Tagungsbericht: “Materielle Mediationen im deutsch-französischen Dialog / Médiations matérielles et dialogues franco-allemands” , 18. – 20. März 2015, IEA Paris

"Materielle Mediationen/Médiations matérielles": Eine deutsch-französische Tagung zu Materialitäten in Künsten, Literaturen und Kulturen. (Bild: Andrea von Hülsen-Esch und Alain Schnapp / © Miriam Leopold)

“Materielle Mediationen/Médiations matérielles”: Eine deutsch-französische Tagung zu Materialitäten in Künsten, Literaturen und Kulturen. (Bild: Andrea von Hülsen-Esch und Alain Schnapp / © Miriam Leopold)

1985 sorgte der französische Poststrukturalist Jean-François Lyotard mit der Ausstellung „Les Immatériaux“ im Centre Pompidou für ein Diskursereignis, das das Verständnis von Materialität grundlegend verändern sollte. Lyotards Ausstellung führte wortwörtlich vor, wie mit der Immaterialisierung der Wirklichkeit durch numerische Technologien zugleich die materielle Präsenz der Kommunikation gesteigert wird. Damit eröffnet sich aber zwischen dem Materiellen und dem Immateriellen ein dynamischer Raum für verschiedenste Mediationen.

An das mediale Ereignis “Les Immatériaux” schloss die internationale Tagung “Materielle Mediationen im deutsch-französischen Dialog/Médiations matérielles et dialogues franco-allémands”, die das GRK1678 in Zusammenarbeit mit Alain Schnapp organisierte, in zweifacher Weise an: Erstens fand die Tagung exakt dreißig Jahre nach Lyotards Ausstellung statt. Zweitens ist Lyotards Materialitätskonzept ein wichtiger Referenzpunkt für das GRK1678, wie Andrea von Hülsen-Esch und Vittoria Borsò in ihren einleitenden Vorträgen ausführten.

Andrea von Hülsen-Esch/Vittoria Borsò (Düsseldorf): Einleitung

Prof. Dr. Andrea von Hülsen-Esch  © Miriam Leopold

Prof. Dr. Andrea von Hülsen-Esch
© Miriam Leopold

Die Interdependenz zwischen Materiellem und Immateriellem bricht mit dem Primat des Geistes und setzt die unmittelbare Erfahrung ins Recht, konstatierte Andrea von Hülsen-Esch in ihrem Teil der Einleitung. Von den angelsächsisch geprägten “material studies” unterscheide die französische und deutsche Philosophie, Kunst- und Literaturwissenschaft ihre Orientierung an der Prozessualität der materiellen Meditationen, die sich explizit auch der Agentialität der Dinge und ihrer Wirkung auf den Betrachter zuwende. Die Weichen für diesen methodischen Zugang zur Materialität stellt nach von Hülsen-Esch aber nicht erst Lyotard, sondern dieses Konzept von Materialität besitzt eine verzweigte Genealogie, die auf beide Seiten des Rheins führt. Vorreiter für die deutsche Kunstwissenschaft sei Aby Warburg, der mit seinem Mnemosyne-Atlas und der “Pathosformel” die Agentialität der Bilder fokussierte. Weiter zu nennen wären auch Philippe Dubois’ Konzept “image-act” sowie Horst Bredekamps energetische Bildakttheorie.

Prof. Dr. Vittoria Borsò © Miriam Leopold

Prof. Dr. Vittoria Borsò
© Miriam Leopold

Aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet  Vittoria Borsò Lyotards These. Materielles und Immaterielles bedingen sich nicht nur gegenseitig, so Borsò. Vielmehr gehören beide zum gleichen Produktionsprozess von Wirklichkeit. Diese dynamische Ontologie habe bereits Lyotards Ausstellung performativ umgesetzt, da sich dort die Materialität als Emergenz einer komplexen Interaktion zwischen Technik und Benutzer immer wieder neu einstellte. Für die Literaturwissenschaft schlägt dagegen die Romanistin den Begriff der écriture vor, der einen durchlässigen, multimedialen Raum der Sinngebung definiert. In dieser écriture offenbart sich nach Borsò immer auch das Fremde im Eigenen, ja das Fremde wird als eine Konstituente der Materialität sichtbar – so wie es auch Roland Barthes in L’empire des signes und Gilles Déleuze in Critique et clinique vorgeführt haben. Insofern verlangen die materiellen Meditationen eine ständige Kreuzung der Aspekte, ein Changieren zwischen Epistemologie und Ontologie und nicht zuletzt einen interkulturellen Austausch. (Autor: Sergej Rickenbacher)

Alain Schnapp (Paris): Monument/Mahnmal/Merkmal – Quelques aspects de la mémoire entre France et Allemagne

Prof. Alain Schnapp © Miriam Leopold

Prof. Alain Schnapp
© Miriam Leopold

Einen interkulturellen Dialog setzte der Pariser Archäologe Alain Schnapp in seinem Vortrag in Szene. Ausgehend von den Etymologien und Übersetzungen zentraler Begriffe historischer Wissenschaften reflektierte Schnapp über die Semantiken und Funktionen von Ruinen, Monumenten, Denk- und Mahnmälern in verschiedenen Kulturen zu wechselnden Zeiten. Als zentrale Konzepte der europäischen Erinnerungskultur definierte er trace und empreinte. Während trace die Richtung vorgebe und somit Orientierung schaffe, gebe empreinte als Abdruck dem Erinnerten eine Form. Letzteres könnte auf einer Erinnerungskultur bezogen werden, wie sie Denis Diderot lebte. Die Ruine habe für Diderot die Vergangenheit verkörpert, die durch Kontemplation vor Ort wieder zugänglich wurde. Eher dem Konzept der trace müsste Alois Riegls Funktionalisierung des Denkmals in Der moderne Denkmalkultus zugeordnet werden. Das Denkmal ist nach Riegl der Ort des ritualisierten Umgangs mit der Vergangenheit. Insofern besitzen nach Schnapp die deutschen Begriffe ‘Denkmal’, ‘Mahnmal’ und ‘Merkmal’ gegenüber dem französischen ‘monument’ einen entscheidenden Vorteil: Sie drängen die Frage nach den zukünftigen Funktionen der materialisierten Vergangenheiten auf. (Autor: Sergej Rickenbacher)

 

Section I: Critique génétique

Daniel Ferrer (Paris): Le matériel et le virtuel dans la critique génétique

Dr. Daniel Ferrer © Miriam Leopold

Dr. Daniel Ferrer
© Miriam Leopold

Ungeschriebene Bücher hinterlassen Spuren. Zu Unrecht interessierten die Critique génétique diese virtuellen Werke aber nur am Rande, wie der Joyce-Spezialist Daniel Ferrer vom ITEM bemängelte. Zwar sind diese Bücher nicht als Werke vorhanden, aber sie sind auch nicht vollständig verschwunden. Diese virtuellen Bücher sind als Korrekturen, Anmerkungen oder Flecken im Manuskript präsent, was auch wichtige Rückschlüsse auf den Schreibprozesse zulasse. Wie sich diese Virtualität am Material manifestiert, veranschaulichte Ferrer an Manu- und Typoskripten von Voltaire, Gustave Flaubert, Wladimir Nabokov oder James Joyce. Besonders bei Joyce wurde deutlich, dass die gemeinte Virtualität sich nicht nur in der Schrift konkretisiert. Vielmehr wird sie auch in der Materialität der Vorlage oder in Kontexten wie der Autorenbibliothek greifbar. Im Anschluss an den Vortrag wurde besonders Ferrers Begriff der ‘Virtualität’ kritisch diskutiert, da er große Überschneidungen mit der ‘Potentialität’ besitzt. (Autor: Sergej Rickenbacher)

Dirk van Hulle (Antwerpen): The Materiality of Textual Gaps – Beckett’s Blanks for when Words gone

Prof. Dr. Dirk van der Hulle © Miriam Leopold

Prof. Dr. Dirk van der Hulle
© Miriam Leopold

Unter dem Motto “Mind the Gap” besprach Dirk van Hulle die Rolle der Leerstelle in den Werken Samuel Becketts. Besonders ging es ihm dabei um das Verhältnis, dass die in den Manuskripten und Entwürfen zu findenden Leerstellen zu den in den Werken thematisierten Leerstellen haben. Aufbauend auf Modellen der kognitiven Narratologie zur Funktionsweise des menschlichen “minds” plädierte van Hulle dafür, diese nicht nur für die Ebenen der Erzählung und der Rezeption, sondern auch für die textgenetische Ebene fruchtbar zu machen. Manuskripte, Entwürfe und Überarbeitungen sollen als essentielle Bestandteile des Schreibprozesses betrachtet werden. Unter dieser Perspektive ließen sich die einzelnen Texte dann als Extensionen des “minds” von Autorinnen und Autoren sehen, die in ihrer spezifischen Materialität den Schreibprozess beeinflussen.

Anhand von drei Werken Becketts – “Malone Dies Alone”, “Rough for Radio II” und “Cascando” – stellte er auch die Verbindung zwischen den Leerstellen in den einzelnen Textvarianten und der Thematisierung von Gedächtnis und Schreibprozess vor. Becketts Werke, so die Argumentation van Hulles, liefen auf die Konstruktion des “Unerzählbaren” hinaus. Abschließend präsentierte van Hulle das von ihm mit-geleitete Beckett Digital Manuscript Project (BDMP) in dem die Schriften Becketts digital aufbereitet werden. (Autor: Gero Brümmer)

Roger Lüdeke (Düsseldorf): The Material Art of Abstraction in Virginia Woolf’s To The Lighthouse

Roger Lüdeke eröffnete seine Präsentation mit dem Hinweis, dass diese „rachsüchtig“ und “ungerecht” sein werde. Ein Ziel dieser Rache zeigte sich, als er aus Leslie Stephens “What is Materialism?” (1886) das darin enthaltene Plädoyer für eine Hinwendung zum Materialismus zitierte. Diese Einstellung kontrastierte er mit einem Text, der als Replik auf Stephens’ Text verstanden werden kann, geschrieben von Stephens’ Tochter, Virginia Woolf (“Modern Fiction”, 1919).

