Johannes Taulers Verständnis von Demut (II)

Taulers Verständnis der Demut

Die zentrale Grundvoraussetzung dafür, die Vereinigung mit Gott zu erfahren bzw. dafür, dass der Mensch zu Gottes Grund und Gottes Innerstem gelangen kann, besteht nach Tauler darin, dass der Mensch in „luterre demuͤtkeit“1 auf seinen grunt und in sein Innerstes geht.2 Zudem soll sich der Mensch vor Gott seiner eigenen Fehlerhaftigkeit, Sündhaftigkeit3 und Nichtigkeit bewusst sein, um sich in diesem Bewusstsein unter die Pforte der großen Ehrwürdigkeit Gottes zu legen, „wo Gott in Barmherzigkeit ausfließt“.4 Die Selbsterkenntnis des Menschen über seine eigene Nichtigkeit führt Tauler auch in weiteren Predigten aus.5 Tauler weist darauf hin, dass in der Schöpfungsgeschichte der Mensch von Gott aus Nichts erschaffen wurde.6 Als Werkmaterie sei dieses Nichts für Gott am besten formbar.7 Die Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit führt den Menschen geradewegs zur Empfänglichkeit und Bereitschaft für Gottes Wirken, der das Innerste des Menschen leert und sich darin eine Stätte bereitet.8

Ein beständiger Blick des Menschen auf die eigene Nichtigkeit und Niedrigkeit ermöglicht es dem Menschen außerdem, zur Wurzel der Demut zu gelangen und damit zur Höhe des Lebens vorzudringen. Gerade bei praktizierter Sünde9 wie aufkommendem Hochmut, Stolz und falscher Selbsteinschätzung ist die Rückbesinnung auf die eigene Niedrigkeit gegenüber der überragenden Größe Gottes dringend erforderlich: „So soll sich der Mensch vor allen Dingen in sein Nichts versetzen. Gelangt der Mensch auf den Wipfel aller Vollkommenheit, so hatte er es nie nötiger, niederzusinken in den allertiefsten Grund und bis an die Wurzel der Demut. Denn wie des Baumes Höhe von der tiefsten Wurzel herkommt, so kommt alle Höhe dieses Lebens aus dem Grunde der Demut“.10 Nach Tauler ist diese Rückbesinnung und das Sinken auf den tiefsten grunt keineswegs negativ konnotiert, sondern die Haltungen der Demut und des „Demütigsein[s] eröffnen vielmehr die unglaubliche Perspektive, in einer Beziehung Gott doch ein Äquivalent bieten zu können“.11 Tauler ermutigt in seinen Predigten dazu, im Vertrauen auf den tiefsten grunt zu sinken (V 45, S. 199, Z. 5: „Sink echt du: dir wirt das aller beste alles“) und sich der Unendlichkeit und Größe Gottes auszusetzen. Doch nur in der Tiefe der Demut und am tiefsten grunt ist dies für den Menschen auszuhalten.12 Nur so vermögen sich die „beiden Extreme, die hohe Herrlichkeit Gottes und die abgründige Demut des Menschen, […] durch ihre, wenn auch ungleiche, Unendlichkeit zu berühren“.13

Das von Tauler vorgegebene Ziel des Menschen, die Vereinigung mit Gott, und die von ihm beschriebene Gemeinschaft der beiden Extreme im tiefsten grunt beinhalten für den Menschen sowohl eine Abwärts- als auch eine Aufwärtsbewegung: Je tiefer die Erkenntnis des Menschen in die eigene Nichtigkeit wächst und seine Demut reicht (Abwärtsbewegung), desto tiefer kann Gottes Größe und Unendlichkeit – in für den Menschen aushaltbaren Maßen – erkannt werden (Aufwärtsbewegung). Beide Richtungen ermöglichen, nach Tauler, tiefere Einblicke in das göttliche wie auch das menschliche Sein.

Tauler umschreibt die Einblicke in das menschliche Sein folgendermaßen: Je tiefer der Einblick in Gottes Größe, desto tiefer die Erkenntnis der eigenen Niedrigkeit sowie das Versinken in das eigene Nichts: „Als der mensche dis gesmakt innerlichen, das tuͦt in versinken und versmelzen in sin eigen nicht und in sin Kleinheit ; wan so im ie klerlicher und bloslicher in lucht Gottes grosheit, so im ie bekentlicher wirt sin kleinheit und sin nichtkeit. Und do an sol man bekennen worheit dis goͤtlichen in lúchtens das es ein weselich in lúchten ist gewesen, nút in bilden oder in die krefte, sunder in den grunt der selen, do an das der mensche tieffer versinkt  in sin eigen nicht“.14 Die im grunt zum Vorschein tretenden sündhaften Haltungen und Tugenden sollen vom Menschen unter anderem mit tiefer Demut überwunden werden.15 Mit der tiefergehenden Demut des Menschen und der Liebe zu Gott geht eine „vollständige Aufgabe aller im Lichte Gottes klein und nichtswürdig erscheinenden Ichinteressen, -wünsche und –bedürfnisse“ einher und der Mensch besitzt „die ganz offene Bereitschaft, von Gott alles anzunehmen“.16 Die wachsende Demut des Menschen verbindet sich dann mit leidenschaftlicher Liebe und der Sehnsucht tiefer in Gottes Grund zu versinken.

In der Berührung der beiden Extreme von Gott und Mensch soll die Demut des Menschen ein solches Maß an Tiefe, Niedrigkeit und Selbstlosigkeit erreichen, dass ihr jegliches Bewusstsein ihrer eigenen Existenz fehlt.17 Tauler weist auf die Erforderlichkeit von selbstloser Demut hin, um vor aufkommendem Hochmut bei erlangter Demut zu warnen: „Dise demuͤtkeit die entsinkt al ze mole in ein abgrúnde und verlúret den namen und stet uf irem luterem núte und enweis nút von demuͤtkeit.“18 Im Zusammenhang mit dem Sündenbekenntnis mahnt Tauler, nicht in gemachter, das heißt, gestellter Demut vor Gott zu kommen, „denn diese ist eine Schwester der Hoffart“19. Weiterhin verweist Tauler auf Jesu Worte, selbstlos wie die Kinder zu werden: „Hielte der Mensch irgend etwas in sich für Demut, so wäre das falsch. Darum sprach unser Herr: „Wenn ihr nicht werdet wie dieses Kind, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen.“ Darum soll man von dem was wir tun nichts halten; denn unser Herr sprach: „Lasset die Kleinen zu mir kommen“.20

Ähnlich wie Jesus in Matthäus 19,30 das Paradoxon aufstellte: “So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten”, so wiederholt Tauler mehrfach in seinen Predigten den Leitspruch: „[…]so ie niderre, so ie hoͤher, und so ie minre, so ie merre (V 46, S. 206, Z. 4-5) „Je tiefer, um so höher; und je weniger, um so mehr“ 21 und stellt die Gleichung auf, dass die freiwillige Selbsterniedrigung spätere Erhöhung nach sich zieht: „Der sich nidert, der wirt erhoͤhet; ie niderre, ie hoͤher“.22 Auch erweitert Tauler dieses Paradoxon und erwähnt, dass am tiefsten grunt, dem Ort der Begegnung von Gott und Mensch, menschliche Maßstäbe von Höhe und Tiefe aufgehoben werden: „wan ie tieffer, ie hoͤher; wan hoch und tief ist do ein“23 bzw. „Denn je tiefer, desto höher, Höhe und Tiefe nämlich sind da [im tiefsten Grund]eins“ (Gnädinger 1993, S. 257 zu V 39, S. 162, Z. 18).

Tauler beschreibt die Notwendigkeit und Einzigartigkeit der gelebten Demut auf anschauliche Weise in seinem Bild vom Tal der Demütigkeit: „alle die uͤbunge die man mag iemer getuͦn uswendig, enist dem nút gelich das man habe den dal der demuͤtkeit“24. Dass andere Wege als der Weg zum Tal der Demütigkeit in die Irre führen, macht Tauler mit folgender Aussage deutlich: „Dis ist der rechte wore weg. Wele disen weg nút engont, die gont irre. Und  wie vil er uswendiger werke tuͦt, das enhilfet doch zemole nút, und si erzúrnent Got verre me denne si versuͤnen“.25 Tauler charakterisiert dieses Tal als den Ort des Wachstums von wichtigen Tugenden: „In dem tal do wachset senftmuͤtikeit, gelossenheit, stillikeit, gedult, guͤtlicheit“.26 Dass in diesem Tal Wachstum geschehen kann, verwundert nicht, soll doch Gottes Hoheit eigentlich und allermeist in das Tal der Demütigkeit blicken und in ihm sein Wirken vollbringen: „Gotz hochheit sichet eigenlichen und aller meist in das tal der demuͤtkeit“.27 Auch bezieht Tauler seine bereits erwähnte Gesetzmäßigkeit der Höhe und Tiefe auf seine Tal-Metaphorik: „So wo och das tal aller tieffest ist, da flússet des wassers aller meist“ bzw. „Gerade da, wo das Tal am allertiefsten ist, da fließt am meisten Wasser“.28 Auch hier gilt nach Tauler wiederum folgende Gleichung: Je tiefer das Tal bzw. die Demut, desto besser kann das Wasser fließen. Je tiefer das Tal der Demut ist, desto höher die Erhebung und Aufwärtsbewegung. Das Wasser deutet Tauler, ganz im Sinne der biblischen Metaphorik, als den Heiligen Geist, der sich „füllend überall dorthin“ ausgießt „wo er Raum findet“.29 In seinen Pfingstpredigten (V 26, V 27 und V 60e) führt Tauler seiner Zuhörerschaft eindrucksvoll und in bildlicher Sprache das Wirken des Heiligen Geistes im Menschen vor Augen. Der Heilige Geist „fúllet al zemole alle die enphengklicheit“30 des Menschen aus. Mit der Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten vor Augen, beschreibt er das Kommen des Heiligen Geistes mit einem zeitgenössischen Beispiel vom Hochwasser am Rhein: „Mit solch großem Reichtum und solcher Fülle und solchem Überfluß [kam er, der Heilige Geist,] und überflutete sie innerlich in gleicher Weise, als ob der Rhein in seinem Schuß und Wehr und Damm weg wäre. Wie er dann in ungehemmtem Lauf rauschend daherströmte und alles überschwemmte, als ob er alles ertränken und untergehen lassen wollte. Und er füllte alle die Täler und Gründe, die vor ihm lagen“.31 Gott füllt, laut Tauler, aus Gnade und durch seinen Heiligen Geist die Täler, Gründe, Tiefen, Herzen und Seelen, die sich ihm entgegengehalten und in denen er Raum findet, mit „Reichtum, mit Gnade, Liebe und Gaben, was unbeschreiblich ist“.32 Die Empfängnisbereitschaft des Menschen für den Heiligen Geist entspringt neben der Gelassenheit, Geduld, der Leere und innerlichen Gesammeltheit des Menschen, auch aus seiner Demut.33

Desweiteren weist Tauler in seinen Predigten unmissverständlich daraufhin hin, dass Demut auch im menschlichen Miteinander gelebt werden muss. Die Worte Jesu aus Lukas 9,48: Denn wer der Kleinste ist unter euch allen, der ist groß“ greift Tauler bereitwillig auf und weist darauf hin, dass jeder „seinen ganzen Fleiß“ darauf wenden soll, demütig bzw. „ganz klein und vernichtigt zu werden“, um von Gott in „in das Größte, in das Nächste und das Allerwürdigste […]“ das Gott hat, versetzt zu werden.34 Tauler zeichnet ein einfaches Prinzip: Je demütiger der Mensch ist, desto mehr kann Gott ihn mit seiner Gnade beschenken und damit erhöhen, je hochmütiger und weniger demütig der Mensch ist, desto weniger Gnade kann der Mensch von Gott empfangen und wird folglich von Gott niedergedrückt („so trucket er uns“ : V 60h, S. 323, Z. 20-24).

