungsorte, Kranzabwurfstellen wo man hinschaut. Geschichte (was auch immer das sein soll) wird nahezu im Minutentakt zelebriert. Kaum ein Tag des Jahres, der nicht mit Erinnerungs- und Gedenkmarkierungen belegt ist, gerne auch mehrfach.

Da stellt sich die Frage, ob das nicht des Guten zu viel ist. Tut man der ‚Erinnerungsarbeit‘ einen Gefallen, wenn man sie zum dauerhaften Automatismus erstarren lässt? Sollte der Wert des Erinnerns – das ja gerade im deutschen Kontext immer ein mahnendes Erinnern an die Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts ist – nicht gerade in einer pointierten Prägnanz anstatt in einer industrialisierten Dauerveranstaltung liegen? Lebt nicht auch die ‚Erinnerungsarbeit‘ wie jede gute Arbeit davon, auch mal eine Pause einzulegen?

Eine memoriale Zwickmühle

Knifflige Fragen, nicht zuletzt weil damit ja nicht nur, und noch nicht einmal vornehmlich, historische Probleme angesprochen sind. Zwar wird in der öffentlichen Wahrnehmung das historische Geschäft vielfach mit der Notwendigkeit zum Erinnern identifiziert (Medien, Politik, Interessenverbände und einschlägige Persönlichkeiten der Geschichtswissenschaft tragen das Ihre dazu bei, um diesen Eindruck zu bestärken). Tatsächlich handelt es sich aber nicht um ein geschichtswissenschaftliches, sondern um ein gesellschafts- und identitätspolitisches Phänomen. Die erinnerungsmäßige Zwickmühle ist daher schnell ausgemacht: Einerseits führt das Zuviel an Erinnerung zu Überdruss, andererseits steht die politische und moralische Notwendigkeit des Erinnerns außer Frage, so dass es niemand wagt, die Erinnerungsintensität ein wenig zu drosseln, will man nicht als Relativierer und Revisionist dastehen.

Sicherlich ist Erinnerung wichtig. Auch abgesehen von der historisch-moralischen Plumpheit, dass sich die deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht wiederholen darf, kann man erkennen, was passiert, wenn das gesellschaftliche Erinnern vergessen wird. Zum Beispiel im Bereich der Wirtschaft. Ein Problem, das sich in derzeitigen ökonomischen Praktiken identifizieren lässt, ist die nahezu programmatische Erinnerungslosigkeit. Krise war gestern – was zählt, ist der mögliche Gewinn von morgen. Das ökonomische Zeitmodell basiert auf einer Scheuklappentechnik, die weder nach rechts noch nach links und schon gar nicht nach hinten schaut.

Probleme der Erinnerungskultur

Woher dann aber trotzdem dieser diffuse Eindruck, dass mit der Erinnerungskultur irgendetwas nicht stimmt? Weshalb nervt Erinnerung, obwohl sie ‚richtig‘ ist? Ein Blick in ein neues Buch von Aleida Assmann kann bei der Beantwortung helfen [1]. „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur“ versucht Assmann mit gewichtigen Argumenten auszuräumen. Implizit wird aber deutlich, wieso dieses Unbehagen nicht von ungefähr kommt.

Problem 1: Bloß weil die ‚Erinnerungspraxis‘ an sich gut und begrüßenswert ist, bedeutet das nicht, dass es auch die Ergebnisse der konkreten ‚Erinnerungsarbeit‘ immer sein müssen. Aufgrund der moralischen Aufladung fällt es schwer, dem Gedenken vorzuwerfen, es sei qualitativ schlecht. Assmann hebt in ihrem Buch ausführlich die Fernsehserie „Unsere Mütter, unsere Väter“ als ein wertvolles Beispiel jüngster Erinnerungskultur hervor. Wenn ich hingegen der Meinung bin, dass es sich um eine bedauerliche Form der Verharmlosung handelt, weil aufrechte, moralisch integre, junge deutsche Menschen vorgeführt werden, die zufällig auch überhaupt nicht antisemitisch sind, die noch nicht einmal für Krieg und Verbrechen verantwortlich gemacht werden können, weil sie Opfer übermächtiger, anonymer historischer Kräfte sind – zweifle ich dann schon die Bedeutung von Erinnerungskultur an sich an?

Problem 2 hängt unmittelbar damit zusammen: Erinnerungskultur entzieht sich tendenziell der Beurteilung, weil sie sich immer schon auf der moralisch richtigen Seite weiß. Das macht kritisches Nachfragen schwierig, zuweilen sogar verdächtig.

Problem 3: Erinnerungskultur geht nicht selten mit einer vulgärpsychologischen Dauerpathologisierung einher. Stichwort ‚Trauma‘! Da insbesondere die Deutschen, aber auch der Rest Europas und der Welt immer noch ‚traumatisiert‘ sind von Judenmord und Zweitem Weltkrieg und allen anderen Grausamkeiten, die die Geschichte der letzten hundert Jahre zu bieten hat, und zwar traumatisiert bis in die Enkel- und Urenkelgeneration hinein, muss – so der memoriallogische Schluss – notwendigerweise erinnert werden. Die Traumadiagnose wird zum Passepartout, das durch seine Dauerverwendung jegliche Aussagekraft verliert. Das ist bedauerlich, insbesondere für die tatsächlich Traumatisierten, hier und anderswo.

Problem 4: Erinnerungskultur ist nicht nur ein Geschäft, sie ist eine Industrie, die allein schon aus Gründen des eigenen wirtschaftlichen Überlebens nicht daran interessiert sein kann, die Memorialfrequenz zu verringern. Zu viele Jobs, Institutionen sowie öffentliche und private Gelder stecken in diesem Bereich, der sich nach wie vor über mangelnde Nachfrage nicht beschweren kann.

Diese erinnerungskulturelle Infrastruktur ist aber zugleich verstrickt in eine Überschuss-, und damit auch Überdrussproduktion, mit der sie sich – so meine Vermutung – keinen Gefallen tut. Sie könnte zum Eigentor werden. Was, wenn sich niemand mehr aus eigenem Antrieb aktiv erinnern will, weil ja schon immer passiv für einen erinnert wird? Dann geschieht eben doch das, was Aleida Assmann bestreitet, dann wird das Datum im Kalender eben doch zu einer „allgemeinen und gleichförmigen Erinnerungsverordnung“ (19).

Die größte Katastrophe?

Für das Vergessen Werbung zu machen, ist gar nicht nötig. Vergessen geschieht ohnehin beständig und ganz von selbst. An das Vergessen zu erinnern, soll auch gar nicht dazu auffordern, das Erinnern nun zu vergessen. Das ließe sich kaum dekretieren, und wäre zudem ein Missverständnis des Vergessens. Vergessen ist nämlich – entgegen landläufiger Meinung – nicht das Gegenteil von Erinnern, ist keine Vernichtung oder Auslöschung memorialer Inhalte. Daran wird man durch ein Buch aufmerksam gemacht, das fast gleichzeitig mit demjenigen von Assmann erschienen ist: „Die Formen des Vergessens“ von Marc Augé [2]. Vergessen erweist sich demnach nicht nur als überlebensnotwendig, sondern als Formvorgabe der Erinnerung und als produktive Praxis, mit der Kulturen ihre Wirklichkeit gestalten. Das Vergessen bleibt unterbelichtet, wenn es nur als Schattenseite der Erinnerungskultur verstanden wird. Denn das Verhältnis von Erinnern und Vergessen gestaltet sich nicht nach der Logik von Gewinn und Verlust, sondern nach der Differenz von Aktualität und Potentialität. Vergessen löst das Erinnerte nicht auf (denn ansonsten könnte man ja nicht wissen, dass man es vergessen hat), sondern es deaktualisiert bestimmte Wissensbestände.

Eines Morgens wurde ich an der von mir regelmäßig frequentierten Bushaltestelle von hungernden Menschen aus der Sahel-Zone angeblickt. Sie befanden sich auf einem Plakat der Diakonie Katastrophenhilfe, begleitet von dem Satz „Die größte Katastrophe ist das Vergessen“. Auch wenn die Intention dieser Kampagne richtig ist, so stimmt doch der Satz nicht. Man kann den Hunger auf der Welt nicht ‚vergessen‘. Man kann ihn nicht beachten, kann ihn beiseiteschieben oder verdrängen, aber ‚vergessen‘ kann man ihn nicht. Die größten Katastrophen sind daher Irrelevanz, Bedeutungslosigkeit, Unachtsamkeit.

Auf diesem Weg in den Aufmerksamkeitsverlust könnte sich die Erinnerungskultur befinden, wenn sie beliebig und unterschiedslos alles als der Erinnerung wert einstuft und das Vergessen verbietet. Einerseits produziert sie dadurch selbst Vergessen, nämlich in all denjenigen historischen Themenfeldern, die nicht Teil der Erinnerungskultur sind. Andererseits könnte sie selbst über kurz oder lang mit Deaktualisierung bestraft werden, wenn sie immer mehr vom Immergleichen einfordert.

[1] Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013

[2] Marc Augé: Die Formen des Vergessens, Berlin 2013


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15. Gedenken auf Teufel komm raus

emaille-kalenderHistorisches Schlachtfest

Ein Jahr des Gedenkens geht allmählich zu Ende. 2013 war das Jahr, in dem wir den 300. Geburtstag von Denis Diderot feierten, den 250. Geburtstag von Jean Paul, den 200. Geburtstag von Georg Büchner, den 100. Geburtstag von Albert Camus und Claude Simon, an die Völkerschlacht bei Leipzig erinnerten und dem Jahr 1913 gedacht haben. In diesem Jahr 1913 ist genauso viel und genauso wenig geschehen wie in jedem anderen durchschnittlichen Jahr auch. Ein ‚herausragendes‘ Ereignis, das es in den Kanon des Geschichtsunterrichts geschafft hätte, ist nicht zu verzeichnen. Warum man ihm dann mit Büchern und Ausstellungen so ausgiebig gedenkt? Entweder weil es das letzte Jahr einer Zivilisation war, die im Ersten Weltkrieg untergehen sollte. Oder einfach weil es 100 Jahre her ist. Ich tippe auf letzteres.

Neben diesen Gedenktagen, die mit einer gehörigen medialen Breitenwirkung daherkamen, gab es natürlich noch eine ganze Reihe minderer Anlässe, den einen oder anderen Beitrag in die Welt zu schicken. So durfte beispielsweise nicht vergessen werden, dass vor 75 Jahren Superman erfunden wurde, vor 125 Jahren die erste Automobil-Fernfahrt startete oder vor 250 Jahren der Friede von Hubertusburg zum Abschluss kam (oder sollte das etwa niemand mitbekommen haben?). Wir gedenken, was die Annalen hergeben. Und kaum ist es mit dem Gedenken vorbei, verschwinden die entsprechenden Ereignisse und Personen auch wieder im Orkus der Nichtbeachtung, zumindest bis zum nächsten Gedenkjahr in 50 oder 100 Jahren. Vielleicht sollte man all diesen Personen und Ereignissen überhaupt kein Gedenkjahr wünschen, damit nach dem kurzen, kalendarisch bedingten Aufflackern der Aufmerksamkeit der Absturz ins Vergessen nicht gar so heftig ausfällt.