Prof. Dr. Roger Lüdeke © Miriam Leopold

Prof. Dr. Roger Lüdeke
© Miriam Leopold

Das Anliegen des Vortrags war es, für einen Eigensinn der Materialität von Literatur zu plädieren. Hierzu widmete Lüdeke sich einem close reading von Virgina Woolfs To the Lighthouse (1927). Indem er den Schreib- und Überarbeitungsprozess des Romans nachzeichnete, demonstrierte er, wie Woolfs Schreibweise als eine Art materieller Abstraktion verstanden werden kann, die eine besondere Form der Beschäftigung mit dem Text und der Schreibsituation Woolfs erlaubt. Hauptaugenmerk lag dabei auf dem zweiten Kapitel, “Time Passes”, das sich sowohl im Umfang als auch in der Ausrichtung immer weiter von der ursprünglich geplanten Form entfernte und weiter entwickelte. So machte Lüdeke deutlich, wie im Laufe des Romans die Thematisierung des künstlerischen Arbeits- und des Rezeptionsprozesses dafür sorgt, dass sich die Materialität der Welt, ihre Zeitlichkeit und ihre Bewegung in eine eigene Richtung entwickeln. Nach und nach entzieht sich der Text einer menschlichen Perspektive und die Welt gewinnt so ihren materiellen Eigensinn.

Er schloss den Vortrag mit einigen Anmerkungen zur Bedeutung dieser Abstraktion und der Berücksichtigung eines solchen materiellen Eigensinns, der, so Lüdeke, eine eigene ethische Haltung der Literatur evoziere. (Autor: Gero Brümmer)

 

Section II: Materialité et écriture

Ricarda Bauschke-Hartung (Düsseldorf): Die Materialisierung von Textsinn im Spannungsfeld handschriftlicher Varianz – Mehrfachüberlieferungen mittelhochdeutscher Lyrik.

Prof. Dr. Ricarda Bauschke-Hartung

Prof. Dr. Ricarda Bauschke-Hartung © Miriam Leopold

Handschriftliche Varianzen bringen selten Klarheit für das Verständnis von Texten. Oftmals verschleiern und vervielfachen weitere Handschriften durch Unterschiede, Schreibfehler, Lücken, Angleichungen und Anpassungen das Material mit dem sich Literaturwissenschaftler beschäftigen: Texte und Fiktion. In ihrem Vortrag behandelte Ricarda Bauschke-Hartung den Umgang mit dieser Vielheit. Dabei bezog sie eine Position zwischen Old Philology und New Philology und verwies darauf, dass beide konkurrierende Strömungen problematisch für ein adäquates Textverstehen sind. Während die erste eine Urtextform zu (re)konstruieren versuche, forciere die zweite den Pluralismus der Texte und begründe dies mit der Auftrittssituation im Mittelalter. Am Beispiel von Heinrich von Morungens Des Minnesangs Frühling wies Bauschke-Hartung darauf hin, wie komplex eine Textgenese ist und wie missverständlich die Pluralität der Texte sein kann. Dabei lautet ihr Vorschlag, die Vielheit bei gleichzeitiger Hierarchisierung historischer, sprachlicher und kultureller Fakten beizubehalten. Gerade der material turn diene dabei als produktiver Ausgangspunkt. Die Hinwendung zum Textmaterial zeige, wie immer schon Autorenbilder konstruiert, Textzuschreibungen inszeniert und die Potentialität des Textes poetisiert wird. In der Diskussion wurde kritisch beleuchtet, welchen Weg die Philologie zwischen den Ideologien von Urtext und Autor sowie von Vielheit und Gleichwertigkeit gehen kann. (Autor: Martin Bartelmus)

Martin Stingelin (Dortmund): Im Höhlenlabyrinth der Materialität von Christoph Martin Wieland und Friedrich Dürrenmatt

Prof. Dr. Martin Stingelin © Miriam Leopold

Prof. Dr. Martin Stingelin
© Miriam Leopold

Literatur befindet sich immer schon im Spannungsfeld zwischen dem Schreiben mit seinen Akteuren – wie Tinte, Schreiber, Stift, Maschine, Papier und Sekretärin – und der Fiktion –also all dem, was geschrieben, erzählt, inszeniert und produziert wird. Martin Stingelin verband in seiner Analyse die Materialität mit der Fiktionalität von Schreibszenen. Ausgangspunkt bildete Christoph Martin Wielands Sokrates Mainomemos, in dem Diogenes über das Schreiben reflektiert und gleichzeitig schreibt. Wie körperlich und materiell Schreiben sein kann, zeigte eine handschriftliche Notiz von Georg Christoph Lichtenberg, in der er mit Kaffee schreibt, und schreibt, dass er mit Blut schreiben würde, hätte er keinen Kaffee als Tintenersatz. Sichtbar wird, auf welch radikale Körperlichkeit der Akt des Schreibens immer schon verweist. Auch bei Friedrich Dürrenmatts Winterkrieg in Tibet zeichnet sich die ganze Bandbreite der Verschränkungen von Fiktion und Materialität ab. An Dürrenmatts Manu- und Typoskripten machte Stingelin deutlich, wie sich materiell-semiotische Knoten bilden – im Text sowie auf dem Blatt Papier. Die Fiktion kenne nicht nur eine Vielheit an menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren im Schreibprozess. Vielmehr zeige sich auch bei Dürrenmatt und Robert Walser, dessen Bleistifthandschriften auch ins Spiel gebracht wurden, dass nie nur der Autor die Fiktion entwirft, sondern das Schreiben ein Kollektiv versammelt: aus Schriftart, Bleistifte, Schreibmaschinen etc. Das Schreiben ist nicht nur eine Praxis zur Herstellung literarischer Texte, sondern auch eine Praxis des Zusammenbringens von Akteuren, mithin ein Spiel zwischen Mikropolitik und Ökonomie des Schreibens.(Autor: Martin Bartelmus)

 

Section III: Materialité et médialité

Reinhold Görling (Düsseldorf): Material und Abstraktion

Prof. Dr. Reinhold Görling © Miriam Leopold

Prof. Dr. Reinhold Görling
© Miriam Leopold

Anhand der Audiovertonung von James Joyce’ Anna Livia Plurabelle und der Video-Installation The Woolworth Choir 1979 von Elizabeth Price erkundete Reinhold Görling das Verhältnis von Abstraktion und Material.

Die 1929 entstandene Vertonung von Anna Livia Plurabelle, dem wohl bekanntesten Kapitel aus dem als unübersetzbar geltenden Finnegans Wake, beschrieb Görling als vielstimmigen Text über Zeit und Verben, Begehren und Körper. Hierin spiegele sich das Verhältnis von Materialität und Produktion, so man Produktion (als eine Tätigkeit der Formwandlung) als zeitliche Ausbreitung und Material als räumliche Ausbreitung fasse. Die an Musik grenzende Sprache arbeite gegen den Sinn im Text an, da der Text ständig selber Rhythmen und Gesten übersetze und somit mit Benjamin eine ‚reine Sprache’ genannt werden könnte. Görling schlug dagegen vor, mit Whitehead und Déleuze/Guattari Anna Livia Plurabelle und The Woolworth Choir 1979 anstatt als Produktionen als Abstraktionen verstehen, die zugleich Konkretionen sind. Sie gehen als Relationen den Relata voraus und gebärden sich ereignishaft, ohne jedoch in eine Zeitstruktur eingebunden zu sein. Das beschriebene Material entspräche in dieser methodischen Perspektive eher Bewegungen oder Rhythmen denn Substanzen. (Autorin: Maike Vollmer)

Beate Ochsner (Konstanz): Das Cochlea Implantat zwischen epistemischem und technischem Ding

Prof. Dr. Beate Ochsner © Miriam Leopold

Prof. Dr. Beate Ochsner
© Miriam Leopold

Beate Ochsner reflektiert in ihrem Vortrag das Cochlea Implantat (CI) zwischen epistemischem und technischem Ding. Das CI ist eine chirurgisch zu implantierende Neuroprothese, die gehörlosen und schwerhörigen Menschen eine Darstellung der Umgebungsgeräusche vermitteln kann und somit die Teilhabe an der hörenden Welt ermöglicht. Ochsner analysierte audiovisuelle Repräsentationsräume, die aus (Noch-)Nicht-Teilhabenden Teilhabende machen. Die Ereignishaftigkeit der Mediation (des Hörend-Werdens) könne selbst nur medial verständlich gemacht werden.

Ochsner zeigte, dass in sogenannten “First-Time-Activation”-Videos, die vorgeben, den Augenblick der ersten Aktivierung der Prothese festzuhalten, mit standardisierten Blickzurichtungen und akustischen Aufmerksamkeitsspots operiert wird, die das epistemische in ein technisches Ding verwandeln und gleichzeitig die Selbstreferentialität des Hörenden medial erzeugen. Die Konstruktion der Selbstreferentialität entspreche der Logik des Supplements und habe die Nicht-Wahrnehmung und Auslöschung einer gehörlosen Möglichkeit der Identität zur Folge. (Autorin: Maike Vollmer)

 

Conference du soir

Bernard Stiegler (Paris): L’appareillage noétique

Pour comprendre les Immatériaux, il faut penser au delà de J-F. Lyotard !

Ainsi commence la conférence de Bernard Stiegler sur l’appareillage noétique définissant le cerveau comme « appareil de production du savoir ».

Pour penser contre l’automatisation du savoir dans le web, et pour un usage noétique du numérique Stiegler se réfère au concept qu’il baptise rétention tertiaire, un concept à partir des deux types de rétentions forgés par Husserl.

Prof. Bernard Stiegler © Miriam Leopold

Prof. Bernard Stiegler
© Miriam Leopold

Stiegler prend l’exemple du discours. Un discours écrit est une rétention tertiaire. Quand le public l’écoute pour la première fois, il se produit des rétentions primaires. Si l’on avait la possibilité de fixer le discours par un procédé audio et de le réécouter, il se produirait des rétentions secondaires et de nouvelles rétentions primaires, les anciennes rétentions primaires étant par la réécoute transformées en rétentions secondaires. La prise de note participe de ce même processus, transformant le support transindividuel en « enrichisssement du texte » par l’attention individuelle à tel ou tel aspect du discours. Ces notes peuvent être le chemin d’une nouvelle transindiviuation.