Gelebte Demut ist für Tauler unmittelbar mit dem Gebot verknüpft, Gott und den Nächsten mit bedingungsloser Liebe zu lieben.35 Daran anschließend bestünde die gelebte Demut auch darin, andere Mitmenschen nicht zu verurteilen.36 So warnt Tauler vor dem Umgang mit den Pharisäern (V 57) und kritisiert in mehreren seiner Predigten (V 9, 10, 19, 45, 54), dass sie ein äußerlich frommes Leben führen, jedoch voll des Urteils über andere sind, dabei selbstgefällig, hochmütig und nicht willens sich selbst zu beurteilen.37 Doch wen meinte Tauler mit den Pharisäern? Deutlich wird dies mitunter in seiner Predigt V 10, in der er die „die pharisei und die bischöffe und die schriber, das heilig schein“ 38 von den „waren frúnden Gottes“39 unterscheidet. Tauler definiert in V 9 die Pharisäer als diejenigen, „die etwas von ihrer Frömmigkeit hielten“ und die Schriftgelehrten als diejenigen, „die etwas auf ihre Kenntnisse gaben“.40 Laut Gnädinger können die weiteren Ausführungen der Predigt V 9 über die Pharisäer und Schriftgelehrten als Kritik an den zeitgenössischen Ordensleuten und Scholastikern verstanden werden, die sich ihrer Klugheit rühmten und selbstgefällig waren.41 Dem gegenüber stehen die wahren Freunde Gottes, die, weil sie nur auf Gott bezogen waren, keine Selbstgerechtigkeit, aber eine „gute[…] Lebensweise“ und „gute[…] Werke[…]“ aufwiesen42 und daher von anderen angefeindet werden. Bei diesen Äußerungen kann Tauler die Verfolgung der Laiengemeinschaften wie die von ihm betreuten Beginen durch Päpste und Bischöfe vor Augen gehabt haben. Auch flossen hier sicherlich seine Beobachtungen von den in den Klöstern tobenden Machtkämpfen mit ein.43 Vielleicht strebte Tauler Zeit seines Lebens nie ein höheres Amt an (oder er war froh, dass es ihm verwehrt wurde), weil er fürchtete, durch seinen beruflichen Aufstieg so hochmütig wie andere Geistliche zu werden. Tauler selbst hatte die Art der frommen Lebensführung von Heinrich von Nördlingen und seiner Laiengemeinschaft kennengelernt und es hatte ihn beeindruckt und ihn für sein weiteres Leben wesentlich geprägt.

Schlussendlich bleibt noch die Frage, was Tauler mit seinen Predigten beabsichtigte und bei seiner Zuhörerschaft zu bewirken versuchte? Mit Sicherheit wollte er keine weiteren wissenschaftlichen Diskurse über Theologie anregen und keine  theoretischen Abhand-lungen vermitteln, sondern er wollte schlicht und einfach seinen Beitrag zu dem praktischen Lebenswandel seiner Zuhörerschaft beitragen. Tauler predigte besonders häufig über „Tugenden und Frömmigkeitsübungen“44 und bemühte sich darum, möglichst schwierig zu verstehende Aspekte der biblischen Lehre verständlich und praxisnah zu vermitteln. Dabei verstand er es, seine Lehre „in einen Bezug zum Alltagsleben seiner Zuhörer“ zu bringen und immer wieder darauf zu verweisen, dass jeder selbst „bevinden (empfinden, erfahrend wahrnehmen, kennen lernen)“ müsse, also Gott mit seinem ganzen Sein „in erfahrender, kostender Weise“45 erleben müsse. Gott zu erleben,  solle nicht nur durch Hören und Lesen von etwas und nicht nur mit den Sinnen und dem Verstand passieren. Obwohl Tauler sich darum bemühte, das weiterzugeben, was er selbst erfahren oder erkannt hat, macht er beispielsweise in einer Predigt (V 41) deutlich, dass er das „volle Erlebnis in diesem Punkt nicht erreicht“ hat, das heißt er sieht zwischen „dem Erlebnis und dem Ziel“ eine Distanz, was bezogen auf die unio mystica bedeuten könnte, dass selbst die tiefsten menschlichen Erlebnisse nicht die Fülle der gesamten göttlichen Vereinigung umfassen können46: „Glaubt nicht, dass ich in eigenem Erleben bis dahin gelangt sei. Gewiss sollte kein Lehrer von Dingen sprechen, die er nicht selbst erlebt hat. Doch zur Not genügt, dass er liebe und das im Sinn habe, wovon er spricht, und ihm kein Hindernis bereite”.47 Doch in seinen Predigten und in seiner Verkündigung der Lehre stand nicht im Vordergrund was er selbst erlebt und nicht erlebt hat. Vielmehr muss für seine Zuhörerschaft wichtig gewesen sein, ob er fähig war, aus seinem Verständnis der biblischen Lehre heraus, seiner Zuhörerschaft den Weg zur unio mystica nachvollziehbar, ernsthaft und wahrheitsliebend zu vermitteln.48

Zur letztendlichen himmlischen Vereinigung mit Gott zu erlangen, bedeutet nach Tauler den Ort erreicht zu haben, wo das tiefste Versinken in den Grund der Demütigkeit möglich ist und in den tiefsten Grund gerechter Demütigkeit und Nichtigkeit hinab-zusinken, dessen Tiefe man mit den Sinnen nicht zu begreifen vermag.49 Doch auch der Weg zur ewigen Seligkeit führt, laut Tauler, über die Tugend der wahren Demütigkeit.50

Abschließend kann man folgende Ergebnisse formulieren: In seinen Predigten behandelt Tauler vorwiegend die notwendige Demut des Menschen gegenüber Gott. Doch aus dieser demütigen Haltung des Menschen entspringt auch eine demütige Haltung des Menschen gegenüber seinem Nächsten. Nach Tauler ist die Demut und Demütigsein grundsätzlich als positiv zu sehen, denn es ist, wie die Nichtigkeit des Menschen, die natürliche Haltung bzw. Position, die der Mensch vor Gott einnehmen soll, um mit ihm in eine Vereinigung zu kommen.

Ein überaus auffälliges Ergebnis der Untersuchung besteht darin, dass Tauler hinsichtlich der Demut nicht von seinen selbst gemachten Erfahrungen predigte, sondern vielmehr immer wieder auf sein eigenes Nichtssein51  als Mensch vor Gott hinwies:  “Der Mensch soll all sein Können vor Gott beugen … und soll von Grund aus sein natürliches und sein gebrechliches Nichts erkennen. Das natürliche Nichts, das ist, dass wir von Natur aus nichts sind; das gebrechliche Nichts ist unsere Sünde, die uns zu einem Nichts gemacht hat”.52 In dieser Haltung und der Gewissheit, dass der Mensch mit seinem Sein und Können von Natur aus Nichts ist, lädt er in seinen Predigten sich und seine Zuhörerschaft dazu ein, Gott in seiner Fülle zu erleben und sich vollkommen auf sein Wirken einzulassen.53

Die Verbindung von der Selbsterfahrung der Mystik und den gewonnenen Erkenntnissen mit der Verkündigung und Lehre des Erlebten/Erkannten, stellt sich bei Taulers Verständnis der Demut so dar: Gerade darin bestand die von Tauler gepredigte Demut, dass Tauler sich selbst in seinen Predigten über die Demut mit seinem Können und seinen möglichen Erfahrungen zur Demut zurückzunehmen konnte und sich mit seiner Person nicht in den Vordergrund zu drängen musste.54 Tauler kritisiert vielmehr die Selbstbezogenheit und Überschätzung vom eigenen Können sowie den heiligen Schein vieler seiner Zeitgenossen55 und setzt diesen Tendenzen die von Gott gewünschte Haltung der Demut entgegen. So würde Tauler sagen, dass die gelebte Demut keine Aufmerksamkeit braucht, denn sie weiß, wenn sie gelebt wird, nichts mehr von ihrer eigenen Existenz: „Dise demuͤtkeit die entsinkt al ze mole in ein abgrúnde und verlúret den namen und stet uf irem luterem núte und enweis nút von demuͤtkeit“.56

 

Empfohlene Zitierweise: Blümel, Jonathan (2012): Johannes Taulers Verständnis von Demut (II). In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 

Bibliographie:

  1. Siehe V 38, S. 149. Z. 33-36.
  2. Vgl. McGinn 2008. S. 442.
  3. V 87, S. 419, Z. 5-9.
  4. Siehe Übers. Gnädinger 1993. S. 221 zu V 71, S. 387, Z. 35-37.
  5. Vgl. V 67, S. 365, Z. 18-22 u. V 35, S. 322, Z. 23-30.
  6. Vgl. V 60h, S. 322, Z. 19-33.
  7. V 46, S. 205, Z. 3-7.
  8. Vgl. Haas, Alois M.: Sermo mysticus: Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik. Fribourg 1979. S. 265.
  9. V 60h, S. 322, Z. 19-33.
  10. Siehe Übers. Gnädinger 1993. S. 252 zu V 57, S.274, Z. 9-13.
  11. Siehe Gnädinger 1993, S. 253.
  12. V 52 S. 238, Z. 35-36 bis S. 239, Z. 1- 5.
  13. Siehe Gnädinger 1993, S. 253-254.
  14. Siehe V 54, S. 249, Z. 33- 35 bis S. 250, Z. 1-4.
  15. Vgl. V 74, S. 399, Z. 10.
  16. Siehe Gnädinger 1993.  S. 257.
  17. Vgl. Gnädinger 1993. S. 254.
  18. Siehe V 55, S. 256, Z. 17-19.
  19. H 73, S. 566 zu V 81, S. 433, Z. 22-239, zitiert nach Tauler, Johannes: Predigten. Übers.: Hofmann, Georg. Band I und II. Freiburg i. Br. 1987.
  20. Siehe H 51, S. 394 zu V 45, S. 200, Z. 26-28.
  21. Siehe Gnädinger 1993, S. 256.
  22. Siehe V53, S. 245, Z. 15-16.
  23. Siehe V 39, S. 162, Z. 18.
  24. Siehe V 40, S. 164, Z. 19-20.
  25. Siehe V 40, S. 164, Z. 22-24.
  26. Siehe V 40, S. 164, Z. 21.
  27. Siehe Gnädinger  1993, S. 258 zu V 53, S. 245, Z. 17-18.
  28. Siehe Gnädinger 1993, S. 259 zu V 45, S. 200, Z. 33-34.
  29. Siehe Gnädinger 1993. S. 259.
  30. Siehe V 60e, S. 306, Z. 8.
  31. Siehe Gnädinger 1993 zu V 60e, S. 304, Z. 28-32.
  32. Siehe Gnädinger 1993, S. 260 zu V 60e, S. 305, Z. 1-5 ; Vgl. Haas 1979. S. 265.
  33. Vgl. Haas 1979. S. 268.
  34. Siehe Gnädinger 1994, S. 254 zu V 22, S.90, Z. 18-20.
  35. Vgl. McGinn 2008. S. 471.
  36. Vgl. McGinn 2008. S. 473.
  37. Vgl. McGinn 2008. S. 473.
  38. Siehe V 10, S. 49, Z. 22.
  39. Siehe V 10, S. 48, Z. 8.
  40. Siehe Gnädinger 1993.  S. 56.
  41. Siehe Gnädinger 1994. S. 56 zu V 9, S. 41, Z. 13-21.
  42. Vgl. Gnädinger 1994. S. 59-60.
  43. Vgl. Gnädinger 1989.S. 10-11.
  44. Siehe McGinn 2008. S. 425 u. 469.
  45. Siehe McGinn 2008. S. 453.
  46. Vgl. Wrede 1974. S. 270.
  47. Siehe H 41, S. 313 zu V 41, S. 175, Z. 4-7 sowie Haas 1979, S. 281 ; V 175, 3-7.
  48. Vgl. McGinn 2008. S. 454.
  49. Vgl. V39, S. 162, Z. 14-18.
  50. Vgl. V 65, S. 347, Z. 26.
  51. Anm.: „die demütige Erkenntnis des eigenen Nichtsseins“ McGinn 2008. S. 454.
  52. Siehe H 63: II, S. 485 ; V 67, S. 365, Z. 18-22.
  53. Vgl. McGinn 2008. S. 454.
  54. McGinn 2008, S. 454.
  55. Vgl. V 197.
  56. Siehe V 55, S. 256, Z. 17-19.

Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/10/johannes-taulers-verstandnis-von-demut-ii/

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Toletum – III Workshop vom 01.-03.11.2012 in Hamburg

Das “Netzwerk zur Erfoschung der Iberischen Halbinsel in der Antike” trifft sich auch in diesem Jahr vom 01.-03.11.2012 zu einem interdisziplinären Workshop im Hamburger Warburg-Haus, Heilwigstr. 116, 20249 Hamburg.

Zum Thema der Spätantike sollen durch verschiedene Vorträge  neueste Forschungsvorhaben vorgestellt, “aktuelle Ansätze der jeweiligen Disziplin” diskutiert  und sich “über praktische sowie methodische Probleme verständigt werden“. 1

Bemerkenswert ist in diesem Jahr, dass der Workshop bereits am Donnerstagnachmittag beginnt und damit zusätzliche Vorträge ermöglicht werden, was die Möglichkeit eröffnet das Thema Spätantike noch ausführlicher behandeln zu können. Das internationale Klima dieses Netzwerkes ist auch beim diesjährigen Workshop besonders spürbar: So werden, neben den auf deutsch gehaltenen Vorträgen, fünf Vorträge auf Spanisch und ein Vortrag auf Französisch gehalten werden. Dies ermöglicht einen unmittelbaren Einblick in die aktuellen Forschungsvorhaben der spanischen und französischen Archäologen bzw. Althistoriker.

Veranstalter des Workshops sind der Fachbereich Alte Geschichte des Historischen Seminars der Universität Hamburg und das
Seminar für Klassische Archäologie der Universität Trier.

Weitere Informationen auf www.toletum-network.com  

Zum Flyer

  1. Siehe http://www.toletum-network.com/index.htm (Zugriff: 02.10.2012).

Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/10/toletum-iii-workshop-vom-01-03-11-20120-in-hamburg/

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Eine Kurzbiografie des deutschen Mystikers Johannes Tauler

Neben den deutschen Mystikern Meister Eckhart (1260-1328) und Heinrich Seuse (1295-1366) war Johannes Tauler einer der Hauptfiguren der Deutschen Mystik. Im folgenden Artikel sollen wichtige Stationen seines Leben aufgeführt werden.

Statue des Johannes Tauler in StraßburgJohannes Tauler wurde um 1300 in Straßburg geboren und entstammte einer wohlhabenden Familie.1 Er trat bereits 1315 in den Dominikanerorden ein und absolvierte im Orden ein Studium der Logik und Naturphilosophie. Zusätzlich widmete er sich noch theologischen Studien und erhielt in seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr die Priesterweihe. Nach seinem Studium wurde er sogleich in der Seelsorge eingesetzt, weswegen er, im Gegensatz zu Meister Eckhart, sich Zeit seines Lebens eher praktischen Aufgaben und weniger wissenschaftlichen Arbeiten widmete, obgleich er über einen hohen Fundus an Kenntnis über die Literatur der Christlichen Mystik verfügte.2 Er stellte somit das „rein schulisch angeeignete Gotteswissen der lesmeister […]der erlebten Gottesweisheit der lebmeister, einer praktisch erlebten Gotteserfahrung also, entgegen“.3 Obwohl Tauler Meister Eckhart in seinen Predigten nur einmal namentlich erwähnt (Vetter 64), ist die Prägung durch die Lehre des Meister Eckhart in Taulers Leben und Wirken deutlich erkennbar.4

Im Jahr 1339 mussten die Ordensbrüder Straßburg verlassen, weil der Papst aufgrund politischer Auseinandersetzungen mit Ludwig dem Bayern die Abhaltung öffentlicher Gottesdienste untersagte.5 Tauler widmete sich im neuen Sitz des Dominikanerordens in Basel verstärkt dem Predigtdienst zu. Dort lernte er auch den Priester Heinrich von Nördlingen und „dessen Kreis frommer Frauen sowie die genannten Gottesfreunde kennen“6 und studierte mit ihnen mystische Schriften u.a. von Mechthild von Magdeburg. Obwohl um 1343 die Mitglieder des Dominikanerordens wieder nach Straßburg zurückkehrten, reiste Tauler „zwischen 1344 und 1346 […] im Gebiet von Köln, Straßburg, Medingen bei Dillingen umher“7 und arbeitete als Prediger und Seelsorger in Dominikanerinnenklöster und nahm sich aber auch frommen Frauen wie Drittordensfrauen und Beginen an. Auch pflegte Tauler Kontakt zur Mystikerin Margarethe Ebner aus dem Dominikanerinnenkloster in Medingen.8

Im Jahr 1346 kehrte Tauler vermutlich nach Straßburg zurück und verbrachte seinen Lebensabend bis zu seinem Tod am 16. Juni 1361 vor allem in Straßburg, beschäftigt mit der Volkspredigt und der Seelsorge bei den Dominikanerinnen und weiteren frommen Frauen.9 Obwohl Tauler Zeitzeuge zahlreicher Krisen des 14. Jhr. war, wie der verheerenden Pestepidemie, einem Erdbeben und einer Feuerbrunst in Straßburg und der darauffolgenden Geißelungsbewegungen und Judenpogrome, politischen und militärischen Auseinandersetzungen und er Zeit seines Lebens mit häretischen und scholastischen Lehren konfrontiert wurde, weisen seine Predigten keine besonders politische oder soziale Funktion auf.10

Wer aus Taulers Predigten biografische Hinweise über ihn selbst und seine Person entnehmen möchte, wird nicht fündig werden. Auch zu versuchen, anhand der Predigten ein einheitliches Taulersches theologisches System zu rekonstruieren, ist nicht von großem Nutzen und wäre vermutlich auch von Tauler nicht erwünscht gewesen. Tauler sah sich selbst viel zu sehr als „bescheidener Zeuge des christlichen Glaubens“, der schlichtweg das weitergeben wollte, „was er selbst empfangen“ hat.11 So sollte in der heutigen Betrachtung vielmehr die Art und Weise wie er predigte, worüber er predigte und wie häufig er welche Themen in seinen Predigten aufgriff, eine bedeutend größere Rolle einnehmen. Die nähere Betrachtung seiner zentralen Predigthemen, wie z. B. die der unio mystica, der Lehre vom grunt sowie die der Demut, bieten eine reiche Fülle an praxisbezogenen Lehren, die in ihrer Tiefe und Klarheit nicht nur die mittelalterliche Mystik inspirierten, sondern auch in späterer Zeit spürbaren Einfluss nehmen konnten.