Der schrille Höhepunkt war natürlich die nachgestellte Völkerschlacht im Kleinformat (bei einiges tausend Hobbysoldaten von Kleinformat zu sprechen, mag zwar unangemessen erscheinen, bleibt aber angesichts der tatsächlich beteiligten 600.000 Soldaten trotz allem zutreffend). Da ging es dann nicht mehr nur um die Frage des historischen Gedächtnisses, sondern um den Zweck der Veranstaltung: Kriegsverherrlichung oder Friedensdienst? Dieses Dilemma wurde immer wieder verhandelt. Die Veranstalter der Schlachtimitation haben wiederholt darauf hingewiesen, dass sie mit ihrer Aufführung zeigen wollten, wie unsinnig Kriege seien – als müsste man jemandem noch ernsthaft beibringen, dass Krieg irgendwie nicht so gut ist. Diese Lektion haben schon Kinder im Vorschulalter verstanden. Sollten wir demnächst auch ein KZ nachbauen, um deutlich zu machen, dass man Genozide besser unterlassen sollte?

Lange her und bedeutungslos

Wenn man Geschichte für möglichst viele Menschen möglichst unattraktiv machen will, wenn man der historischen Beschäftigung jede Sinnhaftigkeit entziehen möchte – dann nur weiter so. Denn welchen Eindruck von Geschichte muss man bekommen, wenn man das Radio einschaltet, die Zeitung aufschlägt oder den Fernseher anmacht und einem dort neben dem allseits präsenten Nationalsozialismus vor allem Gedenktage entgegenschlagen? Dass es sich bei Geschichte um etwas handelt, das einfach mehr oder weniger lange her ist und an das aufgrund runder Jahrestage pflichtschuldig zu erinnern ist. Aber ansonsten: long ago and far away – mit mir hat das nichts zu tun. Man gedenkt dieser Dinge nicht, weil sie uns heute vielleicht noch etwas zu sagen hätten, sondern weil sie in der Zeitleiste dran sind.

Unsere allseits präsente Gedenkkultur nervt. Die Beschäftigung mit Geschichte wird darauf reduziert, sich zum kalendarisch passenden Datum einem kleinen Schnipsel Vergangenheit zu widmen. Es ist wie mit Geburtstagen: Wir schenken unseren Mitmenschen dann gesteigerte Aufmerksamkeit, wenn es das entsprechende Datum von uns verlangt – und auch nur weil es das entsprechende Datum verlangt.

Ein wagemutiger Gedanke könnte lauten, dass Geschichte vielleicht nicht der soundsovielte Jahrestag von irgendetwas sein sollte, sondern eine Form, sich mit unserer Gegenwart auseinanderzusetzen. Nicht das quizshowmäßige Fragen danach, was vor 100 oder 200 Jahren geschah, sondern die elementare Frage danach, was uns Hier und Heute unter den Nägeln brennt. Denn diese gegenwärtigen Probleme bedürfen eines Kontrastmittels, um auf Inhalt, Zusammensetzung und Lösungsmöglichkeiten überprüft zu werden. Nicht dass die Geschichte die einzige Möglichkeit ist, um eine solche Reibungsfläche zur Verfügung zu stellen – aber sie ist eine wichtige. Und nicht dass die Vergangenheit uns problemlos lehren könnte, wie wir es richtig zu machen hätten. Aber wir haben neben dem Lernen von den Anderen, also außer dem Blick über den Tellerrand zu anderen Kulturen, kaum eine bessere Möglichkeit als den Blick in die eigene Vergangenheit.

Überdrussproduktion

Selbstredend ist es ein Kampf gegen Windmühlen. Zwar gibt es immer wieder kritische Stimmen zu unserem Gedenken auf Teufel komm raus, aber was sind sie gegen eine Praxis, die davon völlig unbeleckt weitermacht wie bisher. Nein, wenn man ernsthaft gegen das Dauergedenken vorgehen will, dann muss man Überdruss produzieren. Wenn wir unsere Geschichtskultur ernsthaft ändern und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart anregen wollen, sollten wir nicht nur einfach weitermachen wie bisher – wir sollten noch viel mehr machen als bisher. Noch mehr Gedenktage, noch mehr Feierlichkeiten, noch mehr Festreden, noch mehr Artikel und Sendungen, die vergangene Ereignisse nacherzählen.

Gerade das kommende Jahr wird dafür beste Gelegenheiten bieten. Denn auch 2014 wird es fröhlich weitergehen. Es wird sogar alles noch viel schlimmer als es in diesem Jahr schon war. Schließlich ist wieder Erster Weltkrieg! Mal sehen ob dann in Flandern auch Schlachten nachgestellt werden – natürlich aus Gründen der Friedenserziehung. Und es ist 25 Jahre Mauerfall! Wie wäre es mit einer historisch getreuen Restauration des antifaschistischen Schutzwalls? Beim Wiederaufbau des Berliner Schlosses fallen doch sicherlich ein paar Steinchen dafür ab. Aber dabei sollten wir es nicht belassen. Man könnte zumindest die runden Jahre in ihrer Gänze zu Gedenkjahren erklären und permanent an 1914, 1814, 1714, 1614, 1514, 1414 … erinnern.

Denn, meine Damen und Herren, wir haben noch jede Menge davon! In den Katakomben lagert noch eine Unmenge an Vergangenheit. Immer raus damit, schließlich hat jedes gewesene Jahr ein Recht darauf, dass seiner gedacht wird, auch völlig ohne Grund und Anlass. Gedenken wir was das Zeug hält, bis uns das Gedenken zu den Ohren herauskommt, bis wir vor lauter Gedenken keinen anderen Gedanken mehr fassen können. Vielleicht stellen wir uns dann endlich die Frage, wozu das alles gut sein soll.


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14. Das Private wird historisch

FamilienbildEine eigene Geschichte

Einst lautete ein Sponti-Spruch der 68er: Das Private ist politisch. Ein Satz, der Hoffnung und Programm zugleich war. Die Belange der Vielen sollten zum Maßstab politischer Prozesse werden, Individuum und Familie sollten Ausgangs- und Zielpunkt politischer Entscheidungen sein, und nicht zuletzt sollte damit das Versprechen verbunden sein, dass die Einzelnen als aktiv Teilnehmende im Feld des Politischen einen Unterschied machen könnten.

Ein halbes Jahrhundert später kann man Zweifel hegen, ob das Private überhaupt noch politisch sein will. Eher hat sich eine andere Maxime etabliert: Das Private ist historisch. Man will nicht mehr einen Unterschied in politischen Entscheidungsprozessen machen, sondern in der zukünftigen Vergangenheit. I am history.

Für diese Entwicklung gibt es unterschiedliche Indizien. Die Ausweitung und Demokratisierung medialer Artikulationsmöglichkeiten gibt jeder und jedem die Mittel an die Hand, die „eigene Geschichte“ zu veröffentlichen und zu verewigen (je nachdem, wie lange eine solche Ewigkeit dauern mag). Gleichzeitig verlangt unser Mediensystem nach solchen „Geschichten“, schließlich will es gefüttert werden, so dass die Grenzen des Berichtenswerten beständig neu bestimmt werden.

So mag es Zeiten gegeben haben, in denen der Status des „Zeitzeugen“ noch mit der Aura des Besonderen umgeben war. Das waren nicht nur Menschen, die aufgrund glücklicher historischer und biologischer Umstände ein gewisses Alter erreicht hatten, sondern die in dieser Lebensspanne auch etwas erlebt hatten, das sie vor anderen auszeichnete. Dieser Typus des Zeitzeugen ist nicht nur dadurch entwertet worden, dass er in der einen oder anderen historischen Fernsehproduktion ein paar Mal zu oft auf der Mattscheibe zu sehen war [1], sondern dass ihm inzwischen jegliche Exklusivität abhandengekommen ist. Wir alle sind Zeitzeugen (von was auch immer)! Wir alle sind das „Gedächtnis der Nation“, dürfen in einen Bus steigen, der in ganz Deutschland herumfährt, um dort eine „spannende Geschichte zu erzählen“, die nicht „verloren gehen“ soll, sondern „nachfolgenden Generationen zur Verfügung“ gestellt wird – wenn diese Generationen denn vor lauter Erinnerungs- und Vergangenheitsaufarbeitung überhaupt noch zum Luftholen kommen.

Die Wochenzeitung „Die Zeit“ wäre ein weiteres, beliebig herausgegriffenes Beispiel. Auch sie ist auf den Nostalgiezug aufgesprungen und hat mit „Die Zeit der Leser“ eine eigene Seite aufgesetzt, in der das Privathistorische einmal an die große Öffentlichkeit gebracht werden darf. Dort wird dann aus Großvaters Notizbuch zitiert, werden Muttis Küchenrezepte zum Besten gegeben, werden Damals-und-Heute-Fotos gegenübergestellt und wird die gute alte Zeit häuslich-familiärer Eintracht besungen.

Als wäre „Ich“ nie gewesen

Mittels Privathistorisierung, so steht zu vermuten, soll die Schere zwischen Weltzeit und Lebenszeit geschlossen werden, sollen die überbordend komplexen Vorgänge, die wir als „Geschichte“ zu bezeichnen pflegen, mit der eigenen Biographie gekoppelt werden. [2] Schließlich geht es um das Ärgernis, dass die Welt nach dem sehr vorhersehbaren individuellen Ende weiterbestehen soll, dass „die Geschichte“ auch nach dem eigenen Dahinscheiden einfach so weitergehen wird, als sei nichts gewesen – und vor allem als sei „Ich“ nie gewesen. Es ist für so manchen historisch gesinnten Menschen wohl nur schwer erträglich, dass nach dem eigenen vergänglichen Leben noch so viel mehr Vergangenheit aufgehäuft werden wird, in der „Ich“ nicht vorkommt, dass dieser Zustand sofort geändert werden muss. Man versucht Vergangenheit zu hinterlassen, um postmortale Zukunft zu gewinnen.

Wenn ich dagegen Bedenken äußere, klingt das verdächtig nach beleidigtem Geschichtsprofessor, der sich seiner Interpretationshoheit über die Vergangenheit beraubt sieht. Auch wenn ich solche Reflexe gar nicht ausschließen möchte, meine ich doch an diversen (nicht-professoralen) Stellen ein gewisses Genervtsein über den einen oder anderen Auswuchs der Geschichtskultur des frühen 21. Jahrhunderts zu bemerken. Aber was nervt so daran? Warum will man nicht jede Familiengeschichte als Buch veröffentlicht sehen, nicht jedes Tagebuch im Internet lesen können, nicht jedes Alltagserlebnis in der Zeitung abgedruckt finden?

Weil es sich um eine Verwechselung von Relevanz und Referenz handelt. Fraglos sind diese Kindheitserlebnisse, Urlaubserinnerungen oder Familienschicksale bedeutsame Ereignisse. Aber nicht für jeden. Die Alltagshistoriker des eigenen Lebens, die aus jedem Wochenendausflug ein Ereignis zu machen versuchen, das der Welt nicht vorenthalten werden darf, wollen einen Unterschied machen, der nur durch andere gemacht werden kann.

Was an diesen Privatgeschichten zuweilen so peinlich wirkt und sogar zum Fremdschämen provoziert, ist die selbstherrliche Bedeutungszuschreibung. Wie kann man davon ausgehen, dass ausgerechnet das eigene Leben all den anderen etwas zu sagen hätte? Das Historische, das wir im Nachhinein über andere produzieren und das andere später irgendwann über uns produzieren werden, entsteht einerseits über Relationierung, soll heißen: Eine gegenwärtige Kultur stellt mit bestimmten Teilen der Vergangenheit Beziehungen her, von denen sie meint, dass sie wichtig für ihre eigene Selbstdeutung sind. Andererseits entsteht dieses Historische über eine sehr rigide Selektion, soll heißen: Nur ein verschwindend geringer Teil des Vergangenen übersteht diese Relevanzprüfung. Der Rest verschwindet im Orkus des Vergessens.