La rétention tertiaire numérique, le web, ouvre de nouvelles possibilités herméneutiques ; le numérique comme objet spatiotemporel favorise un régime de la transindividuation ou autrement dit, un social networking. Les groupes qui consolident des rétentions secondaires collectives, définies par l’interprétation et la production des processus de catégorisation contribuent aux matériaux de savoir.

Le web comme ardoise magique collective ( nouveau wunderblock freudien) devient ainsi un circuit de transindividuation à travers des bifurcations qui se créent pendant le dialogue des groupes sur le web. (Auteur: Aleksandra Lendzinska)

 

 Section IV: Materialité et l’histoire d’art

Jean-Claude Schmitt (Paris): Les deux corps de la vierge

Prof. Jean-Claude Schmitt © Miriam Leopold

Prof. Jean-Claude Schmitt
© Miriam Leopold

Die letzte Sektion der Tagung eröffnete der französische Mediävist und Vertreter der anthropologie historique Jean-Claude Schmitt. Seinen Vortrag widmete Schmitt der Produktion von Sakralität in der Marien-Prozession Círio de Nazaré in Belem, die aktuell als eines der größten religiösen Feste weltweit gilt. Während der zweitägigen Prozession wird eine Marienstatue mit verschiedenen Transportmitteln bzw. –formen von der Nachbarstadt Ananindeua zur Basilika Sanctuário de Nazaré in Belém transportiert. Entscheidend seien die verschiedenen Vervielfachungen des Marienkörpers, die erst die Produktion von Sakralität in der Menschenmasse erlauben. Seit 1966 begeht die Prozession eine Kopie der originalen Statue, die während den Festlichkeiten in der Basilika bleibt. Diese Verdoppelung des Körpers bleibt nach Schmitt jedoch nicht die einzige Multiplikation. Vor der Prozession schenken sich Privatpersonen, Geschäfte und Firmen gegenseitig kleine Marienstatuen, ebenso wie digitale Fotos überzeitliche Nähe produzieren. (Autor: Sergej Rickenbacher)

Philipe Cordez (München): Esclaves d’ébène – À propos du mobilier du Andrea Brustolon pour Pietro Venier (Venise 1706)

Dr. Philippe Cordez © Miriam Leopold

Dr. Philippe Cordez
© Miriam Leopold

Der Frage, woher die Verbindung der Assoziation von schwarzer Haut und dem Material Ebenholz stammt, widmete sich Philipe Cordez in einer Betrachtung des Mobiliars Andrea Brustolons für Pietro Venier (Venedig, 1706). Basierend auf einem materialsemantischen Ausgangspunkt zeigte er in seinem auf Deutsch gehaltenen Vortrag, dass der materialisierenden Identifizierung des afrikanischen Körpers mit dem kostbaren Ebenholz und den Darstellungsmodi der Afrikaner im Mobiliar kulturell bedingte Handlungsmuster zugrunde liegen, indem er die komplexen semantischen Assoziationen des französischen Wortes “guéridon” sowie der Begriffe “Bois d’ébéne” und “ebony” über die Sprache historisch zurückverfolgte. (Autorin: Sabrina Pompe)

Hans Körner (Düsseldorf): Die Mauer – Zur Materialität der Erinnerung im französischen Denkmal des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts

Prof. Dr. Hans Körner © Miriam Leopold

Prof. Dr. Hans Körner
© Miriam Leopold

Reflektierte Alain Schnapp im Eröffnungsvortrag die kulturelle Produktion von Erinnerung mittels Denkmälern, so wendete sich der Düsseldorfer Kunsthistoriker Hans Körner ihrem entgegengesetzten Pol zu: ihrer Materialität. Körner bezog verschiedene Medien und historische Ereignisse um 1900 aufeinander und zeigte, dass die Mauer in den Denkmälern dieser Zeit bei weitem nicht nur Staffage ist. Vielmehr bildet sie nach Körner die Leerstelle der Denkmäler, in der sich die Ephemerität der Vergangenheit, die Imagination des Betrachters und die Materialität des Kunstwerks begegnen. Als Beispiele dienten u.a. das Ölbild “Der Tod des Marschalls Ney” (1867) sowie das erste Denkmalprojekt zu Neys Hinrichtung von François Rude (1848) und Paul Moreau-Vauthiers “Aux victimes des révolutions” (1907), das den letzten hingerichteten Pariser Kommunarden gewidmet ist. Körner führte eindrücklich vor, wie gerade an diesen Mauern die Spannung zwischen Absenz und Aktualisierung manifest wird. (Autor: Sergej Rickenbacher)

 

 

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/473

Weiterlesen

Übersetzung der Koexistenz. Logbuch zur Reise in “Schizophrene Ökologien”

Handbibliothek Doktorandenraum GRK1678, 27. März 2015, 15:58:58.

Handbibliothek Doktorandenraum GRK1678, 27. März 2015, 15:58:58, aufgenommen mit Motorola Moto G.

Dieses Logbuch dokumentiert das Publikationsprojekt “Schizophrene Ökologien. Für eine Gleichstellung fiktionaler Welten” von Dr. Sergej Rickenbacher und Martin Bartelmus. Unter ‘schizophrenen Ökologien’ verstehen wir fiktionale Welten, in denen Versammlungsweisen von nichtmenschlichen und menschlichen Akteuren sowie die modernen und nicht-modernen Prozesse von Welt-Bildung erfahrbar werden. In unserem Publikationsprojekt wenden wir uns literarischen Texten von Arno Schmidt, Christian Kracht und Dietmar Dath zu, die dystopische und postapokalyptische Welten verhandeln.

Doch warum ein öffentliches Logbuch führen?

Die Entscheidung, ein Logbuch über die gemeinsame Arbeit anzulegen und zusätzlich den Lesern des GRK1678-Blog zugänglich zu machen, basiert auf zwei Überlegungen:

1. Das Fahrzeug der Reise: Wissenschaftliche Texte als Artefakte des Kollektivs

Die erste Überlegung knüpft an die methodischen Grundlagen der “Schizophrenen Ökologien” an. Das Projekt orientiert sich methodisch wie begrifflich bei Bruno Latour, der den wissenschaftlichen Text gerade nicht als unproblematischen Bericht über die Ergebnisse eines Experimentes oder einer Studie versteht. In Bezug auf Bruno Latours ‘fünfte Quelle der Unbestimmtheit’ in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft verstehen auch wir den wissenschaftlichen Text als Artefakt, das am Ende vieler Operationen steht, um gleichzeitig wieder in die Prozesse des Kollektivs eingespeist zu werden. Die Fabrikation eines wissenschaftlichen Textes ist somit ein Mittler in einer fortlaufenden Kette von Übersetzungen zwischen Beobachter, Daten, Notizen, Entwürfen, Autor, Tastatur, Schriftzeichen, Leser etc.: “Be-schreiben, auf-schreiben, erzählen und das Schreiben von Abschlußberichten sind so unnatürlich, mühselig und komplex, wie es das Sezieren von Fruchtfliegen oder die Beförderung eines Teleskops in den Weltraum sind.”1 Das Logbuch ist konstitutiver Bestandteil einer Akteur-zentrierten Methode, die versucht die Entstehung eines Textes in seiner Komplexität ernst zu nehmen.

Arrangierte Stühle im Doktorandenraum mit Dietmar Daths "Abschaffung der Arten", Suhrkamp Taschenbuch, 27. März 2015, 15:05, aufgenommen mit Motorola Moto G.

Stuhlarrangement mit Dietmar Daths “Abschaffung der Arten” (Suhrkamp Taschenbuch) im Doktorandenraum, 27. März 2015, 15:05, aufgenommen mit Motorola Moto G.

Uns interessieren hier besonders ›Notizbücher‹, die den Weg zum wissenschaftlichen Text dokumentieren sollen. Latour unterscheidet vier verschiedene Formen von Notizbüchern, die wir in eigener Terminologie aufzählen: Logbuch, Karteikästen, Entwürfe und Wirkungsprotokoll. Alle vier Notizbücher berücksichtigen wir auf die eine oder andere Weise im Verlaufe unseres Projektes. Für den Blog-Leser ist vorerst das Logbuch von besonderer Relevanz. Das Logbuch soll zum einen die begangenen Schritte der Reise protokollieren und zum anderen die Veränderungen enthalten, die wir selbst während der Arbeit mit diesen Texten erfahren.

Wir sind also weder neutrale Beobachter noch maliziöse Manipulatoren: Zwischen uns und dem Untersuchungsgegenstand entfaltet sich vielmehr diverse Wechselwirkungen in der Zeit, die zudem von vielen unerwarteten Entitäten zusätzlich dynamisiert oder modifiziert werden. Diese Kollektive (oder Akteur-Netzwerke) umfassen aber nicht nur uns als Autoren und die Romane Schmidts, Krachts und Daths als Untersuchungsgegenstand, sondern zu ihm gehören gleichfalls alle anderen Mitglieder des GRK1678, unsere Computer, deren Software, ja auch unsere Handbibliothek, unsere Tische, unsere Kaffeemaschine, unsere Kantinen oder unser Kiosk. Alle diese Akteure im Kollektiv sind im Normalfall zu einer stummen und geheimen Koexistenz verdammt. Wir erhoffen uns, durch das Logbuch mehr über die kollektive Produktion unserer Texte zu erfahren.

2. Es sind noch Plätze frei! Die Demokratisierung der Wissenschaft

Wieso aber dieses Logbuch auf dem Blog GRK1678 veröffentlichen? Präziser: Wieso ein Logbuch für ein Blog überhaupt erst schreiben? Die Antwort auf diese Fragen entspricht der zweiten Überlegung. Sie ist zweiteilig. Der erste Teil bezieht sich auf die Ziele dieses Blogs: Es hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur wissenschaftliche Inhalte zu vermitteln, sondern auch einen Einblick in die Arbeit des GRK1678 zu ermöglichen. Mit der fortlaufenden Dokumentation unseres Publikationsprojektes soll diesem Anspruch nachgekommen werden.