Möchte man nun aber zum besseren Verständnis von Taulers Lehren eine allgemeine Beschreibung von der Struktur seiner Predigten vornehmen, so ist folgendes festzustellen: Tauler beginnt seine Predigten in der Regel mit einer kurzen Einleitung (exordium) und zitiert den Bibeltext, über den er sprechen möchte auf Latein und paraphrasiert ihn dann anschließend auf Mittelhochdeutsch. Die Struktur seiner Predigten erscheint meist recht variabel, wobei er in seinem Hauptteil (tractatio) seine Kernaussagen und die Auslegungen der Lehre entfaltet und im knapp gehaltenen Schlussteil (conclusio) eine Zusammenfassung der Predigt vornimmt. Auffällig sind in Taulers Predigten die häufigen direkten und persönlichen Anreden seiner Zuhörer (liebes kint, kinder oder villieben schwesteren), mit denen er häufig zum nächstfolgenden Abschnitt seiner Predigt überleitet.12 Die Mehrzahl der Zuhörerschaft Taulers bildeten sicherlich die Frauen aus den Dominikanerkonventen von Straßburg, Basel und Köln. Diese waren unterschiedlichen Alters und waren mit unterschiedlichen Aufgaben im klösterlichen Leben betraut. Weiterhin predigte Tauler auch vor den Beginen und vor den Angehörigen der Laienbewegung der Gottesfreunde. Ein Hauptmerkmal seiner Predigten und eine damit verbundene Zielsetzung war es, „beispielhafte Muster und Vorbilder des geistlichen Lebens aus verschiedenen Ständen“ anzuführen, um „alle Menschen, gleich welchen Standes oder Berufs […]“  bei seinen Ausführungen mit einzubeziehen, um sie „zu ernsthaft christlichen Gottesfreunden und Säulen der Kirche“ zu machen.13

Johannes Tauler hinterließ nicht nur eine Predigtsammlung von über achtzig Predigten, verfasst in mittelhochdeutscher Sprache sowie einen Bericht über seine Bekehrung (Meisterbuch), sondern er übte durch sein Leben und Wirken auf die Theologie der damaligen wie der späteren Zeit einen erheblichen Einfluss aus.14 Taulers Lehre behandelte aus dem Bereich der theologischen Anthropologie und Gotteslehre vor allem die Themen „der Selbst- und Gotteserkenntnis“, eine an Meister Eckhart anlehnende Lehre der „inneren und äußeren Armut“, Gelassenheit, die Abkehr von Selbstsucht, und das Thema der sinkenden Demut.15 Die Haltungen, die er in seinen Predigten am häufigsten anpries, waren die Umkehr, das Loslassen und das Empfangen.16 Bereits im 15. Jhr. wurde Tauler im niederländischen Sprachraum „in Kreisen der Windesheimer rezipiert“.17 Einen nicht unerheblichen Einfluss hatten Taulers Lehren auf Luthers reformatorische Tätigkeit, auf die protestantische aber auch katholische Frömmigkeit sowie auf die spanische Mystik.18

 

Empfohlene Zitierweise: Blümel, Jonathan (2012): Eine Kurzbiografie des deutschen Mystikers Johannes Tauler. In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 

Bildquelle: Statue des Johannes Tauler in Straßburg, Urheber: Ji-Elle von Wikipedia


Bibliographie:

  1. Vgl. Gnädinger, Louise: Johannes Tauler: Lebenswelt und mystische Lehre. München 1993. S.10 ; Langer, Otto: Christliche Mystik im Mittelalter : Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts. Darmstadt 2004. S. 374 ; Wrede, Gösta: Unio mystica: Probleme der Erfahrung bei Johannes Tauler. (Studia doctrinae Christianae Upsaliensia ; 14 Acta Universitatis Upsaliensis). Stockholm 1974. S.13 ; McGinn, Bernard: Die Mystik im Abendland, Band 4: Die Mystik im mittelalterlichen Deutschland (1300-1500). Freiburg 2008. S. 414.
  2. Vgl. Haas, Alois M.: Sermo mysticus: Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik. Fribourg 1979. S. 261 ; Leppin, Volker: Artikel Tauler, Johannes. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 32. Berlin und New York 2001. S. 745–747 ; Langer 2004, S. 374 ; Wrede 1974. S. 14f. ; McGinn 2008. S. 420.
  3. Siehe Gnädinger, Louise: Deutsche Mystik: Hildergard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart, Johannes Tauler, Rulman Merswin, Heinrich von Nördlingen, Margaretha Ebner, Heinrich Seuse, Christine Ebner, Lieder. (Manesse-Bibliothek der Weltliteratur). Zürich 1989. S. 230.
  4. Vgl. Haas 1979, S. 262 ; Wrede 1974, S. 15 ; McGinn 2008. S. 424.
  5. Vgl. Gnädinger 1989. S. 13.
  6. Siehe Gnädinger 1993. S. 231.
  7. Siehe Gnädinger 1989. S. 231.
  8. Vgl. Wrede 1974. S. 15.
  9. Vgl. Haas 1979. S. 263 ; Leppin 2001. S. 745 ; Gnädinger 1989. S. 15.
  10. Vgl. McGinn 2008. S. 414-416 ; Haas 1979, S. 262f. ; Gnädinger 1989, S. 10f.
  11. Siehe McGinn 2008. S. 425-426
  12. Vgl. McGinn 2008. S. 420.
  13. Siehe Gnädinger 1993. S. 118.
  14. Vgl. Haas 1979. S. 263.
  15. Vgl. Gnädinger 1989. S. 234 ; Langer 2004. S. 376-392 ; McGinn 2008. S. 427.
  16. Vgl. McGinn 2008. S. 455.
  17. Siehe Langer 2004. S. 375.
  18. Haas 1979. S. 247 ; Leppin 2001, S. 747 ; Langer 2004. S. 376.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/09/eine-kurzbiografie-des-deutschen-mystikers-johannes-tauler/

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Die Ursprünge der Mystik – eine Einführung

Der Begriff Mystik (griechisch: mystikós: „geheimnisvoll“) findet seine erste Verwendung in der griechischen Philosophie und Religion in der Antike. Die Stationen der weiteren Entwicklungen der antiken Mystik reichten von der platonischen theoria über die Mysterienkulte und der philosophischen Mystik des Plotin bis hin zum antiken Christentum.1

Die sogenannte Christliche Mystik hatte vermutlich im 4. Jhr. n. Chr. ihren Ursprung. Vermutlich wurde von den Kirchenvätern, wegen der wachsenden Anzahl der Heidenchristen in den Kirchen, in der Theologie und Spiritualität nach „neuen und fruchtbaren Wegen zu Gott gesucht“.2 Im Kern ist die Christliche Mystik als christliche Spiritualität mit Konzentration auf die Gotteserfahrung zu beschreiben. Durch die auf Theorien und Lehren basierenden Praktiken sollen die Erfahrung und das Erlebnis der innerlichen Einswerdung mit Gott und seiner unergründlichen Unendlichkeit für den Mystiker möglich werden.3 Die sogenannte unio mystica ist eine religiös-spirituelle Erfahrung und spielt in der christlichen Mystik die zentrale Rolle. Ursprünglich wurde der Begriff unio mystica von Dionysius Areopagita um 500 n. Chr. als mystiké henôsis geprägt und wurde dann als lateinischer Begriff unio mystica (zunächst auch als Mystische Theologie übersetzt) ab dem 13. Jhr. eingeführt, um sich dann ab dem 15./16. Jhr. fest im Sprachgebrauch zu etablieren.4

Die Christliche Mystik lässt sich auch als eine Fortführung von der im Alten Bund praktizierten Prophetie und von der im Neuen Bund unter den Aposteln erlebten Charismatik  auffassen.5 Diese Fortführung, aber auch die Adaption der mystischen Lehren aus der griechischen Religion und Philosophie, wurde von den Kirchenvätern wie Aurelius Augustinus, Ambrosius und Gregor der Große in der Spätantike durch ihre Schriften und Lehren initiiert und mit der von Mönchen entwickelten monastischen Mystik im Mittelalter übernommen.6 Sieht man von Johannes Scottus Eriugenas erfolglosen Bemühungen aus dem 9. Jhr. ab, die philosophische Mystik mit der Theologie zu vereinen, so war der Zeitpunkt für den Aufbruch einer neuen Mystik das Jahr 1200.7

Noch im 12. Jhr. wurde die Christliche Mystik von den klösterlichen Schriften der Zisterzienser und Viktorianer geprägt, untern ihnen führend der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux, der die persönliche Gotteserfahrung zu einem ähnlich wichtigen Bestandteil geistliches Lebens erhob, wie die eigentliche Beschäftigung mit der Heiligen Schrift.8 Frühe mittelalterliche Mystik bestand bis zum 13. Jhr. vor allem darin, sich von der Welt zurückzuziehen und sich einer geistlich-privilegierten Gemeinschaft im Kloster anzuschließen.9 Neue Formen religiösen Lebens entstanden ab 1200 mit den städtisch ansässigen Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner sowie den Beginen. Mit ihrem Wirken in den Städten und der Verbreitung der Lehren der Armutsmystik sowie der vita apostolica schwand auch allmählich die Überzeugung von der Notwendigkeit der Weltflucht und dem Rückzug in ein geistlich-abgeschiedenes Leben: Eine Erfahrung von Gottes Gegenwart konnte nunmehr jedem Menschen widerfahren, egal an welchem Ort, denn sie war nicht mehr nur geistlich Privilegierten vorbehalten.10

Gegen Ende des 12. Jhr. erreichte die monastische Mystik ihren Höhepunkt und mit dem Jahr 1200 ging ihre Relevanz mit der Neuentstehung der scholastischen Theologie, die an den neu entstehenden Universitäten gelehrt wurde, zurück.11 Die mittelalterliche Theologie setzte sich nun aus der monastischen, der scholastischen und der volkssprachlichen Theologie zusammen.12 Durch die Bemühungen der Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner im 12. und 13. Jhr. wurde ab dem 14. Jhr. auch im geistlich-theologischen Bereich statt Latein vorwiegend die deutsche Volkssprache praktiziert.13 Zudem entstand etwa ab der Mitte des 12. Jhr. eine Frauenmystik, deren Anhängerinnen eine fromme und enthaltsame Lebensweise in religiösen Gemeinschaften führten.14

Eine der hauptsächlichen Ausprägungen der Christlichen Mystik im späten Mittelalter war die Deutsche Mystik, die mit Beginn des 14. Jhr vor allem in den südlichen Gebieten Deutschlands ihren Anfang als Bewegung von verschiedenen Mystikern nahm. Die Schriften und Lehren der Deutschen Mystik wurden größtenteils in der zeitgenössischen deutschen Sprache angefertigt.15 Auch die Frauenmystik entwickelte sich im 14. Jhr. zu einem immens wichtigen Bestandteil der Deutschen Mystik weiter.16 In der Deutschen Mystik wurde nicht nur die altchristliche Mystik aufgegriffen, sondern es wurden auch Lehren aus der heidnisch-griechischen Welt aufgegriffen.17 Die Literatur der Deutschen Mystik bestand vor allem aus „Traktaten, Schriftkommentaren, Briefen, Predigten und Autobiographien“.18

 

Empfohlene Zitierweise: Blümel, Jonathan (2012): Die Ursprünge der Mystik – eine Einführung. In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 


Bibliographie:

  1. Dinzelbacher, Peter: Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Paderborn u.a. 1994. S. 35-41 ; Langer, Otto: Christliche Mystik im Mittelalter : Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts. Darmstadt 2004. S. 51-69.
  2. Haas, Alois: Mystik im Kontext. München 2004. S. 50 ; Langer 2004. S. 80.
  3. Haas, Alois M.: Sermo mysticus: Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik. Fribourg 1979. S. 256.
  4. Haas 2004, S. 53-62
  5. Haas 1979, S. 257 ; Langer 2004, S. 80ff..
  6. McGinn, Bernard: The Flowering of mysticism: men and women in the new mysticism, 1200-1350. New York 1998. S. 2 u. 12 ; McGinn, Bernard: The Changing Shape of Late Medieval Mysticism. In: Church History, Vol. 65, No. 2 (Jun., 1996). S. 198.
  7. Langer 2004, S. 131ff..
  8. McGinn 1996, S. 197.
  9. Haas 1979, S. 259 ; McGinn 1996, S. 198.
  10. McGinn 1996, S. 198 ; Langer 2004, S. 211-218.
  11. McGinn 1998, S. 3 ; Langer 2004, S. 152.
  12. McGinn 1998, S. 19.
  13. McGinn 1998, S. 22ff. ; Haas 1979, S. 258f..
  14. Langer 2004, S. 227 ; Dinzelbacher 1994, S. 194.
  15. McGinn 1998, S. 21 ; Haas 1979, S. 255.
  16. McGinn 1998, S. 15 ; Haas 1979, S. 260.
  17. Haas 1979, S. 258.
  18. Haas 1979, S. 255.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/08/die-ursprunge-der-mystik-eine-einfuhrung/