Womöglich ist es gerade diese Demütigung, die für einige nur schwer zu ertragen ist – die lastende Gewissheit, in nicht allzu ferner Zukunft niemandem mehr etwas zu sagen zu haben. Aber wir sind ein paar Milliarden. Wo kämen wir hin, wenn auf unabsehbare Zeit jeder allen etwas zu sagen hätte?

Vergangenheit ist nicht vorhersagbar

Bei alldem geht es nicht um die Frage, ob der Alltag der Vielen den Wert zugesprochen bekommt, „historisch“ zu sein oder nicht. Es ist nur zu begrüßen, wenn die Produktion von Geschichte demokratisiert wird und an Vielfalt gewinnt. Aber eitle Selbstdarstellung in Form von Möchtegern-Historisierung zählt nicht unbedingt dazu. Denn ansonsten verliert die Geschichte ihr kritisches Potential. [3]

Es ist nämlich ein weit verbreiteter Irrtum, dass die Produktion von Geschichte dazu dienen soll, die Erinnerung zu bewahren, und zwar im besten Fall an alles und jeden. Die Historie hätte demnach im Idealfall die Aufgabe, eine naturgetreue Kopie alles Geschehenen anzufertigen. Eine solche totale Memoria ist nicht nur unmöglich, sondern würde auch zu weitgehenden Lähmungserscheinungen führen. In der Erzählung „Das unerbittliche Gedächtnis“ von Jorge Luis Borges besitzt die Hauptfigur Ireneo Funes diese totale Erinnerung – und muss genau deswegen eine Existenz führen, in der Handeln, Denken und Sinnhaftigkeit keinen Platz mehr haben, weil sie von der überwältigenden Vielfalt der erinnerten Einzelheiten überwuchert werden.[4]

Daher zum Mitmeißeln: Geschichtsschreibung betreibt keine Mumifizierung des Gewesenen, will nicht bewahren, um vor dem Vergessen zu retten. Im Gegenteil: Vergessen ist gut, Vergessen ist richtig, Vergessen ist überlebensnotwendig. Genauso wie das Erinnern. Aber wir erinnern uns nicht um des Erinnerns willen, sondern weil wir hier und heute Fragen haben, bei denen wir das Gestern für hilfreich halten.

Wir können durchaus versuchen, heute schon unsere eigenen Geschichten für morgen zu produzieren, unser Privates schon jetzt historisch aufzubereiten, jetzt schon Vergangenheit aufzuhäufen, um die zukünftige Geschichte bereits Hier und Heute zu schreiben. Es könnte aber sein, dass in künftigen Gegenwarten dieses Bemühen nur ein Stirnrunzeln hervorruft angesichts der Obsession, jeder Kleinigkeit den Wert des Historischen zumessen zu wollen. Denn die Vergangenheit ist genauso wenig vorhersagbar wie die Zukunft. Wir wissen nicht, was das Morgen bringen wird. Wir wissen aber auch nicht, was das Gestern uns noch bedeuten kann.

[1] Martin Sabrow/Norbert Frei: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012

[2] Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M. 2001

[3] Achim Landwehr: Die Kunst sich nicht allzu sicher zu sein: Möglichkeiten kritischer Geschichtsschreibung, in: WerkstattGeschichte 61 (2012) 206-211

[4] Jorge Luis Borges: Fiktionen. Erzählungen 1939-1944, 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1999, 95-104


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13. Der Erzengel Michael oder die Erlösung der Geschichte

Mont St Michel IIBaguette mit „Pommes rot-weiß“

Es ist August. Urlaubsmonat. Die Touristenströme strömen. Ich ströme mit.

Im Urlaub steht Geschichte hoch im Kurs. Die Reise in andere Weltgegenden wird preisbewusst mit einer Reise in die Vergangenheit verbunden. Der Tourismus erfasst nicht nur sämtliche zur Verfügung stehenden Räume, sondern dringt auch in alle vermarktbaren Zeiten vor. In diesen Wochen werden die geschichtsträchtigen Orte in noch größerem Maße heimgesucht als sonst schon.

Diesmal trifft es den Mont Saint Michel. Er wird von mir besucht, betrachtet, bestiegen, fotografiert. Eigentlich wird er von mir erobert. Von mir und Millionen anderen. Die Massen, die sich dort zusammenfinden, sind beeindruckend. Hat sich aber auch tatsächlich ein hervorragendes Plätzchen ausgesucht, der Mont Saint Michel. Inmitten einer Bucht, die ebenfalls nach ihm benannt ist, hat man den Felsen ständig im Blick, wenn man auf das Meer sieht. Malerisch ragt er gen Himmel. Ein kompakter Felsen, der sich mit zunehmender Höhe in Stadtmauern, Häuser, das Kloster und schließlich die Statue des Erzengels Michael an der Spitze verwandelt. Kein Tourismusmanager hätte einen besseren Ort für eine publikumswirksame Attraktion aussuchen können. Und das hat er nun davon, der heilige Felsen. Einmaliger Ort, einmalige Lage, einmalige Architektur, einmalig erhalten. Da muss man doch mindestens einmal gewesen sein. Denken sich viele.

Jedes Jahr besuchen etwa 3,5 Millionen Menschen den Mont Saint Michel. Wenn man dort ist, könnte man meinen, sie kommen alle an einem Tag. Es ist voll. Alles ist voll. Ist auch kein Wunder, denn erstmals besiedelt wurde der Berg im 8. Jahrhundert, in den folgenden Jahrhunderten wurde umgebaut und erweitert. Aber ausgelegt auf mittelalterliche Lebensverhältnisse, muss der Berg unter Bedingungen des Massentourismus aus allen Nähten platzen. Bis man zur Felseninsel durchgedrungen ist, dominiert allerdings unübersehbar das 21. Jahrhundert. Die Abfertigung der Besucherströme ist vorbildlich. Vom riesigen Parkplatz, der die Fläche einer Dorfs einnimmt, wird man umgeleitet in einen niemals abreißenden Strom von Bussen, die im Minutentakt die Besucher zum Berg fahren. Auf dem Weg dorthin durchquert man ein weiteres dorfgroßes Areal mit Supermärkten, Hotels, Gift-Shops und vielen anderen Angeboten, die man nicht braucht, auf jeden Fall nicht an einem Ort wie diesem. Ist man endlich angekommen und hat sich mit tausenden anderen durch das Stadttor gequält, können einen Zweifel überkommen, ob das hier wirklich altes Gemäuer oder nicht doch eine Dependance des Pariser Disney-Parks ist. Hinter all den sonnencremebedeckten Menschen, den Crêperien, den Eisläden und Imbissbuden, in denen – Höhepunkt der Widerwärtigkeit – tatsächlich Baguette mit einer Füllung „Pommes rot-weiß“ verkauft werden, verschwimmt der Ort zu einer gräulichen Hintergrundkulisse. Man kann gar nichts mehr sehen, weil man so viel gucken muss. Und ich mache mit, mittendrin.

Die meistfotografierte Scheune

All das kennt man dem Grundsatz nach zur Genüge. Die Tourismuskritik ist nahezu so alt wie der Tourismus selbst. Das kann keinen mehr hinterm Ofen hervorlocken. Hans Magnus Enzensberger hat in seiner immer noch lesenswerten „Theorie des Tourismus“ aus dem Jahr 1958 das Wesentliche dazu gesagt: das Elitäre an der Tourismuskritik und das Vergebliche an der touristischen Flucht, die aus Industrialisierung und Moderne herausführen soll, tatsächlich aber nur immer tiefer hineinführt – diese Thesen dürfen auch heute noch Gültigkeit beanspruchen. [1]

Das enthebt uns aber nicht der Frage: Warum macht man so etwas? Warum fahre ich zum Mont Saint Michel? Weil alle dort hinfahren? Weil das ungeschriebene Gesetz des Tourismus besagt, dass man selbst noch gesehen haben muss, was alle anderen bereits gesehen haben? Weil die touristische Praxis einem tautologischen Prinzip unterliegt – man macht es eben, weil man es macht?

In dem Roman „Weißes Rauschen“ von Don DeLillo gibt es die Episode von der meistfotografierten Scheune Amerikas, die nur deswegen so oft fotografiert wird, weil sie so oft fotografiert wird. Das ist alles. Aber aus eben diesem Nichts gelingt es dem Tourismus, etwas zu machen: „Wir sind nicht hier, um ein Bild einzufangen, wir sind hier, um eines aufrechtzuerhalten. […] Wir haben eingewilligt, Teil einer kollektiven Wahrnehmung zu sein. […] Eine religiöse Erfahrung gewissermaßen, wie aller Tourismus.“ Denn was die Besucher der Scheune machen, ist nicht die Scheune selbst zu fotografieren: „Sie fotografieren das Fotografieren.“ [2]

Und was hat das nun mit unserem Umgang mit Geschichte zu tun? Valentin Groebner hat vor kurzem ein Plädoyer veröffentlicht, das den Tourismus als eine enorm wirkmächtige Form der Geschichtsproduktion ernst nehmen will. [3] Ich würde ihm in dieser Einschätzung grundsätzlich folgen, nicht zuletzt aufgrund geschichtstheoretischer Erwägungen. Allein wegen der eindrücklichen Zahlen, welche die Branche für den Besuch historischer Stätten vorlegen kann, muss man den Tourismus als eine unübersehbar wichtige Form ansehen, wie Kulturen der Gegenwart sich ihre Geschichte machen. Aber selbst unter Absehung seiner quantitativen und ökonomischen Bedeutung ist der Tourismus eine zentrale Art und Weise, Relationen zwischen einer Gegenwart und ihren Vergangenheiten herzustellen.

Touristische Vergangenheitszerstörung

Aber Tourismus ist nicht gleich Tourismus. Denn wie jede kapitalistische Aneignungsform im Rahmen einer expansiven Moderne nimmt auch der Tourismus unübersehbar destruktive Formen an. Die Zerstörung kann sich auf sehr konkrete, physische Weise äußern, wie im Fall Venedigs oder beim Schutz von Gemälden in völlig überfüllten Museen wie dem Pariser Louvre: Orte und Objekte, die vor den Zudringlichkeiten ihrer Besucher geschützt werden müssen. Es kann aber auch zu einer Form der Vergangenheitszerstörung kommen, die dem Ort oder dem Objekt jede Form der zeitlichen Distanz entzieht. Touristische (und mithin wirtschaftliche) Interessen überformen Orte wie den Mont Saint Michel derart, dass vom Historischen nichts mehr übrig bleibt. Ist das Gemäuer wirklich alt, oder ist es nur gut gemachte Kulisse? Diese Frage interessiert gar nicht mehr, denn in beiden Fällen geht es darum, einerseits etwas zu verkaufen, andererseits das Häkchen anzubringen an der unvermeidlichen Liste der Dinge, die man unbedingt gesehen haben muss.

Daher ein gänzlich utopischer, aber ernst gemeinter Vorschlag: Erlösen wir diese Orte von den Zumutungen einer touristisch expansiven Moderne. Überlassen wir sie sich selbst. Verhindern wir, dass sich diese Moderne – die wir selbst sind – in ihrer unglaublichen Fressgier eines bestimmten, nämlich des touristisch verwertbaren Teils der Vergangenheit bemächtigt und diesen bis zur Unkenntlichkeit aussaugt. Retten wir eine Vergangenheit, der in diesem Spiel kaum noch eine Rolle zukommt, die vor allem als Kulisse dient, um mehr unappetitliche Baguettes zu verkaufen.