Martin Bartelmus, Büro Postdocs, 14:08, 4. Februar 2015

Martin Bartelmus, Büro Postdocs, 4. Februar 2015, 14:08, aufgenommen mit Motorola Moto G.

Der zweite Teil der Antwort ist wiederum durch Latour inspiriert. Unser Projekt »schizophrene Ökologien« orientiert sich an Latours ‘politischer Ökologie’, die er v.a. in Das Parlament der Dinge entwickelt. Eine zentrale Forderung der ›politischen Ökologie‹ ist ein neuer Wissenschaftler. Er soll nicht mehr als Auserwählter der Gesellschaft eine ko-existierende, aber stumme Außenwelt zum ‘Sprechen’ bringen und die Ergebnisse dieser Tätigkeit als ‘Tatsache’ der Gesellschaft verkünden können. Zum einen seien ‘Tatsachen’ nicht natürlich gegeben, sondern ein verhandelter Konsens, an dem menschliche und nicht-menschliche Akteure gleichermaßen beteiligt waren. Zum anderen sollen, wenn die ‘Tatsachen’ schon ein Verhandlungsergebnis seien, auch die Öffentlichkeit an ihrer Schaffung beteiligt sein. Das Logbuch auf dem Blog übersetzt die wissenschaftliche Arbeit in die Öffentlichkeit und stellt es dem Leser frei, mittels Kommentarfunktion an der Verhandlung teilzunehmen.

Sergej Rickenbacher, Büro Postdocs, 14:08, 4. Februar 2015, aufgenommen mit Iphone 4S.

Sergej Rickenbacher, Büro Postdocs, 4. Februar 2015, 14:08, aufgenommen mit Iphone 4S.

Latours Soziologie und ‘politische Ökologie’ sollen aber nicht naiv übernommen werden (ebenso bildet er nicht die einzige theoretische Grundlage für die “Schizophrenen Ökologien”). Eine Irritation war für uns die Absenz der Literatur- und Sprachwissenschaft in Latours Soziologie und Ökologie. Gerade die Philologien könnten ja kompetent über die Praxis, Poetik und Poiesis von Texten Auskunft geben könnten. Den naturwissenschaftlichen Gestus der Objektivität, den Latour an der ‘Soziologie des Sozialen’ kritisiert, hat die Geisteswissenschaft diese Haltung spätestens mit dem linguistic turn abgelegt. Sie ist sich der Artifizialität ihrer Texte also schon längst bewusst, ohne deswegen den Anspruch auf Genauigkeit aufzugeben. Gerade angesichts des methodischen Bewusstseins für den konstruktiven Aspekt der eigenen Arbeit stellt sich aber die Frage, ob die Übersetzung der Textkonstruktion in eine Öffentlichkeit nicht ebenso dringlich wie für die Naturwissenschaften ist? Wir meinen ja. Im Gegensatz zur Natur- und Sozialwissenschaft wäre aber das Ziel einer solchen Übersetzung nicht die Dekonstruktion falscher ‚Tatsachen’ oder die Demaskierung einer falschen ‘Objektivität’. Vielmehr macht unser Logbuch erstens sichtbar, wie ‘experimentell’ die Literaturwissenschaft verfährt, und legt zweitens offen, wie und ob unsere Argumente funktionieren.

3. Das Ticket lösen: Medialität der Übersetzung

Latour gilt es auf einem zweiten Feld zu ergänzen, denn nicht nur der wissenschaftliche Text ist ein Artefakt. Auch das Logbuch ist keine Abbildung des Arbeitsprozesses. Es ist immer schon ein Medium im Sinne eines Mittlers – und dies nicht nur wegen seiner sprachlichen bzw. bildlichen Erscheinungsformen. Obwohl der Begriff ‘Logbuchs’ weniger vorbelastet als z.B. ein Protokoll ist, entspricht es bereits einem Standard, der das Merk-Würdige vordefiniert. Auch für ein Logbuch gilt, dass es nicht nur ein kausales Zwischenglied, sondern ein aktiver Übersetzer ist. In unserem Vorhaben verkomplizieren weitere Gegebenheiten das Verfassen eines Logbuchs:

Vorschau Artikel auf MacBookPro, Büro Postdocs, 27. März 2015, 16:28, aufgenommen mit Motorola Moto G.

Vorschau Artikel auf MacBookPro, Büro Postdocs, 27. März 2015, 16:28, aufgenommen mit Motorola Moto G.

  • Es existiert nicht nur ein Autor, sondern wir sind immer zwei, wenn nicht mehrere Autoren.
  • Das Blog GRK1678 verlangt nach einer verständlichen Präsentation unserer Einträge und zwingt zu einer Periodisierung. Damit einher geht aber die Gefahr der Ästhetisierung und der Anpassung. Die Intimität und Unmittelbarkeit eines Fahrten- oder Tagebuchs fehlt und der Leser agiert bereits als fiktive Ordnungsinstanz.
  • Für den Leser des Logbuchs besteht die Möglichkeit, zu intervenieren und damit die Reiseroute mitzubestimmen.
  • Wir haben mit dem Publikationsprojekt bereits begonnen. Neben zahlreichen, nicht dokumentierten Gesprächen hielt Martin Bartelmus im Workshop “Spekulation und Verführung” an der Universität Düsseldorf am 23.01.2015 einen Vortrag zu Daths Feldevàye und gemeinsam haben wir eine Bewerbung für den Essayband “Relationen. Essays zur Gegenwart” eingereicht, die einen Exposé, eine Leseprobe und eine vorläufige Gliederung enthielt. Der Zuschlag für den Essayband erhielten wir nicht.

Wie mit diesen medialen Übersetzungen umzugehen ist, können wir zum gegebenen Zeitpunkt nicht sagen. Gleichfalls steht die Form des digitalen Logbuchs noch nicht fest. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es ohnehin nie ein Formular bilden, das es einfach auszufüllen gilt. Die Wandlungen seiner Form werden Spuren unserer Reise sein. Bisher liegen folgende Parameter vor, die im Verlauf erweitert, ergänzt und modifiziert werden:

  • Das Logbuch auf dem Blog GRK1678 wird alle 14 Tage aktualisiert.
  • Der Aktualisierung geht ein halbstündiges Gespräch der Autoren voraus.
  • Ein zufällig geschossenes Foto illustriert die Gesprächssituation.
  • Menschliche und nicht-menschliche Akteure (z.B. Laptops, Smartphones, Software, Bücher, Handapparat, Drucker, Getränke, Räume etc.) sollen zum Sprechen gebracht werden.

Wohin die Reise führt, ist ungewiss. Über das Ziel kann auch das Logbuch keine Auskunft geben. Aber es erlaubt uns dereinst nachzuvollziehen, wie wir dorthin gelangt sind, und davon ausgehend ein besseres Verständnis unserer kollektiven Produktionen von Texten zu erhalten.

 

  1. Latour, Bruno (2010): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 237.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/453

Weiterlesen

Interview: Katharina Kelter zur Produktion von Materialität im zeitgenössischen Tanz

Foto Ursina Tossi

Choreografie “excellent birds“ von Ursina Tossi © Saskia Bannasch/Ursina Tossi

Tanz steht in einem ganz besonderen Verhältnis zu Materialität und Produktion. Als performative Kunstform materialisiert er sich ereignishaft und verflüchtigt sich zugleich wieder. Die GRK-Kollegiatin Katharina Kelter versucht in ihrem Promotionsvorhaben “Tanzen zwischen Materialität und Immaterialität.  Zum Produktionsprozess im zeitgenössischen Tanz” diese Abwesenheit bzw. die Immaterialität als Voraussetzung von Materialität zu denken und den Tanz als fortlaufenden Produktionsprozess zu untersuchen. Zu ihrer Forschung, aber auch zu ihren Erfahrungen als Stipendiatin und Kollegiatin des GRK1678 gibt Katharina Kelter im folgenden Interview ausführlich Auskunft.

Liebe Katharina, wie entstand Dein Interesse an “Materialität” und “Produktion”?

Mein Interesse für „Produktion“ ist eigentlich schon ziemlich früh im Studium entstanden. Sowohl in der B.A.- als auch in der M.A.-Arbeit habe ich mich mit verschiedenen Aspekten von Produktion im Tanz auseinandergesetzt – zunächst die Frage nach der Autorschaft und dann die Produktivität von Erinnerung. In diesem Kontext kam die Frage nach der spezifischen Materialität von Tanz fast automatisch dazu, da sich Tanz bzw. die tänzerische Bewegung als solche nicht in einem bleibenden stofflichen Artefakt materialisiert, sondern als Ereignis im Moment der Aufführung direkt wieder vergeht, sich verflüchtigt. Das beeinflusst wiederum in besonderem Maße den Produktionsprozess. Das Graduiertenkolleg kam mir mit seinem Ziel, die Relation und Interaktion dieser beiden Begriffe zu untersuchen, also gerade recht. Mein Hauptinteresse – wenn man das sagen kann – gilt aber nach wie vor dem Produktionsbegriff.

Dein Promotionsvorhaben untersucht die Materialität und die Produktion, die dem zeitgenössischen Tanz eingeschrieben sind. Mit welchen Methoden untersucht eine Kulturwissenschaftlerin Materialität und Produktion im Tanz? Mit welchen Quellen arbeitest du?

Wie gerade schon kurz angesprochen ist der Tanz eine flüchtige Kunstform und hat daher grundsätzlich mit einem methodischen „Problem“ zu tun, nämlich dass der eigentliche Untersuchungsgegenstand flüchtig ist. Es gilt also zum einen eine Dynamik bzw. einen Prozess zu analysieren und zum anderen auf mediale Übersetzungen zurückzugreifen. Darüber hinaus geht es mir in meinem Promotionsprojekt vor allem darum, Prozessualität als entscheidendes Charakteristikum einer Tanzproduktion herauszuarbeiten. Ich möchte u.a. aufzeigen, dass gerade mediale Übersetzungen Teil von Tanzproduktion sind. Medienanalysen spielen in meinem Projekt daher eine zentrale Rolle. Meine Quellen sind u.a. Filme, Bilder, Kataloge, Bücher, Archivmaterialien. Aber auch Interviews und Projekt- und Produktionsbegleitungen sind wichtige Quellen.