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Einblicke in die Strafvollzugsgeschichte

So lange es Verbrechen gibt, so lange gibt es auch Gefängnisse. Weit gefehlt! Das Gefängniswesen so wie wir es in unserer heutigen Zeit kennen, ist relativ neu. Gewisse Ansätze des Gefängniswesens sind zwar schon in der Antike bekannt: Zum Beispiel wird in der Bibel von mehreren Gefängnissaufenthalten von Paulus gesprochen, jedoch waren das keine Freiheitsstrafen, die vom Staat vollzogen wurden. Solche Haftaufenthalte dienten vielmehr zur Aufbewahrung des Täters bis zur Aburteilung oder Hinrichtung.1

Auch im Mittelalter wurden keine Freiheitsstrafen durchgesetzt, denn das Strafsystem sah ausschließlich sogenannte Leib- und Lebensstrafen (Prügel- und Todesstrafe) vor. Auch den heutigen Grundgedanken der Besserung und Wiedereingliederung von Straftätern gab es nicht. Zwar gab es Gefängnisse in Klöstern, aber  auch diese dienten keiner Besserung, sondern allein der Sanktion durch Umkehr und Buße von Nonnen und Mönchen. Weiterhin dienten andere Gefängnisse allein zu Folter- oder Hinrichtungszwecken.

Erst im späten 16. Jahrhundert entstanden in vielen europäischen Ländern Arbeits- und Zuchthäuser, in denen unter anderem Bettler und Landstreicher eingesperrt wurden. Eines der ersten und „modernen“ Zuchthäuser war das Amsterdamer Tuchthuis von 1596, welches das Gefängniswesen revolutionierte. Hier traf zum ersten Mal die Besserung der Straftäter in den Vordergrund und verdrängte den Vergeltungsgedanken.2Durch harte Arbeit sollten die Gefangenen an ein anständiges Leben in Freiheit gewöhnt werden. Des Weiteren erteilte man den Gefangenen Unterricht um ihre Chancen auf ein späteres gesellschaftlich-angesehenes Leben zu erhöhen. Die Ursache für diese Entwicklung „war im Wesentlichen die soziale, religiöse und  wirtschaftliche Situation. Die stetig wachsende Kleinkriminalität konnte nicht mehr nur durch die Vollstreckung von Leibesstrafen begegnet werden – gefordert war eine andere Reaktionsform“3.

Um 1790 entstand in den Vereinigten Staaten ein neues Gefängnissystem: Das Pennsylvanisches System oder auch „Separate System“ genannt. Dies bedeutete für alle Insassen strenge Einzelhaft, ohne Möglichkeit zu arbeiten. Es wurde daraufhin auch das „solitary-system“ genannt.4 Jeder Häftling war komplett abgeschottet und getrennt von anderen Insassen. (Architektonisch stand dieses Modell konträr zum Modell des Panoptikums, bei dem der Wärter aus der Mitte des kreisförmigen Gefängnisbaus Augenkontakt zu jedem der Häftlinge hatte, weil die Zellen sich im Kreis um den Wärterposten formierten). Weiterhin hatten im Pennsylvanischem System  die einzelnen Insassen nur Kontakt zu den Wärtern, mit denen es jedoch verboten war zu reden. Insgesamt hatten die Insassen immer zu schweigen. Die Wärter kannten auch weder die Namen noch die verübten Straftaten der Insassen. In den Zellen gab es jeweils nur die Bibel zu lesen (andere Bücher waren verboten). So sollte den Insassen zur inneren Einkehr geholfen werden. Allerdings wurde damit oftmals das Gegenteil erreicht: Viele Insassen wurden apathisch und psychisch krank und versuchten Suizid zu verüben. Dieses System wurde später von ca. 300 anderen Gefängnissen weltweit nachgeahmt, jedoch musste es im Laufe der Jahre modifiziert werden, da es dem Staat zu teuer wurde Insassen in Einzelhaft ihre Strafe abbüßen zu lassen.

Eine Modifizierung dessen ist das sogenannte „Auburn System“: Es folgte eine gemeinsam verrichtete Arbeit mit Schweigegebot,5  bei sonstiger Isolation. Diese Methode wurde auch das „silent system“6 genannt. Nicht die Stille und die Einsamkeit sollen den Straftäter zur Einkehr bewegen, sondern die schwere Arbeit.  Zwei weitere Merkmale des Systems waren die einheitlichen Uniformen, die jeder Häftling tragen musste und der „Lockstep“, das bedeutet, dass die Füße der Häftlinge mit seinen vorderen und hinteren Nachbarn verbunden wurden und sie sich nur im Gleichschritt fortbewegen konnten.

Doch auch dieses System wurde als unmenschlich angesehen und zum Ende des 19. Jahrhunderts in den USA fast vollständig abgeschafft. Eine neue Art des Gefängniswesens brachte der „Stufenstrafvollzug“ oder auch „Englisches Progressivprogramm“ genannt. Dieser sah drei Stufen für den Häftling vor. Als erstes neun Monate Einzelhaft mit harter Arbeit, aber auch Unterricht und Zuspruch. Bei guter Führung kam der Häftling in die Gemeinschaftshaft, auch dort musste er weiterhin Arbeit verrichten. Zudem konnte er durch ein „Mark-System“ sich weitere Marken verdienen oder sie wurden ihm bei schlechtem Benehmen entzogen, das heißt dass er auch wieder in die unterste Stufe degradiert werden konnte. Die dritte Stufe sah eine frühzeitige Entlassung vor. In Deutschland wurde der Stufenstrafvollzug aufgrund der Machtübernahme Hitlers nicht mehr eingeführt.7

Heutzutage wird in den meisten westlichen Ländern der „Individualvollzug“ durchgeführt, der im Gegensatz zum Stufenmodell noch variabler ist und auf jeden einzelnen Gefangenen genau abgezielt werden kann, zumindest in der Theorie.

Was aus der sogenannten früheren Zeit der Strafvollzugsgeschichte geblieben ist, ist die Tatsache, dass das Gefängnis auch heute noch als Hinrichtungsort dient.

Insgesamt erkennt man die sich ständig veränderte Funktion des Gefängnisses. Zunächst als Ort der Verwahrung vor der Verhandlung oder Hinrichtung entwickelte sie sich zum zentralen Strafinstrument. Dies geschah oftmals aus gesellschaftlichen und ökonomischen Gründen. Erst relativ spät setzte die Entwicklung hin zum Resozialisierungsvollzug ein. Auch heute noch wird die Institution Strafvollzug modernisiert und entwickelt. In Deutschland wurde 2007 in Hessen das erste Gefängnis (teil-)privatisiert8. Was in den Vereinigten Staaten völlig normal scheint, ist in Deutschland umstritten. Natürlich wirft diese Entwicklung der Privatisierung von Gefängnissen viele Fragen auf. Allen voran jedoch die Frage danach inwieweit dadurch der Grundgedanke der Besserung und Wiedereingliederung für die Produktivität und Effizienz der Gefängnisanstalten aufgehoben werden soll?

Exkurs: Eine Welt ohne Gefängnisse?

Aktuell gibt es auch einige Befürworter der Abschaffung der Gefängnisse.  In der Sozialkriminologie nennt man diesen theoretischen Ansatz Abolitionismus (lat. für Abschaffung). Damit ist der absolute Verzicht auf Gefängnisse und totale Institutionen gemeint. Des Weiteren wird auch die Abschaffung des Strafrechts gefordert. Zu ihren bedeutendsten Vertretern gehören u.a der deutsche Kriminologe Sebastian Scheerer sowie der niederländische Soziologe Louk Hulsman.

Als totale Institution definiert Erving Goffman eine Anstalt in der alle Lebensäußerungen eines Menschen von außen geregelt und zu kontrolliert werden. Als Beispiel nennt er dabei Klöster oder eben Gefängnisse.

Der Mensch wird in der Institution für eine bestimmte Zeit isoliert und muss somit mit seiner früheren sozialen Rolle brechen.

Eine Totale Institution weist nach Goffman folgende Merkmale auf9:

  • Eine Totale Institutionen umfasst das ganze Leben des sozialen Akteurs. Das bedeutet, dass das Leben aller Mitglieder ausschließlich an einem Ort stattfindet und ist einer einzigen zentralen Autorität unterworfen ist.
  • Alle Mitglieder der Institution führen ihre alltägliche Arbeit mit anderen Schicksalsgefährten aus.
  • Alle Tätigkeiten und sonstigen Lebensäußerungen sind exakt geplant und vorgeschrieben.
  • Die verschiedenen Tätigkeiten und Lebensäußerungen werden beobachtet und überwacht dienen dazu offizielle Ziele der Institution zu erreichen.

Weitere Kritiker sind natürlich Michel Foucault mit seinem Werk „Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses.“ Hierbei wird in Gefängnissen durch Wärter (am effektivsten durch die Organisation wie im Panoptikum10) Wissen produziert , welches als Machtinstrumentarium gegen den Gefangenen angewendet werden kann. Das Panoptikum in dem der Wärter jeden Gefangenen immer und von überall überwachen und beobachten kann, kann laut Foucault auch auf weitere, aktuellere Gesellschaftsformen angewendet werden. Genau diese subtilen Machtmechanismen sind eine Bedrohung für andere Gesellschaftsformen, wie zum Beispiel die Disziplinargesellschaft11.

Auch der französische Soziologe  Loïc Wacquant steht dem Gefängniswesen kritisch gegenüber. Laut Wacquant werden (vornehmlich in US-Gefängnissen) keine Kriminellen eingeschlossen, um zu verwahren und Gerechtigkeit zu erlangen, sondern aus vollkommen anderen Gründen:

„Wir müssen daher die Funktionen des Gefängnisses in den Blick nehmen, die mit Bestrafen und Kontrolle von Kriminalität nichts zu tun haben. Das Gefängnis dient nicht dazu, Verbrechen zu bekämpfen, sondern dazu, die Armen zu regulieren, soziale Unruhen einzudämmen und diejenigen zu verwahren, die durch die neue gesellschaftliche Arbeitsteilung, den technologischen Wandel und die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse überflüssig gemacht worden sind. Darüber hinaus hat das Gefängnis den Nutzen, die Souveränität und Autorität des Staates zur Schau zu stellen“12.