Ich habe den Mont Saint Michel in den folgenden Tagen noch oft gesehen. Immer aus der Ferne. Mit einigen Kilometern Abstand konnte ich mich der Illusion hingeben, die Utopie sei schon Wirklichkeit geworden. Der Erzengel Michael schien den endzeitlichen Kampf gegen den Satan namens Massentourismus gewonnen zu haben. Sah sehr schön aus, wie der Fels dort in der Bucht lag, mal im Watt, mal vom Wasser umspült. Denn Menschen konnte man auf die Distanz gar nicht mehr erkennen.

[1] Hans Magnus Enzensberger: Theorie des Tourismus (1958), in: ders.: Einzelheiten I & II, Hamburg 2006, 177-202

[2] Don DeLillo: Weißes Rauschen, Reinbek bei Hamburg 1997, 24.

[3] Valentin Groebner: Touristischer Geschichtsgebrauch. Über einige Merkmale neuer Vergangenheiten im 20. und 21. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 296 (2013) 408-428


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12. Das Netz und die Autohistorisierung

baumringe1Es ist nun schon gut einen Monat her, dass ich an dieser Stelle etwas zum Besten gegeben habe. In Ordnung, außer mir wird das wohl niemand bemerkt haben. Was soll ich mich auch groß entschuldigen, ich hatte einfach Dringenderes und Wichtigeres zu tun. Will man aber den im Netz kursierenden Blogratgebern glauben, so ist es natürlich fahrlässig, die eigene (überschaubare) Gefolgschaft allzu lange auf Neues warten zu lassen – als ob dem Rest der Welt tatsächlich langweilig werden würde, wenn ich zu schreiben aufhörte. Das läuft dann möglicherweise unter dem Stichwort der digitalen Kundenbindung.

Wirklich schlimm finde ich hingegen, was ich hier gerade mache, nämlich über das eigene Bloggen zu bloggen. Eine problematische, aber offensichtlich unaufhaltsame Entwicklung, die jedes Medium immer wieder zu befallen scheint, unabhängig davon, wie neu und revolutionär es sich geriert: Es kommt immer schon in sich selber vor. Das riesige mediale Angebot verführt wahrscheinlich dazu, den einfachsten Weg der Weltbehandlung einzuschlagen und sich vornehmlich mit sich selbst zu beschäftigen. Medienonanie. Dann wird in Büchern nur noch über andere Bücher geschrieben, dann werden Fernsehsendungen gemacht, die nur aus Zusammenschnitten von Fernsehsendungen bestehen und dann ist ein wesentlicher Inhalt des Internets das Internet. Fatale Auswirkungen hat eine solche Entwicklung, wenn man sich dabei selbst auf den Leim geht und tatsächlich glaubt, die Welt sei mit dieser Selbstbezüglichkeit identisch: „Ick jehe raus und kieke. Und wer steht draußen? Icke!“

Autohistorisierung

Mein völlig subjektiver und durch keine empirische Erhebung gestützter Eindruck ist, dass die Autoreferentialität im Internet, also die Tatsache, dass im Netz Themen behandelt werden, die das Netz behandeln, besonders ausgeprägt ist. Die Welt ist das Internet ist die Welt. Ein wichtiger Bestandteil dieser Nabelschau ist die Autohistorisierung. Das ist nun nicht ausschließlich netzspezifisch, aber hier besonders profiliert und gut zu beobachten. Dieses Produzieren der eigenen Geschichte als beständig mitlaufender Vorgang kann an einem trivialen Umstand festgemacht werden: Alles, was im Netz oder generell auf Computerbasis geschieht, wird sofort und immer mit einem Datum versehen. Man muss sich nicht mehr darum kümmern, gesondert zu notieren, wann man was hoch- oder heruntergeladen, bestellt, angeklickt, verschickt oder bekommen hat. Das erledigt bereits die Maschine. Auch dass alle Beiträge dieses Blogs bei Veröffentlichung automatisch mit einem Datum versehen werden, das sich sekundengenau nachverfolgen lässt, ist nicht meiner Aufmerksamkeit, sondern dem Programm zu verdanken. (Und da komme ich prompt schon wieder in mir selber vor.)

Das ist zunächst einmal eine ungemein praktische Sache. Man muss sich nicht beständig selbst fragen, wann man was gemacht hat. Das Netz und die Maschine zeichnen das getreulich auf. Bedenken kann diese Totaldatierung aber nicht nur auslösen, weil man ahnt, wer alles diese Chronologie des eigenen (Netz-)Handelns mitlesen könnte. Sie ist auch bedenkenswert mit Blick auf unseren Umgang mit Vergangenheit und unsere Produktion von Geschichte.

Denn welchen Effekt Datierungen auf unser Leben und unseren Alltag haben, wird deutlich, wenn man sich für einen Moment vorstellt, wir müssten ohne sie auskommen. Dann würden wir schlicht und ergreifend unsere temporale Orientierung verlieren. Alles und alle werden mit einem Datum versehen. Jeder Tag wird datiert, jedes Produkt erhält ein Herstellungs- und/oder Verfallsdatum und jeder Mensch bekommt einen Geburtstag sowie andere kulturell signifikante Daten zugeordnet. Diese Form der Verzeitung aufzugeben, ist schlicht unvorstellbar, weil unsere Welt ohne sie kollabieren würde. Man muss sich nur die Panikattacken in Erinnerung rufen, die kurz vor dem Jahr 2000 ausbrachen, als die Möglichkeit diskutiert wurde, die Datierungssysteme von Computern könnten aufgrund ihrer ursprünglichen Programmierung die Umstellung auf eine 2 mit drei Nullen nicht bewältigen. Y2K ließ für ein paar Wochen die Vision aufscheinen, wie eine Welt ohne korrekte Datierung aussehen würde. Eine gänzlich geräuschlose Apokalypse. Es hat sich möglicherweise noch nicht herumgesprochen, aber Datierungssysteme von Staaten und Volkswirtschaften, wie Atomuhren oder ähnliches, könnten es seitdem auf die Liste lohnender Ziele für terroristische Anschläge geschafft haben.

Der Geburtstag des Geburtstags

Man könnte die Geschichte westlicher Kulturen auch als eine Geschichte der zunehmenden Datierung schreiben. Wenn in unserer eigenen Gegenwart keine Einkaufsquittung und keine Foto ohne automatisch hinzugefügtes Datum auskommt, dann muss man sich die Frage stellen, wann und wie uns diese Datierungswut heimgesucht hat. Obwohl: Heimsuchung ist kein guter Ausdruck, denn auch diese Zahlensuppe haben wir uns selbst eingebrockt. Anhand der Praxis, das eigene Leben zeitlich zu strukturieren, das eigene Alter und auch den eigenen Geburtstag zu kennen, kann man dieser Kulturtechnik auf die Schliche kommen. Lässt sich damit die Datierung datieren? Wohl kaum, denn einen Ursprung gibt es nicht. Man kann aber feststellen, dass es über Jahrhunderte hinweg gänzlich unbedeutend war, das Datum der eigenen Geburt oder das eigene Alter zu kennen. Das änderte sich allmählich seit dem Spätmittelalter, wenn auch zunächst in sozial höher gestellten und gebildeten Kreisen. Dort war es im 15. oder 16. Jahrhundert schon durchaus üblich, den Geburtstag mit Tag, Monat und Jahr angeben können. Allmählich diffundierte diese Praxis dann in weitere soziale Kreise, so dass man ab dem 18. Jahrhundert davon ausgehen konnte, dass ein Großteil der Menschen den eigenen Geburtstag kannte. [1]

Man muss für die Schritte zu einer zunehmenden Datierung des eigenen Lebens sowie der gesamten Welt sicherlich ganz pragmatische, rechtliche Aspekte heranziehen (zum Beispiel Kenntnis des genauen Lebensalters zur Erfüllung bestimmter rechtlicher Vorgaben). Aber dahinter steckt auch ein anderer Umgang mit Zeit und eine neue Aufmerksamkeit für Geschichte. Denn wenn ein Phänomen einer spezifischen Zeitreihung, womöglich schon einer bestimmten Epoche zugeordnet wird, wenn es also datiert werden kann, dann kann es auch out of date sein. Auf Datierungen zu verzichten, wäre dann ein Hinweis darauf, dass solche Formen der tagesgenauen Historisierung als nicht besonders bedeutsam angesehen werden. Warum soll man seinen eigenen Geburtstag kennen, wenn der eigentlich wichtige Lebensabschnitt im Jenseits stattfindet und ewig währt? Mit Datierungen zu arbeiten, bedeutet hingegen, an die Stelle der Ewigkeit die Zeitlichkeit zu setzen. Sind Dinge erst einmal mit einem Datum versehen, beginnt auch schon ihre historische Uhr zu ticken. Dann kann etwas brandneu, aktuell, veraltet, historisch oder altehrwürdig sein – und zwar einfach weil, gemessen am Datum, die Zeit vergeht. [2]

Die Zeit des Ereignisses

Zeit und Bedeutung werden damit entkoppelt – um sie im Anschluss auf neue Art wieder zusammenzuführen. In Kulturen mit nur rudimentären Datierungstechniken richtet sich die Zeit stärker nach den Ereignissen. Es ist  eher von Bedeutung, was passiert ist (der kirchliche Feiertag, die Krönungszeremonie, das Naturereignis), als genau angeben zu können, wann es passiert ist. Inzwischen hat sich dieses Verhältnis längst umgekehrt, denn nun werden die Ereignisse in die Logik des Kalenders eingepasst. Deswegen können für uns auch Daten zu Bedeutungsträgern werden, ohne dass man explizieren muss, welches Ereignis sich damit verbindet: der 9. November, das Jahr 1968 oder 9/11. [3]

Das Wort ‚Datum‘ suggeriert mit seinen lateinischen Wortwurzeln, es sei etwas Gegebenes. Und in der Tat sind diese sehr abstrakten Zahlenkombinationen, mit denen sich Tage, Monate und Jahre bezeichnen lassen, an sich bedeutungsleer. Ihnen lassen sich aber, gerade aufgrund ihrer ursprünglichen Inhaltsleere, sowohl auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene verschiedene Bedeutungen zuschreiben, so dass man beispielsweise das Datum des 30. Januar 1933 nicht mehr unbefangen verwenden kann. Aus dem (gegebenen) Datum wird ein (gemachtes) Faktum.

Möglicherweise verbindet sich mit der Dauerdatierung nicht nur, aber auch im Internet der Wunsch und Wille, die Geschichte bereits vorproduzieren, die irgendwann über uns geschrieben wird. Dass es sich dabei allerdings um eine Illusion handelt, ist nicht die einzige Lehre, welche die Beschäftigung mit der Geschichte für uns parat hält.