Eine Deiner Thesen ist, dass die Aufführung nicht mehr Ziel des zeitgenössischen Tanzes ist, sondern vielmehr die Arbeitsprozesse und die Materialität des Tanzes erfahrbar werden sollen. Die Orte, an denen sich professioneller Tanz ereignet, zeugen aber vielfach von einem traditionellen Kunstverständnis: Auf einer Bühne sieht ein zahlender Zuschauer eine Aufführung. Gibt es Anzeichen, dass auch diese räumliche Konfiguration aufgebrochen wird?

Du sprichst damit zwei verschiedene Punkte an: Zum einen die Existenz oder Notwendigkeit von Aufführung und zum anderen mein Verständnis von Produktion, bei dem die Aufführung nicht (mehr) im Fokus steht. Zunächst einmal ist die Aufführung in der derzeitigen Tanzlandschaft nicht mehr zwingendes oder notwendiges Ziel. Tanz präsentiert sich nicht nur in Bühnenformen, sondern es gibt vielfältige Produktions- und Erscheinungsformen, wovon die Aufführung ein Beispiel ist. Ich denke hier bspw. an Chantiers (sogenannte Baustellen), künstlerische Labore oder offene Proben – sprich Formate, die die „Unfertigkeit“, die Prozesshaftigkeit und Offenheit von Kunst – und von Tanz im Besonderen – in den Fokus rücken. Damit meine ich aber nicht, dass die Aufführung an sich obsolet geworden ist oder Tanz zukünftig nicht mehr auf der Bühne zu sehen sein wird. Natürlich ist Tanz als performative Kunstform auf den Moment des Aufführens angewiesen, alleine schon aus ökonomischen Gründen. Du sprichst also zu Recht den zahlenden Zuschauer an. Meine These ist jedoch, dass die Aufführung nicht das Ende, das fertige „Produkt“ und damit Höhepunkt des tänzerischen Produktionsprozesses ist. Die Produktion von Tanz beschränkt sich nicht auf Probenprozess und Aufführung, sondern auch ohne Aufführung – das „Produkt“ – und darüber hinaus findet Produktion statt. Die Aufführung bildet vielmehr nur einen Moment im Prozess der Produktion, der zwar am leichtesten wahrzunehmen ist, jedoch von vergleichsweise geringem Umfang ist. Ziel meines Promotionsprojekts ist es, den Blick von der Zentralstellung der Aufführung, vom „Produkt“ weg und hin zum Herstellungsprozess, hin zur Produktion zu richten.

Du kennst das Leben als Stipendiatin und Kollegiatin im GRK 1678. Worin liegen für dich die Differenzen zwischen Stipendium und Kollegiat?

Der größte Unterschied zwischen Stipendium und Kollegiat ist für mich ganz klar die Zeit, sich voll und ganz auf das eigene Projekt und das Angebot des GRKs konzentrieren zu können. Ich bin froh, dass ich zu Beginn meiner Promotion das Glück eines Stipendiums und damit Zeit und finanzielle Absicherung hatte. Durch das Stipendium hatte ich Zeit, an allen Veranstaltungen des Kollegs teilzunehmen und war immer und automatisch im Austausch mit den KollegInnen. Für dieses intensive Eingebunden-Sein in das Kolleg fehlt mir als Kollegiatin jetzt die Zeit. Ich arbeite seit einem Jahr als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg bei Gabriele Klein am Institut für Bewegungswissenschaft/Performance Studies, was für mich thematisch natürlich super ist. Meine Arbeit erlaubt es mir allerdings nicht mehr an allen Terminen des Kollegs teilzunehmen und auch der tägliche Austausch im Doktorandenraum fehlt. Aber glücklicherweise standen im letzten Jahr, im Gegensatz zu den ersten Semestern, relativ wenige Termine an, so dass es mir auch als Kollegiatin immer noch gut möglich war, vom Angebot des GRKs zu profitieren.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/421

Weiterlesen

Interview: Bernadette Burchard über materielle und immaterielle Kirchenschätze

Domschatz von Minden. © Bernadette Burchard, Düsseldorf

Mittelalterliche Kirchenschätze bestanden nicht nur aus kostbaren Materialien wie Gold und Edelsteinen. Auch handelte es sich bei Ihnen nicht um Kleinode, die nur unangetastet in dunklen, geheimen Verstecken lagerten. Wie die Schätze vielmehr durch immaterielle Vorstellungen und konkreten Praktiken konstituiert wurden, untersucht die GRK1678-Stipendiatin Bernadette Burchard in ihrem Dissertationsprojekt “Mittelalterliche Kirchenschätze Westfalens: Eine Analyse des Verhältnisses von Materialität, immateriellen Schatzvorstellungen und Schatzpraktiken anhand der Domschätze von Münster und Osnabrück und ihrer schriftlichen Überlieferung”. Lesen Sie im folgenden Interview von den Verhältnissen zwischen Materialität und Immaterialität bei Kirchenschätzen und Bernadette Burchards Arbeit im GRK1678.

Liebe Bernadette, wie entstand Dein Interesse an “Materialität” und “Produktion”?

Mein Interesse für Fragen der “Materialität” und “Produktion” entwickelte sich schon während des Studiums. Neben meinem Hauptfach Geschichte des Mittelalters habe ich auch Kunstgeschichte studiert. Außerdem besuchte ich nebenbei Veranstaltungen in Fächern wie Archäologie oder Ur- und Frühgeschichte, die den Fokus auf den Sachquellen haben. In der Kunstgeschichte hat mich die Kunsttechnologie immer besonders angesprochen, denn wenn man um die Produktionsprozesse weiß, bekommt man einen ganz anderen Blick auf die Gegenstände. Es war daher kein Zufall, dass ich in meiner Dissertation zu den mittelalterlichen Kirchenschätzen neben den klassischen Quellen des Historikers auch die Sachquellen, also die Kirchenschätze selbst, in die Untersuchung miteinbeziehen möchte.

Die mittelalterlichen Kirchenschätze von Münster und Osnabrück sind Dein Forschungsobjekt. Du gehst aber davon aus, dass immaterielle Konzepte von ‚Schatz’ die tatsächliche Herstellung von Kirchenschätzen beeinflussten. Könntest Du uns hierzu ein Beispiel nennen?

Das wichtigste Schatzkonzept des Christentums ist immateriell, gemeint ist die christliche Lehre als der größte Schatz. Damit einher geht eigentlich die Ablehnung materieller Reichtümer. Das Gleichnis vom Kamel, das eher durch ein Nadelöhr passt, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt (Mt 19, 24; Mc 10, 25; Lk 18, 25), ist hier bezeichnend. Allerdings benutzt auch die Bibel eine Bildsprache in der kostbare immaterielle Dinge mit kostbaren materiellen Dingen gleichgesetzt werden, z. B. gleicht die christliche Lehre einer Perle (Mt 13, 46). Das himmlische Jerusalem besteht aus Gold und Edelsteinen (Apc 21, 18-20). Diese Bildsprache wurde in den Kirchenschätzen umgesetzt. Deshalb wurden bspw. die Gebeine von Heiligen, die zu Lebzeiten materiellen Reichtum abgelehnt hatten, in Behälter aus Gold und Silber gegeben. Es war ein didaktisches Mittel, um ihre Heiligkeit augenscheinlich zu machen, das im Grunde noch aus der Antike stammte, in der Reichtum sozialen Status bzw. Macht darstellte. Das Armutsgebot wurde jedoch nie ganz vergessen, so gebot es die christliche Caritas (Nächstenliebe), dass der Kirchenschatz in Notsituationen für die Gläubigen eingesetzt werden sollte. Für die materiellen Kirchenschätze bedeutet dies im Umkehrschluss, dass sie einen hohen ökonomischen Wert haben können, aber niemals müssen.

Neben der Materialität und Produktion von Schätzen interessiert Dich auch der Umgang mit Schätzen. Was wurde mit den Kirchenschätzen angestellt?

Kirchenschatzobjekte waren in die verschiedensten Funktionszusammenhänge eingebunden und eigentlich mit allen Bereichen des Lebens verknüpft: Als liturgische Geräte waren sie unverzichtbar für den Gottesdienst. Gestiftete Ensemble und Einzelstücke dienten der Memoria ihrer Stifter. Dabei ging es nicht nur darum etwas für das eigene Seelenheil zu tun, sondern auch seinen gesellschaftlichen Status zu präsentieren und zu konservieren. Im Kirchenschatz als Ganzem spiegelte sich die spirituelle, politische und soziale Identität der Gemeinde. Seine verschiedenen Funktionen trugen dazu bei, dass sich ein Kirchenschatz in einem permanenten Wandel befand, also gerade kein Schatz im Sinne eines Hortes, Piratenschatzes oder heute Museumsobjektes war.

Das GRK ist nicht nur interdisziplinär, sondern umfasst auch verschiedene historische Epochen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wie erlebst Du die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Disziplinen und Fachbereichen?

Für mich ist das GRK ein großartiger Rahmen, um die eigenen Forschungsfragen interdisziplinär zu diskutieren und somit den eigenen Horizont zu erweitern. Dabei wird auch das gegenseitige Verständnis geschärft, indem man die Unterschiede, aber auch die Schnittmengen der verschiedenen Disziplinen und Epochen auslotet. Häufig bekommt man Anregungen und Ideen aus Richtungen mit denen man nicht gerechnet hätte. Das empfinde ich als sehr bereichernd.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/413

Weiterlesen

Interview: Prof. Alain Schnapp über die Vergangenheit und Zukunft der Archäologie

HdU-Herbst-2014

"Dans nous-mêmes, la meilleure manière fidèle est de se servir sucessivement des tous nos sens pour considérer un objet ; et c'est faute de cet usage combiné des sens, que l'homme oublie plus de choses qu'il n'en retient." (Georg Luis Leclerc Buffon, Oeuvres choisies de Buffon, Bd. 2, Paris 1859, S. 293)

Seit 2006 verleiht die Meyer-Struckmann-Stiftung jährlich einen Wissenschaftspreis für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung in Zusammenarbeit mit der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und dem Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. 2014 erhielt der Archäologe und Kunsthistoriker Prof. Alain Schnapp, Kooperationspartner und Unterstützer des Graduiertenkollegs GRK 1678 seit der ersten Stunde, die mit 20.000 Euro dotierte Auszeichnung für seine über die Grenzen des Faches der klassischen Archäologie hinausgehende Forschungsarbeit. Im folgenden Interview nähert er sich den zwei Schwerpunktbegriffen des Graduiertenkollegs aus Sicht der Archäologie.