 

 

Weitere interessante Literatur unter:

http://www.falk-bretschneider.eu/biblio/biblio-index.htm

 

Empfohlene Zitierweise: Goździelewska, Agnieszka (2012): Einblicke in die Strafvollzugsgeschichte. In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 


Bibliographie:

  1. Rössner, Dieter: Geschichte des Strafvollzugs, Vorlesung Strafvollzug – Sommersemester 2008 am Institut für Kriminalwissenschaften der Philipps-Universität Marburg, S. 1. http://www.uni-marburg.de/fb01/lehrstuehle/strafrecht/roessner/roessner_vermat/roessner_archiv/ss08-0110400064vl/strafv_mat02 (Abrufdatum: 12.07.2012)
  2. Weitere Informationen unter: http://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/djsg/ajv/dienstleistungen/JVASennhof/Geschichtliches/Seiten/EntwicklungimStrafvollzug.aspx (Abrufdatum: 11.07.2012).
  3. Rössner, Dieter: Geschichte des Strafvollzugs, Vorlesung Strafvollzug – Sommersemester 2008 am Institut für Kriminalwissenschaften der Philipps-Universität Marburg, S. 2. http://www.uni-marburg.de/fb01/lehrstuehle/strafrecht/roessner/roessner_vermat/roessner_archiv/ss08-0110400064vl/strafv_mat02 (Abrufdatum: 12.07.2012).
  4. Laubenthal, Klaus: Strafvollzug, Springer-Verlag Berlin 2011, S. 55.
  5. Anm.: Dem Separate System wurde immer angekreidet, dass es zu einfach wäre in Einzelhaft zu schweigen. In Gruppen sei dies logischerweise schwieriger.
  6. Laubenthal, Klaus: Strafvollzug, Springer-Verlag Berlin 2011, S. 55.
  7. Laubenthal, Klaus: Strafvollzug, Springer-Verlag Berlin 2011, S. 56f.
  8. Reißman, Oliver: Die ziehen die Schrauben ganz schön an, Artikel vom 31.01.2007, Spiegel-Online unter: http://www.spiegel.de/wirtschaft/private-gefaengnisse-die-ziehen-die-schrauben-ganz-schoen-an-a-463009.html (Abrufdatum: 11.07.2012).
  9. Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973, S. 15f.
  10. Siehe dazu:  Bentham, Jeremy: Panopticon; Or, The Inspection-House: London 1791.
  11. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994, S. 39 ff.
  12. Zitiert aus Heigl, Richard: Geschichte des Gefängnisses: Eine Bibliographie und eine aktuelle Diskussion, vom 31.10.2009 http://kritischegeschichte.wordpress.com/2009/10/31/geschichte-des-gefangnisses-eine-bibliographie/ (Abrufdatum: 12.07.2012).

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/07/einblicke-in-die-strafvollzugsgeschichte/

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Die Kriegsführung des Deutschen Ordens in der Älteren Hochmeisterchronik (I)

Anlehnend an den Artikel: Die Kriegsführung des Deutschen Ordens im Baltikum, soll nun ausgehend von den Darstellungen der Älteren Hochmeisterchronik sowie dem in der Chronik behandelten Zeitraum und den Orten folgende Fragestellungen bearbeitet werden:

 Auf welche Art und Weise führte der Deutsche Orden Kriegshandlungen aus bzw. wie kämpften die Ritter des Deutschen Ordens gegen die Prußen, Polen, Liven und Litauer? Weiterhin soll danach gefragt werden, wofür die Ritter des Deutschen Ordens laut den Darstellungen der Chronik kämpften bzw. welche Zielsetzung sie bei ihren Kampfhandlungen verfolgten.

Vorgehen

Die Fragestellungen wurden für die Sichtung des Quellenmaterials als Auswahlraster verwendet. Aus den relevanten Textpassagen ergeben sich drei thematisch-variierende Gruppen:

 

1. Befestigungsanlagen

2. Heroisierung/ Religiöse Aspekte der Kriegsführung

3. Art und Zielsetzung der Kriegsführung

 

Diese lassen sich in weitere Teilaspekte untergliedern. Im Folgenden sollen aus diesen Gruppen repräsentative Beispiele ausgewählt und einer genaueren Quellenanalyse unterzogen werden.

Allgemeines zur Älteren Hochmeisterchronik

In der Älteren Hochmeisterchronik wird die Geschichte des Deutschen Ordens im Baltikum von 1190-1433 überblicksartig aufgeführt und dabei werden neben politischen Ereignissen und Kriegshandlungen vor allem „menschliches Verhalten und dessen Folgen“1 beschrieben. Für die Erzählweise der Älteren Hochmeisterchronik ist nicht nur charakteristisch,  dass Ereignisse knapp und überblicksartig dargestellt werden, sondern auch, dass der Chronist sich bemühte, die Ereignisse weitestgehend chronologisch zu berichten und mit Jahreszahlen zu versehen. Die Frage nach der Verfasserschaft der Chronik drängt sich auf, weil in der Chronik selbst kein Name genannt wird. Obwohl Chroniken „nicht selten Auftragswerke […] und mit bestimmten Absichten“2 verfasst seien, deutet die Haltung des Chronisten gegenüber dem Deutschen Orden nach genauerer Betrachtung auf einen „überzeugten, wenn auch keineswegs unkritischen Anhänger des Ordens.“3 Die Chronik wurde in zeitgenössischem Deutsch und in einer Prosafassung angefertigt, was der Chronik zur Zeit der Abfassung4 einen größeren Leserkreis ermöglichte. Die Chronik besteht aus einem größeren, sogenannten unselbstständigen Teil, dessen Schilderungen auf anderen Chroniken basieren und einem zweiten selbstständigen Teil.5 Zweifelhaft ist, ob der Bericht über den Hussitenkrieg ursprünglich zu der Chronik gehörte, vielleicht wurde er als Anhang der Chronik hinzugefügt. Der Chronist verwendet als Grundlage für seine Darstellungen Materialien aus der Ordenskanzlei, verschiedene andere Chroniken und verarbeitet sicherlich auch mündliche Überlieferungen sowie Selbsterlebtes.6 Eine nähere Untersuchung der Chronik wurde bisher in der Forschung weitestgehend vernachlässigt.

Die Befestigungsanlagen des Deutschen Ordens

Im ersten ausgewählten Beispiel, dem Kapitel 40 der Chronik, kommen gleich mehrere inhaltliche Aspekte zum Tragen, die für die Bearbeitung der Fragestellungen relevant sind: Der erste wichtige Aspekt ist für die 1. Thematische Gruppe: Befestigungsanlagen relevant: Um 1253 wurde direkt an der Memelmündung die Memelburg durch einige Ordensbrüder errichtet. Ursprünglich wurden diese Ordensbrüder, unter der Leitung von Eberhard von Sayn, vom Hochmeister aus Preußen nach Livland entsandt. Eberhard von Sayn sollte wegen der Erkrankung des Meisters Andreas neuer Hochmeister von Livland werden. Auf dem Weg nach Kurland entlang der Memel ließ Eberhard von Sayn diese Burg im Land der heidnischen Samaiten errichten und mit Brüdern und Bewaffneten besetzen, um  anschließend mit seinem Heer das Land wieder zu verlassen.7 Dass man mit der Errichtung einer befestigten Burg auf feindlichem Gebiet Herrschaftsansprüche anmeldete und gleichzeitig Widerstände seitens der Einheimischen provozierte, liegt auf der Hand. Es darf daher nicht verwundern, dass die Chronik schon kurz darauf davon berichtet, dass die Samaiten davon erfuhren, „daz dy Dutschyn zcur Memel eyn burg hattin gebuwet.“ 8 Nach dem Auskundschaften der Burg erhielten die samaitischen Truppen den Befehl ihres Ältesten, „daz yr zcur Memel vart mit schilde und spere, und brecht daz hus zcu cleynen stucken.“9 Der Angriff der Samaiten auf die Burg erfolgte, laut der Chronik, von vielen Schiffen aus, die von der Ostsee und dem Frischen Haff aus direkt zur Memel steuerten, von wo die Truppen über eine Brücke schließlich zur Burg gelangten. Die in der Chronik geschilderten Verteidigungsanstrengungen der Burgbesatzung müssen vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Eberhard von Sayn samt Heer außer Landes geritten war und nur eine einfache Burgbesatzung zurückgeblieben war, die vermutlich nur Verteidigungszwecken diente. Die nur mit Schildern und Speeren bewaffneten  Samaiten  konnten  jedoch von der Burgbesatzung zurückgeschlagen werden: „Abyr dy brudyr wurfin und schossin yr also vil tod, daz sy hüfficht um dy burg lagin. Czu leczt wichin sy von der burg, und warn betrubit, um dy sy hattin verlorn.“10 Ausgehend von dieser Beschreibung war der Grund für die erfolgreiche Verteidigung der Burg offensichtlich die bessere Kriegsausrüstung der Ordensbrüder, mit Sicherheit lag es nicht an der größeren Truppenstärke. Die Beschreibung der Chronik, dass die Samaiten „czo vil“ 11 ihre Schiffe auf die Memel setzten, deutet ebenfalls darauf hin, dass die Samaiten in der Mehrzahl waren. Die erfolgreiche Verteidigung einer Burg aus der 1. Thematischen Gruppe: Befestigungsanlagen findet an vielen Stellen der Chronik Erwähnung, dabei werden auch Hinweise gegeben, weshalb die Ordensbrüder erfolgreich verteidigen konnten. Manch erfolgreiche Verteidigung kann auch mit in die 2. Gruppe Heroisierung/religiöse Aspekte einbezogen werden und soll im weiteren Verlauf dieser Untersuchung näher erläutert werden.