[1] Jean-Claude Schmitt: L’invention de l’anniversaire. Paris 2010

[2] Lothar Müller: „Hier kam ich am 30. September 1659 an Land.“ Nachrichten aus der Einsamkeit: Über Robinson Crusoe und den Jahrestag seiner Ankunft auf der Insel, der zugleich sein Geburtstag war. In: Süddeutsche Zeitung 30.09.2009, 14

[3] Thomas Macho: Der 9. November. Kalender als Chiffren der Macht. In: Merkur 54 (2000) 231-242


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11. Gabriel und die Theorie- resistenz der Wirklichkeit

back-dir-deine-welt-ausstechformen-berlin_0Schon seit Wochen begeistert sich das Feuilleton für die Frage, warum es die Welt nicht gibt. Autor des gleichnamigen Buchs ist Markus Gabriel, bei dessen Vorstellung immer wieder drauf hingewiesen wird, wie jung, polyglott und international renommiert er ist. Und jetzt auch noch ein Buch, bei dem sich alle freuen, dass es keine Richard-David-Precht-Philosophiepampe ist, sondern ernsthaftes Nachdenken, das trotzdem nachvollziehbar bleibt und es sogar in die Spiegel-Bestseller-Liste schafft.

Wie sieht es da aus, wenn ein bereits mittelalter, nicht ganz so vielsprachiger und weniger ins Ausland eingeladener Mensch, der es wohl nie auf irgendeine Bestseller-Liste schaffen wird, an diesem Buch rumzumäkeln versucht? Nicht gut. Da kann man nur verlieren. Aber wie mir einer meiner Sportlehrer durchaus mal hätte sagen dürfen (es aber bedauerlicherweise niemals getan hat): Besser verlieren als gar nicht mitspielen. (Stattdessen gab es faschistoide Sportlehrersprüche wie: „Was nicht tötet, härtet ab.“ Nun ja …).

Ich baue einfach darauf, dass dieser Beitrag zum Ausklang der Sommerferien erscheint, wenn noch alles am Strand liegt und niemand Blogs liest. Nichts weiter als ein kurzes Knacken im Netzrauschen.

Der Zusammenhang aller Zusammenhänge

Da das hier keine Rezension wird, muss ich Gottseidank auch keinen systematischen Gang durch die Argumentation des Buchs unternehmen. Da gibt es viel Kluges und Erfreuliches, nicht zuletzt die Tatsache, dass es offensichtlich für eine gehörige Portion Menschen einen Anlass darstellt, sich mal wieder (oder überhaupt erstmals) auf erkenntnistheoretische Fragen einzulassen. Aber es gibt auch Ärgerliches, und das betrifft nicht zuletzt die grundlegenden Thesen dieses Buchs.

Ich lasse an dieser Stelle einmal den Umstand beiseite, dass Postmoderne und Konstruktivismus von Gabriel als ziemlich inhaltsleere Pappkameraden aufgebaut werden („Alles Illusion!“ – so soll der Konstruktivismus angeblich behaupten), um sie mit einem lässigen Fingerschnipsen von der Bühne zu befördern; oder dass es in der Argumentation auch einige interne Widersprüche gibt; oder dass es elend schlecht ist, den großen Richard Rorty als „elend schlechten Philosophen“ zu bezeichnen. Nein, gehen wir gleich aufs große Ganze, weil sich hier unter Umständen ja auch erweisen kann, welche Bedeutung diese Überlegungen für die Geschichte haben kann – und umgekehrt.

Die zentrale These steckt bereits im Titel: Die Welt als das alles Umfassende, als den Zusammenhang aller Zusammenhänge gibt es nicht. Was es stattdessen gibt, ist eine Vielzahl kleiner Welten, die nebeneinander existieren, sind so genannte „Sinnfelder“, in denen uns diese Welten erscheinen und mit denen wir umgehen. Insgesamt hört dieser Ansatz auf den Namen „Neuer Realismus“. Genau genommen wartet dieser „Neue Realismus“ weniger mit einer These, sondern vor allem mit einer Behauptung auf – dass es „die Welt“ nämlich nicht gibt (alles andere aber schon). Warum es „die Welt“ nicht geben soll, wird weder begründet noch argumentativ hergeleitet, sondern schlicht konstatiert. Punkt. Nur: Wenn es die Welt nicht gibt, wie kann Gabriel dann darüber reden, dass es sie nicht gibt?

Unverständliches Weltverbot

Bereits hier – und wir sind eigentlich erst am Anfang des Buchs – wird es meines Erachtens seltsam. Erstens verstehe ich nicht, warum es die Welt nicht geben darf. Es mag ja durchaus sein, dass ein solcher Zugang hilfreich sein könnte, aber dann hätte ich dafür bitte auch eine anständige Begründung. Sich den allumfassenden Zusammenhang aller Zusammenhänge vorzustellen, erfordert fraglos einiges Abstraktionsvermögen – das gilt aber ebenso für die von Gabriel angeführten Sinnfelder, sagen wir einmal: Wirtschaft oder Gesellschaft oder Politik. Die sind zwar nicht „die Welt“, sind deswegen aber keineswegs besser zu handhaben. Zweitens ist es seltsam, warum es in Gabriels Argumentationszusammenhang etwas nicht geben soll, wovon er selbst so viel Worte macht. Er redet die ganze Zeit von der Welt, die es nicht gibt – wie aber soll das möglich sein, wenn es sie nicht gibt? Alles soll es geben, selbst Einhörner auf der Rückseite des Mondes, nur die arme Welt darf es nicht mehr geben. Was aber, wenn das der Welt ziemlich egal wäre? Er bemüht sich so intensiv darum, etwas zu zertrümmern, worüber wir uns offensichtlich verständigen können (ansonsten könnten wir nicht darüber reden), dass man sich irgendwann zwangsläufig fragen muss, wozu der ganze Aufwand eigentlich gut sein soll. Da kommt eine schnittige Behauptung daher, die zunächst vielleicht viel Staub aufwirbeln mag, die schlussendlich aber wenig mehr als warme Luft ist – und mehr braucht man ja auch nicht zum Staubaufwirbeln.

Zeitmangel, Menschmangel

Auffallender Weise fehlen dieser Welt, die es nicht geben darf, zwei Dinge, die ich für nicht ganz unwichtig halte: Menschen und Zeit. Denn, wie Gabriel auch selbst öfter unterstreicht, die Tatsachen der Welt sind gegeben, sind Tatsachen an sich (S. 59),  da muss man nicht groß rumdiskutieren, ansonsten wären wir ja auch schon in der Nähe des Konstruktivismus, den er zu scheuen scheint wie der Teufel das Weihwasser. Auch ist die Welt (von der Gabriel selbst immer wieder spricht, obwohl es sie nicht geben darf, z.B. S. 62) in verschiedene Bereiche eingeteilt, in Gegenstandsbereiche oder Sinnfelder. Aber offensichtlich scheint niemand diese Kategorisierung vorgenommen zu haben, sie ist schlicht gegeben – auch wenn man sich damit in gefährliche Nähe eines biblischen Schöpfungsaktes begibt. Nur wird dadurch die Welt, die es nicht geben darf (und von der man dann auch gar nicht mehr weiß, wie man sie bezeichnen soll), seltsam steril. Da ist niemand, der irgendetwas tut, und da ist auch gar nichts, was sich verändern könnte. Das merkt man an den wenigen historischen Ausflügen, die Gabriel unternimmt. So behauptet er beispielsweise, dass es sich bei frühneuzeitlichen Hexendiskursen um „Geschwätz“ handele, weil es keine „Gegenstandsbereiche“, sondern nur „Redebereiche“ seien. Dementsprechend enthielten historische Texte über Hexen auch kein Wissen, weil es Hexen ja nicht gebe (S. 53). In der Logik einer Welt, die auf radikale Eindeutigkeit aus ist, mag das funktionieren. Man frage aber einmal die Menschen, die als Hexen verbrannt worden sind, von Hexen verzaubert wurden oder Hexen verurteilt haben, ob sie ebenso davon überzeugt waren, dass es sich nur um „Geschwätz“ handelte.

Gabriel steht, wie an vielen Stellen deutlich wird, in der Tradition der analytischen Philosophie, und vertritt in deren Gefolge offensichtlich die Vorstellung, dass es eine (und zwar nur eine) mögliche Weltdeutung geben müsse, die man mit den entsprechenden (wissenschaftlichen) Methoden ausfindig machen kann. Das bedeutet aber, dass in dieser Welt nicht nur keine Menschen mit all ihren Eigensinnigkeiten vorkommen, sondern dass diese Welt auch keine Geschichte haben darf (oder dass diese Geschichte zumindest bald an ein Ende kommen muss), um den Veränderungen der Weltdeutung (oh, Entschuldigung, schon wieder von „Welt“ gesprochen) eine Ende zu setzen. Hier scheint eine seltsame Verkehrung vonstatten zu gehen: Die Wissenschaft ist nicht mehr dazu da, um Wirklichkeit besser verstehen zu können, sondern die Wirklichkeit hat sich gefälligst nach den Vorgaben der Wissenschaft zu richten.

Theorieunfähigkeit

Ich habe demgegenüber den schweren Verdacht, dass die Welt (oder die Wirklichkeit oder die Realität oder wie man dieses Ding auch immer bezeichnen will, selbst wenn man es nicht mehr bezeichnen darf) nicht theoriefähig ist. Zumindest nicht mit unseren bescheidenen Mitteln. Die Welt (jawohl, genau die) ist zu komplex, um in ein paar abstrakte Sätze gepackt zu werden, die sich auf einer übersichtlichen Anzahl von Seiten zwischen zwei Buchdeckel klemmen lassen. Gut, dieses Argument ließe sich leicht gegen mich selbst wenden, weil es nur belegt, dass meine eigenen bescheidenen Kompetenzen einfach nicht ausreichen, um eine solche Theorie zu erkennen, geschweige denn selbst zu formulieren (was ich sofort eingestehe).

Aber ich hätte noch zwei kleine empirische Befunde, die nach meinem Dafürhalten die Theorieresistenz der Wirklichkeit unterstreichen können. Erstens ist es bisher noch keinem theoretischen Entwurf gelungen, eine hinreichend zufriedenstellende Fassung der Welt zu präsentieren, denn ansonsten müssten wir ja nicht immer wieder neue Anläufe dazu nehmen. Und dass diese Letztbeschreibung noch nicht gelungen ist, ist auch gut so, denn ansonsten wären Herr Gabriel und ich und eine Unmenge anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeitslos. Stattdessen lässt man uns weiter fahnden nach der Welt, die es gibt oder auch nicht.

Die einzige Art, die ich mir vorstellen kann, um Welt und Wirklichkeit in einem immer unzureichenden Sinn fassbar zu machen, ist die erzählende. Ein Grund, warum ich mit meiner Berufswahl als Historiker immer noch ganz zufrieden bin.

[Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013]


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10. Philipp II. und die Welt als Tisch

Tisch

Im Windschatten allgemeiner Aufmerksamkeit

Jeden Tag benutzen wir sie: Tische in unterschiedlichsten Formen, als Esstisch, als Schreibtisch, als Konferenztisch, als Kaffeetisch, als Nachttisch, als Wickeltisch, als Stammtisch und manchmal sogar als Katzentisch. Und das ist eine recht unvollständige Auflistung. Es bedarf nicht vieler Argumente, um die menschliche Abhängigkeit vom Tisch sowohl im Allgemeinen wie im Besonderen zu belegen. Wir verbringen jeden Tag so viele Stunden an diesem unscheinbaren Möbel, dass es zu Lasten unserer Gesundheit geht und sich ganze Dienstleistungszweige ausgebildet haben, die sich den Auswirkungen einer „vertischten“ Gesellschaft widmen.