 

Gibt es in der Klassischen Archäologie einen Produktionsbegriff?

Es gibt einen Produktionsbegriff in der Klassischen Archäologie. Er entstammt der Zeit der Wiener Schule der Kunstgeschichte Ende des 19. Jahrhunderts. Alois Riegl verwendete ihn erstmals in seinem Buch „Die spätrömische Kunstindustrie“. Seit diesem Werk gibt es überhaupt erst ein Bewusstsein für den technischen Produktionsprozess z.B. griechischer oder römischer antiker Monumente – sei es in der Architektur, der Skulptur oder der Keramik. Ranuccio Bianchi-Bandinelli und seine Schüler entwickeln Riegls Herangehensweise in Anlehnung an den Marxismus für die Archäologie weiter. Von der Beschäftigung mit dem Produktionsbegriff in Bezug auf die griechische Kunst zeugen vor allem die Arbeiten von Wolf-Dieter Heilmeyer und Francis Croissant, die die Produktionstätigkeit der Bildhauer in den Mittelpunkt der Forschung stellen. Luca Giuliani, Dyfri Williams und François Lissarrague haben insbesondere die Produktion von Bildern auf griechischen Vasen für die Archäologie fassbar gemacht.

In Ihrer Forschung gehen Sie über die Klassische Archäologie hinaus und setzen Ausgegrabenes, Bilder und Objekte mit zeitgenössischen Schriftquellen und Texten in Verbindung. Entsteht durch diese Methode eine spezielle Materialität bzw. Immaterialität der Archäologie?

Die Erforschung der Beziehungen der Menschen zu ihrer Vergangenheit versucht stets zwei Aspekte des Vergangenheitsinteresses zusammenzubringen: An erster Stelle steht die materielle Spur der Geschichte;  Ruinen und antike Fragmente bspw. beweisen die Materialität der Vergangenheit. An zweiter Stelle steht der immaterielle Prozess der Erinnerung, der die Vergangenheit miterzeugt. Die Poetik ist sein Werkzeug. Die Dichter behaupten, dass ihre Kunst – weil sie immateriell ist – ein sichereres Mittel als das der Monumente sei, um Erinnerungen zu bewahren. Ein Gedicht ist resistenter als ein Stein oder eine Pyramide: „libelli vincunt marmora monumenta (elegiae in maecenatem).“ Die Dialektik zwischen Schriftlichem und Nichtschriftlichem/Materiellem und Immateriellem ist ein Problem der Archäologie und beeinflusst sie enorm, aber macht sie auch aus.

Schreiben Sie eine Archäologie der Archäologie, wie es Dekan Bruno Bleckmann bei der Meyer-Struckmann-Preisverleihung formulierte?

Meine Forschung gehört zur Archäologie der Archäologie, doch nicht im Sinn von Michel Foucault, nämlich Archäologie als etwas, das in seiner Struktur die verschiedensten Reliquien der Vergangenheit darbietet. Ich versuche, den Diskurs unterschiedlicher Gesellschaften über die Vergangenheit zu erforschen.

Denken Sie, dass ein Wissenschaftsblog/die Plattform hypotheses.org im Sinne Buffons zu einem Archiv der geisteswissenschaftlichen Welt werden könnte? Was wäre dann die Aufgabe der Archäologie der Zukunft?

Sicher bietet das Internet zahlreiche, neue Möglichkeiten, an Dokumente und Texte zu kommen, aber die Struktur der humanistischen Forschung bleibt dieselbe. Jede neue Technik eröffnet eine neue Forschungslandschaft. Die Aufgabe zukünftiger Archäologen könnte sein, sich darin zu orientieren. Von der Archäologie der Zukunft wissen wir nicht viel mehr, als dass z.B. durch das Internet viel mehr Material vorhanden sein wird. Allerdings wird auch in der Zukunft das Equilibrium zwischen Erinnerung und Vergessen bestehen. Mit Charles de Montalembert gesprochen: „La mémoire du passé ne devient importune que lorsque la conscience du présent est honteuse.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/327

Weiterlesen

Interview: Giulia Ghionzoli über die Aktualität von Don Juan-Figuren und ihre Arbeit am GRK 1678


dongiovannidramm00moza_page_022 Die Formung eines Körpers ist immer eine Begegnung der konkreten Materie mit immateriellen Ordnungspraktiken wie Moral, Gesundheit oder Vernunft. Von dieser Prämisse geht Giulia Ghionzoli in ihrem Disserationsprojekt "Die Figur des Don Juan als Experiment: Übergänge zwischen Rematerialisierung und 'creatio'/Schöpfung" aus. Ins Blickfeld rückt in ihrer Forschung nicht nur die biopolitische Wende der europäischen Kultur um 1800, sondern auch die Kreativitätsprozesse, denen die fortwährende Auseinandersetzung mit den Verhältnissen von Materie und Norm eingeschrieben sind. Mehr zu historischen und aktuellen Don Juan-Figuren sowie der Arbeit im GRK 1678 erzählt Giulia Ghionzoli im folgenden Interview. 

 

Liebe Giulia, wie entstand Dein Interesse am Zusammenhang von "Materialität“ und "Produktion“?

Das Körperliche zeigte sich am Ende der Recherche für meine Master-Arbeit als grundlegendes Element des Don Juan-Mythos und bildete zugleich den Ausgangpunkt für eine innovative Forschung zu dieser Figur. Die Problematisierung des Körpers, die jeder Lebensform inhärent ist, führt notwendigerweise zur Reflexion der Begriffe "Materialität" und "Produktion" sowie über ihre Relation und Interaktion. Don Juan verkörpert den Kampf, in dem die Kraft des Lebendigen antritt (man denke an die schöpferischen Prozesse sprachlicher und künstlerischer Art) und die Dominanz der Form unterbricht bzw. provoziert. Damit ist auch die Macht über das Leben gemeint, die die Ordnungen des Wissens wie z.B. Religion, Moral, Politik usw. mit ihrem regulierenden Charakter durchsetzen.

In Deinem Forschungsprojekt schreibst Du über den subversiven Charakter von Don Juan-Figuren. Sie widersetzen sich mit ihrer Sinnlichkeit und ihren Exzessen einer aufgedrängten Normierung wie Moral, Sitte, Vernunft oder Recht. Besitzt dieses Konzept auch 2014 noch Wirkungskraft? Peter Handkes Don Juan-Figur von 2004 z.B. war bereits sehr müde und abgekämpft.

Die Artikulation des Kampfes zwischen gesellschaftlichen Regulierungsdynamiken einerseits und von Don Juan erzeugten De-Regulierungsprozessen andererseits nimmt in den verschiedenen historischen Kontexten zwar immer eine neue Form ein, jedoch bleibt der subversive Charakter der Figur des Don Juan bis zum 21. Jh. aktuell.

Am Ende des 18. Jh. setzt Don Juan von da Ponte/Mozart zweifellos eine Zäsur in der Tradition dieses Mythos, die mit Tirso de Molina begann und die später bei Molière eine wichtige Fortsetzung fand. Ab diesem Moment wird eine andere Art Subversion dargestellt, nämlich eine, die auf Prozesse der "Entmaterialisierung des Körperlichen“ basiert, und im Kontext der Romantik Dynamiken transzendentaler Art anstrebt. Man denke z.B. - noch vor Peter Handke - an E.T.A. Hoffmanns Don Juan am Anfang des 19. Jh., in dem Don Juan nach dem Unendlichen und der Idealität (als Fluchtweg aus Nützlichkeitsdenken und Sicherheitsstreben der Bourgeoisie) strebt, die er nun für einen Augenblick durch den Somnambulismus erreichen kann. Diese Art Wahn subversiven Charakters ist als Macht des Lebendigen zu betrachten. Diese lässt sich auch bei Peter Handke aufzeigen, bei dem es zwar nicht um die Potenz verführerischer Künste geht, aber um die Affektkraft. Der Erzähler bei Handke sagt selbst, dass "es jetzt um keine Verführung mehr ging […]. Er [Don Juan]hatte eine Macht. Nur war seine Macht eine andere.“[1] Es handelt sich nun um eine Macht, die von einem Blick erzeugt wird, der die Frauen affektiert, um einen "Blick, der handelte“[2].

Inwiefern profitierst Du als Doktorandin vom GRK 1678?

Aufgrund der Vertiefung theoretischer Diskussionen habe ich die Gelegenheit, neue, bedeutende Impulse zu erhalten und diese furchtbar umzusetzen. Außerdem habe ich die Möglichkeit, meine Kenntnisse in den theoretisch, methodisch und thematisch relevanten Bereichen zu erweitern. Wichtig sind dabei die interdisziplinäre Gruppe und die Konfrontation mit anderen Fragestellungen und Methoden.

[1] Handke, Peter: Don Juan (erzählt von ihm selbst), Frankfurt a.M. 2004, S. 73.

[2] Ebd., S. 75.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/306

Weiterlesen

„Warum sehen wir Tiere an?“

LP_Dion_Collector_300

Mark Dion: The Tar Museum - Collector, 2006
Foto: Achim Kukulies, © KAI10/Arthena Foundation

Diese Frage stellt John Berger in Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens[1] und verweist darauf, dass wir nirgendwo Tiere sehen, obwohl wir überall dem Tier als Motiv ausgesetzt sind. Das Tier ist – so Berger – die erste Metapher für das Verhältnis zwischen Mensch und Tier, weil ihre Beziehung eine Metaphorische ist. Die Begegnung von tierischem und menschlichem Blick konstituiert erst Differenz und Gemeinsamkeit. Mit der Düsseldorfer Ausstellung Lost Paradise greifen die Kuratoren Zdenek Felix und Ludwig Seyfarth das duale Verhältnis zwischen Mensch und Tier auf und stellen in KAI 10 fünf Positionen zeitgenössischer Kunst zum Thema vor. Im Folgenden widmen wir uns drei Exponaten, die uns besonders relevant für das Tier-Mensch-Verhältnis erscheinen.