Die Art der Kriegsführung und die Zielsetzungen

 Ein dritter Aspekt, der in diesem Kapitel erwähnt wird, ist die Reaktion auf den eben geschilderten Angriff seitens des Hochmeisters Poppo von Osterna: „Do dis dem meystir wart gesayt, her besamte yn czorne eyn mechtig heer, und czog obyr den strand uf Czameland.“12 Das Entsenden von Truppen gegen Feinde als Reaktion auf einen vorhergegangenen Angriff stellt in den Beschreibungen der Chronik keine Seltenheit dar (Zuordnung: 3. Thematische Gruppe: Art der Kriegsführung und die Zielsetzungen): Man benötigte einen Anlass und eine Legitimation für die Durchführung der Feldzüge. Die jeweiligen Anlässe für die Durchführung der Feldzüge konnten gleichzeitig auch die bei den Feldzügen verfolgten Zielsetzungen sein. Es gab Rache- und Vergeltungsfeldzüge, die sich von der Art der Durchführung her nicht sonderlich von den ursprünglichen Feldzügen unterschieden, bei denen als Zielsetzung die Christianisierung der Heiden bzw. der Heidenkampf im Vordergrund stand. Bei der eben erläuterten Begebenheit fiel der Hochmeister Poppo von Osterna, nachdem die Ordensbrüder einen Wall am Frischen Haff zerstört hatten, mit seinen Truppen raubend und brandschatzend in das Land der Samaiten ein und erschlug viele aus dem samaitischen Volk („Do sprengtyn sy yns land mit robe und brande und slugin vil volkis“ 13). Schließlich lieferte man sich beim zerstörten Wall noch eine weitere Schlacht.
Die hier dargelegte Art und Weise der Kriegsführung des Deutschen Ordens ist mit der in der heutigen Forschung bekannten und bereits erläuterten Kriegsführung der „Verbrannten Erde“ zu beschreiben. Man wollte nicht nur in einer Art Rachefeldzug einen Ausgleich für die entstandenen Beschädigungen an der Burg schaffen, sondern den Gegner militärisch aber auch vor allem infrastrukturell nachhaltig schwächen. Man zerstörte nicht nur, sondern raubte verwendbare Ressourcen und nahm Geiseln, um das Restliche, was den Feinden nach der Zerstörung übrig bleiben könnte, zu entwenden und zum eigenen Nutzen zu gebrauchen. Auch zog man nach der Strategie der „Verbrannten Erde“ präventiv gegen den Feind ins Feld.14

Die nächsten beiden Kapitel 106 und 107 der Älteren Hochmeisterchronik enthalten mehrere Aspekte, die für die 3. Thematische Gruppe: Art und Zielsetzung der Kriegsführung des Deutschen Ordens charakteristisch sind: Um 1283 zog Konrad von Thierberg (der Jüngere) als Landmeister von Preußen mit einem Heer vom Samland nach Sudauen.15 Als er dem Land nahe kam, traf er auf den Bruder Ludwig von Libencillin und Kanthegirt, den Ältesten der Sudauer, der Ludwig gefangen hielt. Dazu saßen weitere sechzehn Männer und Frauen im Gefängnis, die Ludwig alle zum Glauben bekehrt hatte. Konrad befahl Ludwig die Befreiten in das Samland zu führen. Für die in diesem Kapitel dargestellte Befreiung der Gefangenen bzw. des Ordensbruders Ludwig finden sich in der Chronik viele weitere Beispiele, was darauf schließen lässt, dass es bei der Kriegsführung des Deutschen Ordens auch eine Zielsetzung war, Gefangene zu befreien.16

Weiterhin „[…] sprengte her [Konrad von Thierberg]den andern morgen in Sawdawen, und belag eyne burg Kymenowe gnant mit storme so hart, das sy burgleuthe sich abdyngeten, und globten, sy welden sich lassen touffen und den cristen globen entphan.“17 Die Absicht Konrads, in das feindliche Gebiet der Sudauer einzufallen, mag vor allem darin begründet liegen, dass er die Feldzüge seines älteren Bruders (Konrad von Thierberg der Ältere) gegen die Sudauer fortsetzen und damit die Erschließung des Preußenlandes durch den Deutschen Orden zu einem Ende führen wollte.18 Doch natürlich gab es auch hier die Absicht, die Heiden zu christianisieren, jedoch nicht mehr durch friedliche Missionierung, sondern durch Gewaltanwendung. Die in diesem Kapitel angegriffenen Sudauer kannten bereits aus vorhergegangenen Kämpfen die Zielsetzung der Kriegsführung des Deutschen Ordens, nämlich den Herrschaftsanspruch über Preußen und die Christianisierung der Heiden. Um weiteres Leid abzuwenden, gelobten die Burgleute von Kymenowe, sich taufen zu lassen und den christlichen Glauben anzunehmen. Genauere Angaben zum Ablauf der Belagerung und zur Erstürmung der Burg sind nicht wiedergegeben, jedoch muss das Ausmaß („mit storme so hart“) unerträglich für die Sudauer gewesen sein. Mit dem Erreichen der einen Zielsetzung ihrer Kriegsführung, nämlich der Christianisierung der Sudauer, war Konrad zufriedengestellt und er vertraute die vermeintlich christianisierten Sudauer einem „leitzcman“ an, mit dem sie ins Samland gehen sollten. Diese Sudauer überwältigten auf ihrem Weg ins Samland den „leitzcman“, stachen ihm die Augen aus und flohen nach Litauen. In Sudauen hingegen wandte sich ein edler und mächtiger Sudauer mit seinem Gefolge an die Brüder und ließ sich taufen. Ihr Hauptmann Seurde verweigerte aber die Taufe und zog mit anderen Sudauern nach Litauen. Das Kapitel endet mit der Angabe, dass das Land wüst blieb, was bedeuten kann, dass ohne den Hauptmann Seurde der letzte Widerstand der Sudauer gebrochen war und somit das Vorhaben des Deutschen Ordens erfolgreich war.

Das darauffolgende Kapitel 107  beginnt mit der Angabe, dass um 1283 „[…] dy bruder dy Prewszen alle betwungen und zcum globen brachten, do griffen sy dy Littawen an.“19 So ist in diesem Kapitel die Rede von zwei Feldzügen, die im Winter 1283 und 1284 unter der Leitung von Konrad von Thierberg (der Jüngere) gegen die Litauer durchgeführt wurden. Obwohl die Littauerreisen und der damit einhergehende Heidenkampf an den Grenzen Livlands, laut dem heutigen Forschungsstand, erst ab 1302/1304 durchgeführt wurden,20 weisen die in diesem Kapitel beschriebenen Raubzüge in der Art ihrer Durchführung durchaus Ähnlichkeiten mit den späteren „Littauerreisen“ auf. Auffällig an der Beschreibung des Kapitels 107 sind auch die häufigen Bezeichnungen der Litauer als Heiden und der Ordensbrüder als Christen. Diese vermutlich absichtlich vorgenommene Kontrastierung des Chronisten deutet darauf hin, dass bereits dieser Feldzug als religiös-begründet, angesehen werden sollte. Eine mögliche Absicht des zweiten Feldzuges konnte ein Racheakt an einem Barten sein, der zwei Komture des Ordens hatte gefangen nehmen lassen und einen Kaplan erhängt hatte. Die Art der Durchführung der beiden Feldzüge kann ebenfalls mit den gängigen Praktiken des Plünderns, Raubens und der Gefangennahme beschrieben werden. Hinsichtlich des Umgangs mit der eroberten Burganlage wird in diesem, wie auch in den anderen Kapiteln der Chronik beschrieben, dass die Burganlage, nachdem sie eingenommen wurde, verbrannt bzw. zerstört wurde. Auch wurde in Kapitel 21 die gezielte Verbrennung des Vorlandes geschildert. Demnach gab es laut den Darstellungen der Chronik eine durchgängige Praxis der Zerstörung im Umgang mit eroberten Burganlagen.

Weitere repräsentative Beispiele der 3. Thematischen Gruppe: Art und Zielsetzung der Kriegsführung sind in den Kapiteln 187, 41, 119 und 58 enthalten. Eine in der Chronik häufig erwähnte Strategie der Kriegsführung des Ordens war es, das Heer an geo-strategisch wichtigen Punkten zu sammeln oder eine Burg zu bemannen21.“ Kapitel 187, S. 621: „Czu hant reit em entkegen der kompthur vom Elwinge in eyne lantwer.“], um den Gegner abzuschrecken oder auf den Angriff einer bestimmten Region schnell reagieren zu können. Um die Schritte des Gegners im Voraus zu bemerken und  sich auf einen Angriff vorbereiten zu können, ließ man, wie z.B. im Kapitel 41 beschrieben, Wege überwachen: „Meyster Werner leyte uf alle wege hute, dy zcu Littawen geen, uf daz her seyn land bewerte.“22 Wie aus den Darstellungen des Kapitels 119 überaus deutlich wird, wurde man auch durch Boten und Verbündete vor Angriffen und Hinterhalten gewarnt. Zudem sandte man Kundschafter voraus, die wie im Kapitel 58 berichtet, die Schritte der in der Nähe weilenden feindlichen Truppen in Erfahrung bringen sollten: „Dy brudyr rittin ym mit truwen, daz her [Graf von Julich] boten sente zcu vorn uf dy strasszen, ab ym dy Prusen icht hetten dy wege vorleit.“23

 

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Empfohlene Zitierweise: Blümel, Jonathan (2012): Die Kriegsführung des Deutschen Ordens in der Älteren Hochmeisterchronik (I). In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 


Bibliographie:

  1. Forey, Alan: The military orders: from the twelfth to the early fourteenth centuries. Basingstoke 1992.  S. 190.
  2. Siehe Goetz, Hans-Werner: Proseminar Geschichte: Mittelalter. Stuttgart 2006. S. 111.
  3. Siehe Vollmann-Profe, Gisela: Textfeld 3: Das ausgehende 14. und die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Feistner, Edith / Neecke, Michael / Vollmann-Profe, Gisela: Krieg im Visier. Bibelepik und Chronistik im Deutschen Orden als Modell korporativer Identitätsbildung. Tübingen 2007. (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge, Bd. 114). S. 189.
  4. Anm.: Der Großteil der Handschriften stammt aus dem 15./16. Jhr., jedoch gibt es auch Handschriften, die zu einem früheren Zeitpunkt angefertigt wurden. Vgl. Hirsch, Theodor / Töppen, Max / Strehlke, Ernst: Scriptores rerum Prussicarum : die Geschichtsquellen der preussischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft. Band 3. Leipzig 1866. S. 519.
  5. Vgl. Vollmann-Profe 2007. S. 188.
  6. Vgl. Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 530f. ; Vollmann-Profe 2007. S. 190-194.
  7. Vgl. Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 556.
  8. Vgl. Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 556.
  9. Vgl. Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 556.
  10. Vgl. Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 556.
  11. Vgl. Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 556.
  12. Vgl. Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 556.
  13. Vgl. Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 556.
  14. Vgl. Hruschka, Constantin: Kriegsführung und Geschichtsschreibung im Spätmittelalter: eine Untersuchung zur Chronistik der Konzilszeit. Köln 2001. S. 108.
  15. Vgl. Lohmeyer, Karl: Thierberg, Konrad von (der Ältere), in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Allgemeine Deutsche Biographie. Band 38. München 1894. S. 2-3.
  16. Vgl. im Kapitel 187, S. 621: „Der meister lis sy vil beten, das sy weder geben, das sie des orden leuthen genomen hetten. Des wolden sie nicht thun. Dorumb besamelte sich der voyt von der leype mit dem colmischen lande, und czoch in der meynunge uff Dabryn, weder zcu vordern, was des orden lewte in dem here were.“
  17. Vgl. Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 579.
  18. Vgl. Lohmeyer 1894. S. 2-3.
  19. Siehe Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S.579.
  20. Vgl. Paravicini, Werner, s.v. Preußenreise, in: LMA VII. S. 197 ; Boockmann, Hartmut: s.v. Preußenreise, in LMA III. S. 774 ; Militzer 2005. S. 117 ; Hruschka, Constantin: Kriegsführung und Geschichtsschreibung im Spätmittelalter : eine Untersuchung zur Chronistik der Konzilszeit. Köln 2001. S. 98-99 ; Boockmann 1981. S. 160 ; Ziegler, Uwe: Kreuz und Schwert. Köln 2003. 144-148..
  21. Vgl.: Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. Kapitel 41, S. 557: „Unterirdes samethe der meyster eyn gros heer,und wold dy Russen bestreyten […
  22. Siehe Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 557.
  23. Siehe Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 564.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/06/quellenuntersuchung-die-kriegsfuhrung-des-deutschen-ordens-in-der-alteren-hochmeisterchronik-i/