Bei allen gesundheitlichen Spätfolgen, die das Leben am Tisch mit sich bringt, gilt es hinreichend zu würdigen, dass der Tisch für die Gattung Mensch eine ungemein nützliche Erfindung ist. Sein spezifischer Knochenbau mit diversen Scharniergelenken (Knie, Hüfte, Ellenbogen) prädestiniert den Menschen zu einer sitzenden Haltung. Und da der Mensch nun einmal dazu tendiert, die Welt so einzurichten, wie es seinen physischen Voraussetzungen entspricht, zieht er in dieser sitzenden Position gleich noch einen Tisch heran, um dort sein Essen abzustellen, Papier zu stapeln oder die Ellenbogen aufzustützen. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass die Erfindung des Tisches kaum weniger bedeutsam ist als die Erfindung des Feuers oder des Rades.

Dass der Tisch aber üblicherweise nicht in eine Reihe mit diesen grundlegenden Erfindungen der Kulturgeschichte gestellt wird, könnte ein Beleg für die klugen Schachzüge (Schach – ein Tischspiel!) dieses Möbels sein, seine weltfundierenden Funktionen geschickt zu verbergen, um im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit umso effektiver zu agieren. Denn in seiner vermeintlichen Schlichtheit und stillen Zurückhaltung versteht es der Tisch, den Umstand zu verdecken, dass er weit mehr ist als ein Gebrauchsgegenstand. Im Tisch steckt nichts weniger als ein umfassendes Ordnungsmodell, ein Entwurf unserer Welt. Der Tisch repräsentiert nicht einfach nur eine bestimmte Sicht auf unsere Welt, sondern er macht uns diese Welt überhaupt erst verfügbar. Und man könnte sogar die etwas irritierende Frage stellen, ob wir uns wirklich des Tisches bedienen, um die Welt zu bewältigen, oder ob es nicht vielmehr der Tisch ist, der uns seine Version der Welt vorführt, sie uns geradezu „auftischt“.

Ein entmythisierter Atlas

Unter unseren Händen, Tellern, Papierstapeln und Computerbildschirmen ächzt also nicht einfach nur ein bewährtes Stück Materialität, das unserer Zivilisation schon viele Dienste erwiesen hat. Vielmehr stützen wir uns auf eine der zentralen Möglichkeiten, wie wir uns der Welt überhaupt noch versichern können. Der Tisch ist unser entmythisierter Atlas, der für zwar nicht mehr das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern, aber all unsere Weltentwürfe auf seiner Platte trägt.

Wie aber konnte das geschehen? Wie kam die Welt auf den Tisch und wie wurde der Tisch zur Welt? Es hängt wohl nicht zuletzt mit dem wachsenden Radius menschlicher Aktivität zusammen. Der Expansionsdrang des Menschen, der auf mehr Macht, mehr Geld, mehr Wissen und überhaupt mehr von allem abzielt, neigt dazu, den unmittelbar zugänglichen Ausschnitt der Welt als nicht mehr ausreichend anzusehen. Dem Willen nach Mehr wird der eigene Vorgarten irgendwann zu eng. Dieses Mehr an Welt wird jedoch mit einem paradoxen Effekt erkauft – nämlich einem gleichzeitigen Weniger an Welt. Je weiter wir ausgreifen, um mehr von dieser Welt zu wissen, mehr von ihr zu besitzen und mehr von ihr zu beherrschen, desto weniger können wir diese Welt in unmittelbarer Weise erfahren. Wir müssen uns technischer Hilfsmittel bedienen, um mit ihr überhaupt noch umgehen zu können – und an genau dieser Stelle kommt der Tisch ins Spiel.

Man sollte sich davor hüten, hier eine historisch konsequente und von Anfang an zielgerichtete Geschichte zu erzählen, die unweigerlich auf mehr Tisch und weniger Welt hinausläuft. Aber man kann einige Stationen in der globalen Tischgeschichte herauspicken, anhand derer sich der Erfolg dieses Möbels nachvollziehen lässt. Auffallender Weise wurde der Tisch immer dann zum Inbegriff von Welt, wenn der Mensch sich von eben dieser Welt abwandte. In der Politik übernahm er seine tragende Rolle beispielsweise in dem Moment, als Herrscher keine Schlachten mehr schlugen, sondern nur noch von anderen schlagen ließen, um stattdessen Figürchen oder Fähnchen auf einem mit einer Karte bedeckten Tisch hin- und herzuschieben; oder als diese Herrschenden sich nicht mehr in die Welt hinein bewegen wollten, ihren Herrschaftsbereich nicht mehr selbst bereisten, wie es die mittelalterlichen Fürsten und Könige noch getan hatten, sondern sich in ihre allmählich gemütlicher werdenden Schlösser zurückzogen, um anschließend nur noch mittels Akten zu regieren, die man – ja, genau – auf den Tisch legen konnte: „My desk is my castle“.[1]

Schreibtischtäter

Unabhängig davon, ob es sich um die Welt der Politik oder der Wirtschaft oder eines anderen Lebensbereichs handelt, es sind immer Tische, auf denen sämtliche Informationen zusammenlaufen. Hier befindet sich der Nabel der (jeweils eigenen) Welt, hier kommt alles an und von hier geht alles weg. Auch unsere Bilderwelt ist angefüllt von Tischen als Inbegriffen der Macht. Es sind Konferenzräume oder Büros, in deren Mitte ganz selbstverständlich immer ein Tisch steht. Und will man Regierende bei der Tätigkeit des Regierens zeigen, dann lässt man sie an diesen Tischen sitzen. Die Fernsehnachrichtenbilder der Zusammenkünfte von Regierungsmannschaften sprechen eine deutliche Sprache, denn es ist der Kabinettstisch, von dem aus die Geschicke des Landes, wenn nicht der ganzen Welt entschieden werden. Je bedeutsamer der Tisch (und die Tischbenutzer), desto weitreichender die Auswirkungen, die von ihm ausgehen.[2]

Vor diesem Hintergrund macht der Ausdruck des „Schreibtischtäters“ auch überhaupt erst Sinn. Denn als Figur wie als Begriff bringt er genau dieses Tisch-Paradox zum Ausdruck, wonach der Tisch ein Mehr an Welt gewährleistet, indem er immer weniger Welt unmittelbar an den Tischbenutzer heranlässt. Man kann am Tisch Entscheidungen und Handlungen von ungeheurer Tragweite treffen, riesige Mengen Geldes bewegen, über das Leben von Millionen entscheiden, Länder zu ungeheurer Macht oder zum vernichtenden Untergang führen – ohne sich auch nur einmal von diesem Möbel entfernt zu haben. Aber man sollte nicht vorschnell davon ausgehen, dass der Schreibtisch diese Funktion erst im Zeitalter moderner Bürokratie und Telekommunikation erlangt hat.

Es gibt berühmte Beispiele von Herrschern, die ihren Tisch zum Zentrum der Welt machten und die Welt auf ihren Tisch konzentrierten. Einer der bekanntesten ist Philipp II. von Spanien (1527-1598), der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts tatsächlich über ein Imperium herrschte, das sich auch für den reiselustigsten Regierenden in dieser Zeit nicht mehr unmittelbar erfahren ließ; und was den direkten Kontakt mit der Welt anging, war Philipp II. ohnehin nicht der Engagierteste. Lieber schloss er sich in seinem als Kloster angelegten Herrschaftssitz Escorial ein und erwartete, dass die Welt zu ihm kam, auf seinen Schreibtisch. Das gesamte koloniale Riesenreich Spaniens, von Amerika über die Besitzungen in Italien bis nach Asien, wurde vor allem über das Studium von Akten kontrolliert. Nicht nur das, auch in seinem unmittelbaren Lebensbereich am Hof korrespondierte Philipp am liebsten über Notizen und Zettel, die er an seinem Schreibtisch verfasste. Das Leben als Schreibtischmonarch kam seinem Charakter entgegen, denn er galt als verschlossen und kontaktscheu, eigentlich unnahbar. Die Existenz am Schreibtisch erlaubte ihm, immer mehr von der Welt auszuschließen, um gleichzeitig immer mehr mit diesem Möbel zu verschmelzen. Er verzichtete ab 1559 nicht nur auf Reisen außerhalb Spaniens, sondern verließ auch sein Zimmer im Escorial in späteren Jahren nur noch für den Gottesdienst. Man mag es daher kaum als Zufall ansehen, dass ihn auch die typischen Gebrechen eines Schreibtischmenschen ereilten: Er soll der erste Monarch gewesen sein, der eine Brille benutzte, und gegen Ende seines Lebens war er an den Rollstuhl gefesselt, verbrachte seine Zeit also in einer Körperhaltung, die – so zynisch das auch klingen mag – wie angegossen zum Schreibtisch passt.[3]

Der Tisch ist eine Scheibe

Seit Philipp II. ist die neuzeitliche Geschichte gepflastert mit Menschen (nicht selten männlichen Geschlechts), die die Macht des Schreibtischs zu nutzen wussten. In der allgemeinen Diskussion hat sich dabei die Auffassung etabliert, es gäbe eine fundamentale Trennung zwischen dem Schreibtischleben und dem wahren Leben „dort draußen“, in der harten, kalten Realität. Aber diese Vorstellung ist mit einem Fragezeichen zu versehen. Denn Welt und Tisch auf diese Weise in Opposition zueinander zu setzen, führt in die falsche Richtung. Vielmehr muss man festhalten, dass der Tisch eine Fortsetzung der Welt mit anderen Mitteln ist: Die Welt wird „tischbar“.

Und dass sich die Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts die Welt immer noch auftischt, muss nicht großartig bewiesen werden. Die jüngsten medialen und technischen Entwicklungen können und wollen sich nicht von der Tischförmigkeit des Weltzugriffs lösen. Die Benutzeroberfläche des Computers nennt sich „Desktop“, und der Tablet-Computer kommt als „Tischchen“ mit dem Versprechen daher, uns die Welt umfassend zur Verfügung zu stellen. Erheben wir uns also nicht arrogant über frühere Zeiten und andere Kulturen. Die Erde war noch nie eine Scheibe, aber die Welt ist immer noch ein Tisch. Wir sind da kaum weiter gekommen. Oder haben Sie schon einmal einen Tisch in Kugelform gesehen?

[1] Uta Brandes/Michael Erlhoff (Hg.): My Desk is my Castle. Exploring Personalization Cultures, Basel 2011.

[2] Jacqueline Hassink: The Table of Power. Amsterdam 2000; Jacqueline Hassink: The Table of Power 2. Ostfildern 2011.

[3] Arndt Brendecke: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln/Weimar/Wien 2009.


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09. Brockhaus und die Fragilität des Wissens

Brockhaus_Lexikon_17_Bande_WK_01Aufräumarbeiten in der Vergangenheit

Wieder einmal klappt er zu, der Sargdeckel des Veralteten. Ein historisches Kapitel wird beschlossen, ein lange Zeit vertrautes Element verabschiedet sich aus der Wirklichkeit, ein bislang selbstverständliches Phänomen verlässt das Hier und Jetzt – und lenkt damit unseren Blick auf eben diese Wirklichkeit, in der wir leben.  Den Brockhaus wird es in Zukunft nicht mehr geben. Nach mehr als 200 Jahren wird dieser einst als unverzichtbar geltende Hort des Wissens, der in keinem sich selbst als bildungsbürgerlich verstehenden Haushalt fehlen durfte, der Entropie der Geschichte zum Opfer fallen. Oder muss man genau genommen nicht davon sprechen, dass es ihn schon länger nicht mehr gibt? Denn die wirtschaftlichen Probleme und zurückgehenden Absatzzahlen, in denen die sinkende Bedeutung dieses Nachschlagewerks ihren unerbittlichen Ausdruck findet, sind ja nicht über Nacht aufgetaucht. Schon länger schwächelt der Brockhaus, weshalb die nun getroffene Ankündigung wie die Hinnahme einer schon länger bestehenden Tatsache anmutet. Die Entwicklungen der jüngeren Zeit – 2012 wurde bereits bekannt gegeben, dass die altehrwürdige „Enyclopaedia Britannica“ nur noch digital erscheint – sind wohl eher Aufräumarbeiten in den Halden einer abgeschlossenen Vergangenheit. Die Reaktionen auf das Brockhaus-Ende sind daher auch weniger durch ein kulturpessimistisches „Was soll jetzt werden?“ als vielmehr durch ein erleichtertes „Wurde aber auch Zeit“ geprägt.