I.

In Stefan Panhans' Video If A Store Clerk Gave Me too Much Change sehen wir einen Menschen in einem Schlafsack liegen. Also kein Tier. Was wir aber entschlüsseln können, ist der Verweis auf den Kokon oder die Raupe. Das Verhältnis von Metapher und Tier wird hier auf den Kopf gestellt. Das Tier wird doppelt metaphorisch: Zuerst, indem es als Nicht-Anwesendes durch die Konfiguration der Ausstellung und durch die Inszenierung im Film zitiert wird. Denn das, was wir sehen ist eine Metapher, die auf das Tier verweist. Gleichzeitig ist es das Tier, das das Sichtbare zum Sprechen bringt, in dem es das Werk mit Bedeutung auflädt. Das Tier als Metapher. Es ist abwesend und anwesend zugleich.

Panhans_storeclerk_still_1

Stefan Panhans: If A Store Clerk Gave Me too Much Change, 2009
Filmstill, © KAI10/Arthen Foundation

In dem Text, den die Person im Schlafsack aufsagt, geht es um die Perfektionierung des Selbst, die Selbstoptimierung und die Ausschöpfung der Möglichkeiten in Zeiten des Kapitalismus. Er scheint durch die Person hindurchzufließen. Die eingeschränkte Beweglichkeit im Schlafsack verstärkt diesen Eindruck. So wie der Text durch die Bewegungslosigkeit der Person fließt, fließt er auch durch die Tiermetapher. An dieser Stelle zeigt sich, wie der Zuschauer selbst zum Bezugspunkt wird. Durch die Konfrontation mit dieser doppelten Distanzierung von Bewegungslosigkeit und Tier-Werden sehen wir uns in dieser Situation auf zwei Ebenen hinterfragt: Unterliege ich diesem mir vorgeführten Optimierungszwang? Und: Warum kann ich dort ein Tier sehen?

II.

LP_Installationsansicht_Volkova_Shevelenko_300

Marta Volkova & Slava Shevelenko: From The Life Of The Beetles
Foto: Achim Kuklies, © KAI10/Arthena Foundation

Die neue Gattung transformativer Käfer, die Marta Volkova und Slava Shevelenko uns in ihrer Arbeit From The Life Of The Beetles vorstellen, ist wunderbar bunt. Es scheint, als hätten wir es hier mit Tieren zu tun. Doch wie wir sehen, sind diese Tiere kleine Keramikplastiken, die gleichsam Hybride darstellen: Sie haben die Fähigkeit der Aneignung perfektioniert. Wir sehen die Dokumentation Gegenstand-Werdens. Diese Ding-Käfer sind deshalb so interessant, weil sie den Menschen ausschließen. Ihre Verwandlungsfähigkeit ist völlig unabhängig vom Menschen. Sie reproduzieren zwar die von Menschen geschaffenen Gegenstände, wirken demnach wie ein Speichermedium, treten aber dadurch erst in ihrer Form ins Leben. Sie stellen eine Symbiose von Tier und Ding dar. Nur noch als stiller Sammler kann der Mensch dieser Kunst habhaft werden. Und vielleicht sagt gerade das sehr viel über das Tier-Mensch-Verhältnis aus.

III.

LP_Zink_Yi_Archetheutis_300_2

David Zink Yi: Untitled (Architeuthis) (ref 1), 2013
Foto: Achim Kukulies, © KAI10/Arthena Foundation

David Zink Yis Riesenkalmar (Untitled (Architeuthis) (ref 1)) liegt ausgelaufen auf dem weißen Boden des Ausstellungsraums. Ein totes Tier. Den Lebenshauch, die Tinte wie Blut vergossen und ausgepumpt. Von Ferne spielt dieses Tier auf Victor Hugos Illustration Kampf mit dem Tintenfisch an. Hugos Tintenfisch, kampfbereit die Tinte versprühend, sich einnebelnd gleichsam die Initialen des Autors mit den Armen formend, scheint auf den Schreibprozess und den Kampf mit dem Wort, mit dem Zeichen zu verweisen. Unser Tintenfisch, der kein Tintenfisch ist, sondern der unsichtbare Riesenkalmar, das Monster der Tiefsee, das hier tot auf dem Boden drapiert liegt, ist natürlich kein echtes Tier. Die Präsenz, die der tote Körper ausstrahlt, und die Tinte, die er vergossen hat, sind überaus verstörend und es wirkt, als habe sich das Leben über den Fußboden verteilt. Was bleibt ist die leere Hülle, eine Metapher ohne Bedeutung, ein Rest: das Tier.

Scheinbar können wir, wenn wir uns Tiere anschauen, nur schwer Tiere sehen, obwohl wir in allem und jedem plötzlich Tiere sehen. In einem Menschen in einem Schlafsack, in Keramikfiguren, die zu krabbeln anfangen, wenn sie wie Käfer drapiert sind und in einem Riesenkalmar aus Ton, der leblos auf dem Boden liegt. Wir sehen nicht die Materialien, wir sehen in erster Linie Bilder und Tiere als Bilder. Die Metapher von der Metapher.

Am nächsten sind wir dem Tier als totes Tier gekommen. Auch hier ist es eine andere Materie, geformt zu dem, was sie darstellen soll. Aber von ihr geht dennoch etwas Tierisches aus. Etwas, das wir als das Andere, den Gegensatz zum Menschen wahrnehmen. Eine starke Grenze, eine Dichotomie von Mensch und Tier, die so schwer zu überwinden ist. Wir werden vom Tintenfleck abgehalten zum Leichnam vorzudringen – wir erreichen das Tier nicht. Der verfranzte Ölfleck kann nicht überschritten werden, um Kontakt aufzunehmen.

Immer scheinen wir im geschlossenen Reflexionszirkel auf uns selbst zurückzukommen. Doch das Besondere ist, dass Tiere einen bestimmten Reflexionsmodus provozieren. Ein Infragestellen des Menschseins, ein Infragestellen der Natur-Kultur-Differenz. So wie der tote Kalmar eine Provokation ist – nicht nur, weil er tot ist, sondern, weil er ein Monster, das Andere, das Tier ist –, so verstehen wir vielleicht, welche Provokation der Mensch selbst ist. Für sich und seine Umwelt. Wenn er die Grenzen zieht. Denn auch das tote Tier blickt uns an.

Martin Bartelmus & Linda Walther

Ausstellung: Lost Paradise, KAI 10 (bis 21.02.15)
Künstlergespräch: 15.01.15, 19 Uhr
Finissage+Kuratorenführung+Katalogpräsentation: 21.02.15, 15-17 Uhr

[1]    Berger, John: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin 1995, S. 12.

 

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/290

Weiterlesen

Interview: Arne Leopold über Kästchen, Material und Promotion

Leopold, A

© Arne Leopold, Düsseldorf

Viele Sammlungen mittelalterlicher Kunst sind in Besitz von aufwändig verarbeiteten, nicht selten wertvollen Kästchen. Herkunft und Alter, Funktion und Verwendung sind aber oft gar nicht oder nur mangelhaft geklärt. Hier setzt Arne Leopolds Dissertationsprojekt "Studien zur Materialität geschnitzter Kästen im Hoch- und Spätmittelalter" an, das diese Objekte aus einer materialorientierten Perspektive untersucht. Wie Arne Leopold dabei vorgeht, wieso ihn Materialität und Produktion interessieren und was er über das Promovieren im GRK1678 denkt, lesen Sie im folgenden Interview.

Lieber Arne, was interessiert Dich an "Materialität" und "Produktion"?

Für die Kunstgeschichte waren das Material des Werkes und dessen Verarbeitung bisweilen sekundär zu betrachtende Parameter in ihrem methodischen Vorgehen und ihrer generellen Perspektive. Doch gerade über stilistische Vergleiche und motivgeschichtliche Betrachtungen hinweg eröffnet die Untersuchung der materiellen Spuren und Voraussetzungen neue Aspekte und Fragestellungen. In meiner Arbeit denke ich Materialität nun zum einen materialikonographisch und zum anderen in ihrer Multiplizität als Intermaterialität. Für letztere und in jüngere Zeit intensiver behandelter Ausrichtung ist äußerst interessant, wie die Kombination zweier oder mehrerer Materialien und die Imitation eines Materials durch mindestens ein anderes eigene Materialitäten inne haben können, die weder dem einen noch dem anderen Material eigen sind. Dies ist aber ohne den produktiven Aspekt, sprich der technischen Umsetzung des Kombinierens und Imitierens im Sinn einer Kunstfertigkeit, nicht denkbar.  Dementsprechend lassen sich die beiden Begriffe – auch gemäß dem offiziellen Titel des Forschungskollegs – viel besser zusammen als „Materialität UND Produktion“ fassen.

In deiner Dissertation beschäftigst du dich mit Kästchen im Hoch- und Spätmittelalter. Welche Materialen haben eine besondere Bedeutung bei ihrer Produktion?

Jeder Stoff, der im Herstellungsprozess eines Objektes – und darüber hinaus – als Material deklariert und verwendet wird, hat eine gewisse Bedeutung für das Ergebnis dieses Prozesses, die Konstitution des Objektes, bis hin zu seiner sich wandelnden Wahrnehmbarkeit. Es haben sich aus Hoch- und Spätmittelalter ganz unterschiedliche Kästen aus diversen Materialien erhalten: Im Fokus vieler Untersuchungen standen aber bislang eher offensichtlich kostbare Materialen wie Gold, Elfenbein oder Edelsteine. Letztlich sind aber die wenigsten Kästen homogen aus einem dieser Luxusmaterialien gefertigt. Ihnen ist in der Regel ein Korpus aus Holz – eine Art hölzerne Grundlage – eigen, welche allerdings seltener Beachtung findet. Bei Kästen, deren Schauseiten selbst aus Holz gearbeitet sind, tritt die Relevanz dieses Materials umso deutlicher hervor. Gerade diese Kästen und damit insbesondere Holz stehen im Mittelpunkt meiner Untersuchungen. Zudem finden ebenso metallischen Beschläge, vornehmlich aus Bronze oder Eisen, sowie farbliche Fassungen Einzug in die Arbeit, soweit diese als ursprünglich zu bezeichnen sind.