Mit was für einer Veränderung haben wie es hier zu tun? Handelt es sich um eine Verschiebung lexikalischen Wissens vom Bücherregal auf den Bildschirm? Oder wird hier das gewinnorientierte Verlagsunternehmen durch die kollaborative Schwarmintelligenz abgelöst? Oder überholt die Hochgeschwindigkeit des Virtuellen die Trägheit des Gedruckten? Ohne Frage sind all das Faktoren, die sich am Beispiel des Endes klassischer Enzyklopädien beobachten lassen. Schließlich ist es nur zu offensichtlich, dass in der derzeitig vorherrschenden Lexikalisierung von Wissen eine Transformation stattgefunden hat (und weiterhin stattfindet), dass teure und verhältnismäßig schwerfällige Buchprodukte nicht mehr mit kostenlosen und flexiblen Internetangeboten konkurrieren können und dass die Ansprüche an Verfügbarkeit und Aktualisierbarkeit des Wissens einer unübersehbaren Beschleunigung unterliegen.

Beständige Anpassung

Aber ist das aktuelle Ereignis des Brockhaus-Endes tatsächlich ein Indiz für den Abschluss einer historischen Entwicklung? Wir haben es mit dem Ende eines Wirtschaftsunternehmens zu tun, aber nicht – in einem tragischen Sinn – mit dem Ende eines Kapitels der Kulturgeschichte oder – in einem emphatischen Sinn – mit einem Beleg für eine Revolution des Wissens. Wir sind vielmehr Zeugen einer erneuten Transformation der Wissensorganisation, von der einst auch Brockhaus profitierte. Denn das seit 1808 erscheinende Konversationslexikon war wahrlich nicht das erste seiner Art. Schon ein Jahrhundert zuvor hatte sich das nur als „Hübner“ bekannte „Reale Staats- Zeitungs- und Conversationslexicon“ etabliert. Es war um 1700 aus der Notwenigkeit heraus entstanden, die im noch relativ jungen Medium der Zeitung behandelte Welt der Gegenwart zu thematisieren. Wissen sollte sich also nicht mehr nur auf klassische und gewissermaßen ewig gültige Inhalte beziehen, sondern hatte nun auch das Hier und Jetzt zu behandeln. Denn die Welt, wie sie der Leserschaft in der periodisch erscheinenden Zeitung vor Augen trat, war durchzogen von Phänomenen, Personen, Ereignissen, Institutionen und Begriffen, die nicht ohne weiteres verständlich waren. Die Gattung des Zeitungs- und Konversationslexikons sollte hier Abhilfe schaffen.

Schon dieses neue Informationsmedium lebte von der Beschleunigung des Wissens, denn Voraussetzung seines Erfolgs war, dass es sich an die permanent verändernde Gegenwart anpasste und in beständig verbesserten Auflagen erschien. Andere Enzyklopädien, die seit dem 16. Jahrhundert (und auch noch parallel zu den neuen Konversationslexika im 18. Jahrhundert) erschienen, waren Einmalprodukte. Sie traten mit dem hypertrophen Anspruch auf, das Wissen der Welt in einer letztlich vollständigen und vor allem dauerhaft gültigen Form zu versammeln. Aber selbst bei diesen einmalig erscheinenden Enzyklopädien lassen sich Phänomene nicht übersehen, die einer Dynamisierung des Wissens dienen sollten. Denn hatten ältere Exemplare noch auf ein topisches und systematisches Wissensverständnis gesetzt, indem sie ihre Inhalte in Themenbereichen anordneten, sprengten spätere Veröffentlichungen diese Einheit auf. Sie gingen zu einer alphabetischen Organisation des Wissenskosmos über, wodurch keinerlei inhaltlicher Zusammenhang mehr sichtbar wurde. Die Einheit des Wissens wurde geradezu zerfetzt, indem man sie der zufälligen Zuordnung der Buchstabenfolge überließ. Dadurch konnten solche Lexika aber zugleich als schnellere Nachschlagewerke genutzt werden, die überhaupt nicht mehr die Intention hatten, zur Gänze gelesen zu werden.

Die Beständigkeit des Unbeständigen

Vor diesem Hintergrund ist das Ende des Brockhaus überhaupt kein Ende. Der Wandel des Mediums und die zunehmende Dynamisierung des Wissens sind nur konsequente Fortsetzungen von Prozessen, die schon seit Längerem zugange sind. Aufschlussreicher ist daher möglicherweise die Frage nach der Kultur, die Wissen für sich in einer bestimmten lexikalischen Form organisiert. Wenn das Wikipedia-Prinzip inzwischen das Brockhaus-Prinzip abgelöst hat, dann überwindet hier nicht nur das schnellere Internet das langsamere Buch. Dann wird vor allem eine Unbeständigkeit und Unsicherheit des Wissens etabliert, die wesentlich bedeutsamer zu sein scheint. Der gedruckte Brockhaus arbeitete mit einer Verbindung von Zeit und Wissen, die wenn schon nicht auf Ewigkeit, dann zumindest auf Dauerhaftigkeit setzte. Wissen war stabil – oder hatte zumindest stabil zu erscheinen. Demgegenüber funktioniert Wikipedia nicht nur auf der Basis des Prinzips, dass Wissen immer aktualisiert werden muss, sondern dass es sich von den Grundlagen bis in die kleinsten Verästelungen hinein beständig verändern können muss. Die Fragilität des Wissens tritt an die Stelle der Stabilität. Und wenn man sich der Beständigkeit des Wissens über die Welt unsicher geworden ist, dann macht seine Materialisierung in Papierform auch keinen Sinn mehr. Wenn das Ende des Brockhaus also etwas über unsere Wirklichkeit verrät, dann über den fragilen Status des Wissens.


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/06/17/09-brockhaus-und-die-fragilitat-des-wissens/

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08. Michon und die Faktizität des Fiktionalen

BilderrahmenGemalte Ambivalenz

Eine Begebenheit aus der Französischen Revolution: Die Herrschaft des Wohlfahrtsausschuss unter Robespierre hat seinen Höhepunkt erreicht, der Terreur wütet und die Guillotinen verrichten ihre Arbeit. Im Winter 1793 wird der Maler François-Elie Corentin beauftragt, ein Gemälde der elf Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses anzufertigen. Selbstredend ist es das Ziel dieses Gruppenportraits, das schließlich die riesigen Ausmaße von vier mal drei Metern annehmen sollte, Geschichte zu machen, soll heißen: die Sicht der Nachwelt auf das Wirken des Wohlfahrtsausschusses zu bestimmen. Die Geschichte dieses Gemäldes wird in dem jüngst ins Deutsche übersetzten Buch von Pierre Michon mit dem schlichten Titel „Die Elf“ erzählt. Die andauernde Faszination von Corentins Gemälde resultiert aus der Ambivalenz möglicher Deutungen. Man kann darin sowohl einen Robespierre als Halbgott der Revolution als auch einen Robespierre als machthungrigen Tyrannen entdecken.

In seiner Schilderung stellt Pierre Michon den Maler Corentin, der im französischen Limousin aufwuchs und beim Historienmaler Jacques-Louis David ausgebildet wurde, in eine Reihe mit keinen Geringeren als Giotto, Leonardo, Rembrandt, Goya oder van Gogh. Auch der französische Historiker Jules Michelet hat in seiner immer noch bedeutsamen „Geschichte der Französischen Revolution“, die in sieben Bänden zwischen 1847 und 1853 erschien, diesem riesigen Gemälde ein eigenes Kapitel gewidmet. Sie sollten sich also bei ihrem nächsten Besuch des Pariser Louvre Michons Buch unter den Arm klemmen, seiner Wegbeschreibung folgen (er gibt genau an, wo das Bild – geschützt von dickem Panzerglas – hängt) und sich diese gemalte Form der Geschichtsproduktion näher ansehen.

Die Wirklichkeit des Erfundenen

Seien Sie aber nicht zu enttäuscht, wenn Sie nichts finden. Denn das Gemälde gibt es nicht. In seinem meisterlichen Stück Prosa, das eine Mischung aus Essay, Künstlerportrait und literarischer Augenwischerei ist, hat Michon eine Gestalt mit einer erfundenen Biographie und den Louvre mit einem nie gemalten Bild ausgestattet. Zugegeben, er will uns hier kein Schelmenstück vorführen, weshalb recht schnell klar wird, dass wir Leser einer Erfindung sind. Michon hat also nicht den Weg Wolfgang Hildesheimers eingeschlagen, der seinen „Marbot“ im Stil einer klassischen Biographie mit so viel Plausibilität belegte, dass man unweigerlich zum Lexikon greifen möchte, um sicherzugehen, dass Marbot tatsächlich nie lebte.

Aber selbst wenn wir durchschauen, dass es sich um Fiktion handelt, dass der Maler Corentin niemals existierte und das Gemälde „Die Elf“ auch nach intensiver Suche im Louvre nicht aufzufinden ist – sollte uns das tatsächlich die historischen Schultern zucken lassen und Gemälde samt Maler der völligen Bedeutungslosigkeit überantworten? Wenn Corentin und „Die Elf“ nie Wirklichkeit waren, haben sie dann auch mit unserer (historischen) Wirklichkeit nichts zu tun?

Man kann die Beantwortung dieser Frage vom jeweiligen kulturhistorischen Status fiktionaler Texte oder vom Wirklichkeitsverständnis abhängig machen, mit dem man zu hantieren bereit ist. Die naheliegende Unterscheidung nähme eine klare Trennung zwischen Faktizität und Fiktionalität vor. Die erfundenen Geschichten mögen als nette Unterhaltung dienen, mögen sogar erkenntnisfördernd sein und uns die Augen öffnen für die Zustände der Wirklichkeit – aber sie sind keine Wirklichkeit! Menschen, Objekten und Ereignissen, die allein in der Form von Druckerschwärze und Papier, Celluloid oder Pixeln existieren, darüber hinaus aber keine außermediale Existenz besitzen, streiten wir üblicherweise den Wirklichkeitsstatus ab. Problematisch an einer solchen Auffassung ist nur, dass wir zumindest die Bücher, Filme oder Bilder, die diese Fiktionen enthalten, als Teil unserer Wirklichkeit anerkennen müssen. Wenn sie aber schon einmal da sind, könnte es dann nicht sein, dass sie mitsamt ihren Geschichten auch Wirksamkeiten entfalten, also in unsere Wirklichkeit hineinwirken?

Absolute Wahrheit

Fiktionen zeichnen sich ja nicht zuletzt dadurch aus, dass sie innerhalb ihres eigenen Referenzrahmens in einer Art und Weise auf Wirklichkeit und Wahrheit pochen können, wie dies in der Welt außerhalb des fiktionalen Rahmens niemals möglich wäre. In der Welt der erfundenen Geschichten haben alternative Wirklichkeitsentwürfe nur insofern Platz, als sie durch die Schöpfer der Fiktion zugelassen werden. Die Wahrheit der Fiktion ist absolut. Ein solcher Grad an Wirklichkeitsverdichtung lässt sich nicht einmal in der totalitärsten aller Diktaturen erreichen.

Interessant wird es dann, wenn die unterschiedlichen Sphären der Wirklichkeit, die faktischen und die fiktionalen, miteinander in Kontakt treten und sich überschneiden. Denn die Fiktionen sind beständig dabei, unsere Wirklichkeit zu verändern und zu infizieren: Nicht nur kommt die nicht-fiktionale Welt in der fiktionalen vor, ebenso werden fiktionale Deutungsangebote in unsere außerfiktionalen Lebens- und Weltentwürfe importiert.

Dann ist es nicht mehr so einfach, zwischen Erfindung und Realität zu unterscheiden. Aber das ist wohl weniger ein Problem der mangelnden Trennschärfe, vielmehr ein Problem unseres unzureichenden und eingeschränkten Wirklichkeitsverständnisses. Es gehört zum Standardrepertoire von Romanen, dem Leser zu versichern, es handele sich um wahrheitsgemäße Darstellungen, die vom Autor nur in seiner Funktion als Herausgeber veröffentlicht würden. (Auch Michon bemüht die beständige Ansprache an den Leser als Realitätsevokation, so als befände man sich bei einer Museumsführung.) Die Fiktion imitiert und desavouiert die Wirklichkeit in ihrem Realitätsverständnis – gleichzeitig gelingt es der außerfiktionalen Realität aber nicht in der gleichen Weise, ihre fiktionalen Gehalte ernst zu nehmen.

Muss es aber nicht so erscheinen, als seien Figuren wie Don Quijote, Robinson Crusoe, Faust oder Dracula selbstverständliche Bestandteile unseres Lebens? Zumindest muss man sie als Elemente unserer historischen Wirklichkeit akzeptieren, weil sich einerseits in ihnen vergangene Realität verdichtet und weil sie andererseits auf diese Wirklichkeiten unübersehbaren Einfluss ausgeübt haben. Dabei handelt es sich bei diesen und vielen weitere Figuren um Beispiele, die ihre Fiktionalitätsmarkierung noch eindeutig mit sich herumtragen. Etwas mulmiger wird die Angelegenheit schon, wenn man erfährt, dass das US-Verteidigungsministerium kurz nach dem 11. September 2001 Renny Harlin engagierte, um Untergangsszenarien für mögliche weitere Anschläge zu entwerfen. Harlin war aber nicht Mitglied eines politikstrategischen think-tanks, sondern Drehbuchautor und Regisseur von „Die Hard 2“. [1]

Aber haben wir auch nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie viele Erfindungen wir als selbstverständliche historische Wahrheit mit uns herumschleppen? Eine Märchengeschichte, die beispielsweise bis zum heutigen Tag in historischen Darstellungen und Schulbüchern wiederholt wird, handelt von der mittelalterlichen Überzeugung, bei der Erde handele es sich um eine Scheibe anstatt um eine Kugel. Dass diese „Geschichte“ eine Mittelalter-Fiktion des 19. Jahrhunderts ist, wurde schon längst erwiesen. [2] Scheint aber fast niemanden zu interessieren. Als Fiktion ist sie so mächtig, dass sie allenthalben nachgeplappert wird.

Die Frage danach, wer oder was denn nun Geschichte macht, lässt sich erwartungsgemäß auch nicht mit Blick auf die Fiktion letztgültig beantworten. Aber wie auch immer die Antwort ausfallen sollte, die fiktiven Geschichten und Figuren dürfen dabei nicht vergessen werden. Es wäre interessant zu erfahren, wie viele Menschen inzwischen im Louvre nachgefragt haben, wo denn nun das Gemälde der „Elf“ zu finden sei.

[1] David Shields: Reality Hunger. Ein Manifest, München 2011, 92

[2] Peter Aufgebauer: „Die Erde ist eine Scheibe“. Das mittelalterliche Weltbild in der Wahrnehmung der Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 57 (2006) 427-441

[Pierre Michon: Die Elf. Übersetzt von Eva Moldenhauer, Berlin 2013]


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07. Žižek und die Geschichte mit bestimmtem Artikel

In Großbuchstaben

„Die Geschichte“ ist einfach nicht totzukriegen. Und das muss der Historiker in mir doch sehr bedauern. Dabei meine ich tatsächlich „Die Geschichte“ mit bestimmtem Artikel und möglichst vielen Großbuchstaben, diesen monolithischen Block, der sich durch die Zeit schiebt, dieses unheimliche Ding aus einer suprahumanen Sphäre, dieses alles überragende Superraumschiff, das sich wie in einem Star-Wars-Film aus dem Hintergrund über die Köpfe der machtlosen Zuschauer in die Leinwand hineinschiebt – „Die Geschichte“ also, die mit uns all die schrecklichen Dinge tut, die uns im Lauf der Zeit eben so zustoßen.

Diese „Geschichte“ erhebt eigentlich tagtäglich und tausendfach ihr Haupt. Zumeist fällt es gar nicht auf, weil es so häufig geschieht. Zum Beispiel in einem Interview, das Slavoj Žižek der Süddeutschen Zeitung vor einiger Zeit gegeben hat. Dort plumpst sie immer wieder mit deutlich zu vernehmendem Gepolter zwischen die Sätze. Žižek meint zum Beispiel: „Wenn ich mir anschaue, wohin die Geschichte gerade steuert, bin ich einfach ein bisschen besorgt.“ Abgesehen davon, dass man fast immer Grund hat, auch ein bisschen mehr als nur ein bisschen besorgt zu sein, muss man sich schon fragen, wer oder was denn da am Steuerruder sitzt, um „Die Geschichte“ zu lenken. Oder wenn er behauptet, „die Geschichte ist nicht unbegreiflich. Unbegreiflich ist nur, welche Rolle wir selber darin spielen.“ Dann ist es diese so alltäglich verwendete, aber doch mehr als seltsame Raummetapher, dass „wir“ eine Rolle „in“ der Geschichte spielen, die eigentlich verwundern muss. Es ist immer noch das große geschichtsphilosophische Welttheater, das hier aufgeführt wird, in dem wir zwar die Schauspieler sind, in dem aber ein anderer den Text und die Regieanweisungen verfasst hat. Nur wer? Žižeks Antwort: „Auch wenn kein großer Anderer unser Leben kontrolliert – kein Gott, kein Schicksal und keine Kapitalisten –, dann heißt das noch lange nicht, dass wir es deshalb selbst kontrollieren.“ Schließlich haben wir noch „Die Geschichte“, die als Gottersatz herhalten kann und in die sich all das Unerklärliche, Undurchschaubare und Verstörende der eigenen Gegenwart abschieben lässt. Probleme können auf diese Weise temporalisiert werden. Man ist ihnen immer noch ausgeliefert, weiß aber, dass sie im „historischen Prozess“ einen Ort haben, der zwar nichts erklärt, einem aber der Verantwortung abnimmt. Man muss dann nur noch die Zeit abwarten, um verstehen zu können, was man zuvor (noch) nicht begriffen hat. (Es sei denn, man verfügt über einen großen Geschichtsdurchschauer – das wäre Žižeks stalinistische Variante –, dann hätte man dank einer solchen Ausnahmegestalt auch den historischen Prozess mit seinen Konsequenzen zumindest kurzzeitig im Griff.)

Natürlich lugt hier Hegel überall durch die argumentativen Kulissen. Er ist für Žižek der mehrfach zitierte Souffleur, der die geschichtsphilosophischen Stichworte vorgibt. All das kennt man schon, wenn man den einen oder anderen Text von Žižek gelesen hat, nicht nur das Hegelianische, sondern vor allem das Großspurige, Provozierende, mit groben Pinseln Kleisternde, auf Differenzierungen möglichst wenig Rücksicht Nehmende (auch wenn er es schafft, diese Nuancierungen doch immer wieder auf unnachahmliche Art durchscheinen zu lassen). Und gerade deswegen lese ich Žižeks Texte mit Vergnügen und Gewinn, weil sie irritierend und erfrischend sind. Ich bin mir aber nie ganz sicher, ob Žižek deswegen so viel gelesen und zitiert wird, weil er wirklich gute Ideen hat oder weil er als irritierender Provokateur gute philosophische Unterhaltung darstellt. Wird er irgendwann als clownesker Philosoph oder als philosophierender Clown in Erinnerung bleiben?

Eine geschichtsphilosophische Hängematte

Bei einer Sache bin ich mir allerdings sicher: Als innovativer Erneuer der Geschichtsphilosophie taugt er kaum. An diesem Žižek-Interview interessiert mich auch offen gestanden nicht die geschichtsphilosophische Komponente. Es ist vielmehr ein sprechendes Indiz für eine weit verbreitete Auffassung von „Der Geschichte“, die aus der einstigen Geschichtsphilosophie längst ihren Weg in den Alltag gefunden hat – oder war es umgekehrt? Gerade deswegen erscheint Žižeks Auffassung von Geschichte zunächst so selbstverständlich und völlig unproblematisch, weil sie so alltäglich ist. Natürlich hat das nicht erst Hegel erfunden, da war der liebe Gott dann doch ein bisschen schneller. Die heilsgeschichtliche Basis dieses aufgeblähten Geschichtsmonstrums ist nicht zu übersehen. Und ich bin mir fast sicher, dass auch Žižek nur der vorletzte Vertreter Hegelscher Geschichtsphilosophie sein wird. Denn immer wenn man denkt, es gäbe keine Hegelinaer mehr, kommt von irgendwo ein neuer her.

Das ist es, was mich ernsthaft zur Verzweiflung bringen kann, dass wir Heilsgeschichte und Hegels „Geschichte“ einfach nicht loswerden, dass wir es uns in dieser geschichtsphilosophischen Hängematte bequem gemacht haben, um uns aus der historischen Verantwortung stehlen zu können. Damit will ich noch nicht einmal die aufklärerische Perspektive angesprochen haben, dass der Mensch für sein historisches Handeln selbst verantwortlich sei. Denn unter einem solchen Blickwinkel kommt immer noch das Drama mit dem Titel „Die Geschichte“ zur Aufführung – nur der Regisseur hat gewechselt. Nein, es geht nicht nur darum, dass wir „Die Geschichte“ selbst machen, sondern dass wir aus diesem Gemachten wiederum eine Erzählung formen, der wir den Namen „Die Geschichte“ geben. Und diese Erzählung macht sich irgendwann selbstständig, tritt ihren Schöpfern entgegen, die ob dieses hochkomplexen Wunderwerks in basses Erstaunen verfallen und sich (wie Žižek) fragen: Wohin soll das alles noch führen? Aber vergessen wir nicht: Dieses Star-Wars-Superraumschiff, auf dem in riesigen Lettern „Die Geschichte“ steht und das sich mit dumpfem Grollen wie eine gigantomanische Gewitterwolke in die Leinwand unsers Lebens hineinzuschieben scheint, ist nicht nur das Ergebnis menschlicher (und nicht extraterrestrischer) Anstrengungen – es ist vor allem Bestandteil eines Films.

[Slavoj Žižek/Jan Füchtjohann: „Dies ist eine gute Zeit für Philosophen“, in: Süddeutsche Zeitung, 6. März 2013, S. 12


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