Eine These deines Forschungsprojekts ist, dass mithilfe des Materials Rückschlüsse auf Produktion und Funktion der Kästchen gezogen werden können. Kannst du genauer ausführen, wie du methodisch vorgehst?

Sowohl das Material als Spur der Vergangenheit als auch die Spuren der Bearbeitung am Material lassen Rückschlüsse auf die Entstehung von Kunstwerken zu: In einem ersten Schritt untersuche ich die Bedeutung einzelner Materialien, vornehmlich Holz und Elfenbein im Zeitraum des 12. bis 14. Jahrhunderts. Nach der Bestimmung der verwendeten Materialien und einer kurzen Analyse der derzeit bekannten, vornehmlich naturwissenschaftlich zusammengetragenen Informationen zu ihren Eigenschaften, stelle ich mithilfe schriftlicher Quellen entsprechende zeitgenössische Begriffe, Informationen und Bedeutungszuweisungen heraus. Zudem versuche ich auf unterschiedlichen Wegen ihre Herkunft einzugrenzen, was sich für einzelne Holzarten als nicht ganz einfach darstellt. Es geht letztlich darum, herauszufinden, warum bestimmte Materialien häufiger für die Herstellung von Kästen verwendet wurden als andere und zu welcher Zeit Veränderungen feststellbar sind. In einem zweiten Schritt verwende ich die gewonnen Erkenntnisse und setzte sie in Bezug zu den Produktionspuren an den Objekten. Welche Materialien wurden wie miteinander kombiniert? Lässt sich eine Rationalisierung in den Arbeitsschritten ablesen, etwa im Sinn einer massenhaften Produktion? Sind die Materialien so verarbeitet, dass sie ihren eigenen spezifischen Materialcharakter zeigen, oder wurde versucht, ihnen eine fremde Identität durch verschiedene Arbeitsschritte zu verschaffen? Mögliche Spannungen zwischen Materialwert (ideell wie monetär) und dem Grad der Kunstfertigkeit können so zum Beispiel Aussagen über die Wertschätzung der (künstlerischen) Arbeit und folglich auch über die Stellung des Handwerker-Künstlers liefern. Ebenso können Auftraggeberkreise eingegrenzt werden: So lassen sich etwa Materialimitationen an manchen Kästen in den Kontext der Imitationen respektive einem Nacheifern des Hochadels durch niedere Adelsstände setzen.

Inwiefern profitierst Du als Doktorand vom interdisziplinären Graduiertenkolleg "Materialität und Produktion"?

Besonders der Einblick in Methoden und Diskurse anderer Disziplinen wäre im Rahmen einer Individual-Promotion niemals auf der qualitativen Ebene erfolgt, wie es das Graduiertenkolleg leistet. Dabei können natürlich nicht alle Diskussionen für das eigene Thema in gleichem Maß fruchtbar gemacht werden, aber gerade die Auseinandersetzung mit dem Unbedachten stellt die Arbeit und Herangehensweisen immer wieder auf den Prüfstand und verändert diese eben bisweilen auch. Die Möglichkeiten, neue Ideen im großen wie im kleinen Kreis zur Debatte zu stellen oder für kleinere Probleme eine tägliche Anlaufstelle im zumeist disziplinär bunt gemischten Doktorandenraum zur Verfügung zu haben, sind für den Fortschritt und die Entwicklung der Dissertation gleichermaßen großartig wie essentiell.

Mit dem reichhaltigen Angebot von Weiterbildungsmöglichkeiten in diversen Schlüsselkompetenzen oder Fremdsprachen wird einem darüber hinaus ein mittlerweile etablierter Standard der zunehmend strukturierter organisierten Promotionsstudiengänge von Beginn an in die Hand gegeben. Es wäre zudem vermessen, die finanziellen Vorzüge zu verschweigen. Dabei ist insbesondere die Sicherheit, sich einen längeren Zeitraum nicht den Kopf über das nächste Einkommen zerbrechen zu müssen, die größte Freiheit für selbigen.

Interview: Aude-Marie Certin

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/277

Weiterlesen

Filmproduktion im Museum – Wael Shawkys „Cabaret Crusades“

Wael Shawky bei Dreharbeiten

Wael Shawky bei den Dreharbeiten im K20 im Oktober 2014.
Foto: Kunstsammlung, © Kunstsammlung NRW

In der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (K20) ist zurzeit eine Einzelausstellung des Ägypters Wael Shawky zu sehen. Der 1971 in Alexandria geborene Künstler präsentiert dort sein Filmprojekt "Cabaret Crusades", das während der dOCUMENTA (13) im Jahr 2012 viel Beachtung erfahren hat und auf Amin Maaloufs Buch "Der heilige Krieg der Barbaren. Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht" von 1983 basiert.

In Shawkys dreiteiliger Arbeit sind Marionetten Akteure der historischen Geschehnisse der Kreuzzüge vom ausgehenden 11. bis ins frühe 13. Jahrhundert: Der erste, in Italien produzierte Teil "The Horror Show File" (2010) stellt die Geschichte des Ersten Kreuzzugs von 1095 bis zur Einnahme Jerusalems durch die Franken im Jahr 1099 dar. Die Protagonisten – in dem Fall kostbare Holzmarionetten aus dem 18. Jahrhundert – vertont Shawky wie auch in den beiden weitern Filmen in Hocharabisch. In dem zweiten, in Frankreich entstandenen Teil "The Path to Cairo" (2012) spielen detailreiche, handgefertigte Marionetten aus Keramik die Ereignisse der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts nach, in der den Muslimen mit der Einnahme von Edessa 1144 ein wichtiger Schlag gegen die europäischen Kreuzritter gelingt. Und in dem letzten, längsten und aufwendigsten der drei Filme – "The Secrets of Karbalaa" (2014) – führen eigens für das Projekt auf Murano produzierte Glasmarionetten den Zweiten und den Dritten Kreuzzug im 12. Jahrhundert auf. Die Trilogie endet mit der Zerstörung Konstantinopels durch venezianische Kreuzfahrer im Jahr 1204.

Wael_Shawky_Puppe

Marionette aus Murano-Glas für den dritten Teil "The Secrets of Karbalaa".
© Achim Kukulies / © Kunstsammlung NRW

Shawky thematisiert mit seinen Filmen – und zwar bereits vor dem Ausbruch des Arabischen Frühlings 2010/11 – die Konflikte im Nahen Osten, deren Schauplätze damals, vor rund 1000 Jahren, wie heute Aleppo, Bagdad und Damaskus sind.Mit dem Perspektivenwechsel, nämlich der Schilderung der christlichen Kreuzzüge aus arabischer Sicht, wirft der Künstler Fragen nach den Mechanismen und Konstruktionen der Geschichtsschreibung auf. Auch die Darsteller, die an Schnüren geführten, ferngesteuerten Marionetten, unterstützen diesen Aspekt: Wer eigentlich sind die Fädenzieher?

Was interessiert nun uns, Mitglieder des GRK1678 an dieser Ausstellung? Das für uns Besondere an der Düsseldorfer, von Doris Krystof kuratierten Schau ist die Tatsache, dass der dritte Film "The Secrets of Karbalaa" während der Ausstellung im Museum produziert wurde – sichtbar für alle Besucher. Die Grabbehalle des K20 wurde dafür dreigeteilt: In einem Kinosaal sind die beiden ersten Teile der "Cabaret Crusades" zu sehen. Darüber hinaus sind einige der Keramikmarionetten aus dem zweiten Teil in Vitrinen präsentiert, und den größten Teil der Ausstellung nimmt das eigens für die Shawky-Produktion eingerichtete Filmstudio ein. Gut einen Monat lang hat ein etwa dreißigköpfiges Team – Künstler, Kulissenbauer, Beleuchter, Marionettenspieler, Kostümbildner, Techniker – dort akribisch an dem Projekt gearbeitet. Wer im Oktober das Museum besuchte, konnte durch eine Glasscheibe in das Studio blicken und den Betrieb beobachten: Manchmal wurde laut gehämmert, manchmal lag der Geruch von Weihrauch in der Luft, weil für die Filmhandlung Rauch benötigt wurde. Der Künstler gab seine Anweisungen, die Kulisse wurde umgebaut, Marionetten wurden angekleidet. Alles unter den Blicken der Besucher. Das Museum als Herstellungsstätte, als Ort der Produktion, als temporäres Künstleratelier. Der Herstellungsprozess, der kreative Akt als öffentliches, als ausstellungswertes Ereignis.

Inzwischen ist der Dreh abgeschlossen, das Studio aber bleibt weiter ausgestellt: Eine aufwendig gestaltete Drehbühne, technisches Equipment, Werktische, Regale voller Requisiten und vor allem die bizarren Glasmarionetten in ihren auf den Leib geschneiderten Kostümen sind weiterhin sichtbar und zeugen von einem einzigartigen Experiment.

Der Film befindet sich zurzeit in der Postproduktion, am 04.12.14 wird er im Düsseldorfer Schmela Haus uraufgeführt – wir sind gespannt!

Linda Walther & Anja Gottwaldt

Uraufführung: "The Secrets of Karbalaa", 04.12.14, 19:00 Uhr, Schmela Haus

Ausstellung: "Wael Shawky. Cabaret Crusades", bis 04.01.15, Kunstsammlung NRW (K20)

Konferenz: "The Art of Making History", 11. + 12.12.14, Schmela Haus

Ausstellungskatalog: "Wael Shawky. Cabaret Crusades", Kerber Verlag

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/243

Weiterlesen