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Die Kriegsführung des Deutschen Ordens in der Älteren Hochmeisterchronik (II)

Die Heroisierung und die religiösen Aspekte der Kriegsführung

Vor diesem Ereignis berichtet der Chronist im Kapitel 58 von einer Notlage der Brüder in Preußen, die beklagten, dass sie zwei Jahre viel untereinander gestritten hätten und allezeit den Preußen in Kämpfen unterlegen gewesen wären und befürchteten, dass Gott auf sie zornig wäre und er sich mit seiner Gnade von ihnen abgewandt hätte: „Dorumme schregin sy yinnielich zcu gote, daz her en hulfe sente. Unszer hirre horte yr gebethe, und sante yn czweyer hirren mut, von Marche und von Julich. Dy quamen ken Prusen mit groszer Macht.“1 Für die Beschreibung der göttlichen Hilfe und von Gott gegebene Stärke im Kampf finden sich mehrere Beispiele in der Chronik. Im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Kreuzzugsidee war die Verquickung von Militär und Religion für Kreuzzugsfahrer und insbesondere für die geistlichen Ritterorden geradezu notwendig. Im Sinne des durch Gott und die Kirche legitimierten Glaubenskampfes sollten „alle militärischen Aktivitäten bei der Verwirklichung der Gottesmission auf Erden“2 eingesetzt werden. Wie in diesem Kapitel der Chronik deutlich wird, wurden  Missgeschick im Kampf oder Niederlagen als Zeichen für den möglichen Verlust der Gunst Gottes gedeutet.

Ein weiterer Aspekt der Religiosität ist im Kapitel 53 der Chronik aufgeführt, in dem die Himmelsfahrt der im Kampfe gefallenen Brüder geschildert wird: In einem Kloster sah die Schwester des Hochmeisters Konrad von Feuchtwangens in einer Vision den Tod einiger Ordensbrüder: „Sy sach yn eynem gesichte, wy dy brudyr mit eren luten streten wedyr dy hediin und wurdin alle von den heidin gevelt. Och sach sy dy engel gotis dy czelen vuren zcu hymmelrich.“3 Außerdem wird im Kapitel 68 davon berichtet, dass auf einem Schlachtfeld, auf dem die Prußen und Ordensbrüder kämpften, sich ein Einsiedler niederließ und bei Nacht sah, wie „vil kerczin burnen uf dem velde, do dy cristin lagin yrslayn. Daz waz yo eyn czeichin, daz dy zelen, dy durch got hy ledin peyn, dort von ym yr lon mit dem martyrer entphangin han.“4 Auch hier wird das Kriegswesen mit religiösen Elementen verknüpft. Die gefallenen Brüder werden zu Märtyrern erhoben und ihrem Tod wird eine übernatürliche Sinnhaftigkeit zugesprochen, die mit einer Heroisierung ihrer Taten im Krieg einhergeht. Die hier beispielhaft vorgestellten Passagen der Chronik verdeutlichen, welch einflussreiche Komponente die Religiosität  (2. Thematische Gruppe: Heroisierung/ Religiöse Aspekte der Kriegsführung) bei den Feldzügen des Deutschen Ordens gespielt haben muss.

Wie eng aber Religiosität mit der Heroisierung von kämpfenden Ordensbrüdern einhergeht, zeigt ebenfalls das Kapitel 53, in dem die Nonne in einer zweiten Vision sieht, wie ein gottesfürchtiger Pruße zu seinem Gesinde sagt: „ Ey seth yr nicht, wy gar menlich dy brudyr unszer hirren streiten kegin dy heidin? Seth, wy dy Prusen und Liflendyr  von en  vliehen, und dy brudyr mit wenig getruwer man sten yn groszer noth! O we, leydyr ich sehe, daz man sy alle dyrncdyr sleth tod. Ich sehe och Marien, dy muter gotis, sschon ere czelen uf zcu hymmel vuren.“5 Deutlich wird in dieser Passage, wie wichtig es war, den gefallenen Ordensbrüdern in der Öffentlichkeit eine Funktion zuzuweisen und ihre Himmelsfahrt oder gar ihre Erhebung zu Märtyrern literarisch aufzugreifen. Die sogenannte göttliche Mission war mit großen persönlichen Opfern verbunden, bis hin zu Menschen die ihr Leben für die Mission ließen. Diese Opfer wurden jedoch erst durch die Verheißung der Seligkeit und des erlangten Märtyrertums sinnvoll.

Untersucht man die Chronik auf treffende Beispiele für die Heroisierung der kämpfenden Ordensbrüder, so wird man wie im zuvor erwähnten Kapitel 53 auf Beschreibungen wie z.B. „männliche“ Verteidigung oder „männlichen“ Kampf treffen.6  Man kann annehmen, dass mit der Heroisierung der gefallenen und aber auch der überlebenden Ordensbrüder der Nachwelt die Tapferkeit und „Männlichkeit“ der Kämpfenden vor Augen geführt werden sollte. Deutlich wird diese Heroisierung auch, wenn bei der Beschreibung von Kampfhandlungen einzelne Ordensbrüder und ihre Taten besonders hervorgehoben werden. So wurden im Kapitel 121 die Ordensbrüder vom Komptur von Ragnith, Konrad von Stange, durch eine Rede „männlich“ getröstet und ermuntert, trotz ihrer Unterlegenheit,  die litauische Burg Junygede anzugreifen: „Got hat ufte dy seneym awsz noten irlust, dy em getrawen. Wir sein alle umb senen willen herkomen, das wir dy heiden zcum globen wellen brengen, addir sie vortilgen; dorumb lasse wir unser vorchte seny, und getrawen em gantcz. […] Czu hant sprengten sy an dy viude und slugen ir anc czal dirtedir, das ander teil quam fluchtig von dannen.“7 In der Chronik werden auch zahlreiche Beispiele genannt, wonach der Ausgang eines Kampfes nur durch die Tapferkeit und das Geschick eines einzelnen Ordensbruders entschieden wurde. So werden auch in dem Bericht von Kapitel  99 und 100 ausdrücklich die Tapferkeit des Bruder Merten von Golyn mit seinen Führungsqualitäten sowie sein Geschick im Kampf gerühmt. Bezeichnend ist aber auch der Anfang des Kapitels 99, der verdeutlicht, dass ganz bewusst heroische Erzählungen für die Nachwelt in literarischer Form bewahrt wurden: „Wunderliche abentewre sint vor jaren gescheen den cristen strutern. Der was eyner Marten von Golyn, der ander Conrad Tewfel, Stöbemel der dritte, Kudar der virde, Nakaym der fünfte. Disze helden haben bey iren czeiten vele menlicher taten begangen, das ich ir aller nicht beschreben kann.“8 Allgemein erscheint der Grund für die Aufnahme der heroischen Erzählungen in die Chronik recht simpel: Die Kriegsführung des Deutschen Ordens im Baltikum wurde von den Taten und Geschicken einzelner kämpfender Ordensbrüder bestimmt. Doch natürlich wurde die Kriegsführung des Deutschen Ordens auch durch das Missgeschick Einzelner bestimmt. So lassen sich kontrastierend zu den heroischen Darstellungen der Chronik und der erfolgreichen Verteidigung einer Burganlage in der Chronik auch Gegenbeispiele finden: Im Kapitel 57 ist die Rede davon, dass „dy brudyr zcu Resel hortin, daz dy drey burge [Braunsberg, Christburg und Königsberg]warn belegin, sy yrschrakyn sere und suchtin machin rath, waz en zcu thun were daz beste. Zcu letczt vorbrantin sy dy burg und entwichin weg durch dy wiltnys.“9 Dass die Beschreibung des Aufgebens und Verbrennens der Burg sowie die Darstellung der Ordensbrüder von Reszel als erschrocken, ratsuchend und flüchtend vor den Feinden in die Erzählungen der Chronik eingegangen sind, liefert zur Charakterisierung des Chronisten als einem mitunter auch kritischen Betrachter des Ordens einen wichtigen Beitrag.

Fazit

Abschließend ist festzuhalten, dass die Art und Weise der Kriegsführung des Deutschen Ordens sowie die bei den Kampfhandlungen verfolgten Zielsetzungen sich anhand des vorliegenden Quellenmaterials problemlos charakterisieren lassen. Die ausgewählten Passagen aus der Chronik lassen sich zudem mithilfe der Fachliteratur in den historischen Kontext einordnen. Zudem können anhand der Ergebnisse der Quellenuntersuchung die Motive des Chronisten näher betrachtet werden, der einerseits heroische Erzählungen wiedergibt, aber auch mit deutlich erkennbarer Absicht ordenskritische Bemerkungen macht und Niederlagen und Momente des Versagens der Ordensbrüder mit in seine Erzählungen einbezieht.

Mit der Kenntnis des im Artikel Die Kriegsführung des Deutschen Ordens im Baltikum erarbeiteten historischen Kontextes ist zunächst festzustellen, dass die ausgewählten repräsentativen Beispiele aus der Chronik in ihrem Inhalt und der geschichtlichen Wirklichkeit, die sie transportieren, als durchaus repräsentativ für die Geschehnisse im Baltikum vom 12.-15. Jhr. gelten können. Die ausgewählten Passagen aus der Chronik lassen sich zudem mithilfe der Fachliteratur in den historischen Kontext einordnen. Zudem können anhand der Ergebnisse der Quellenuntersuchung die Motive des Chronisten näher betrachtet werden, der einerseits heroische Erzählungen wiedergibt, aber auch mit deutlich erkennbarer Absicht ordenskritische Bemerkungen macht und Niederlagen und Momente des Versagens der Ordensbrüder mit in seine Erzählungen einbezieht.

Die Erzählweise der Chronik ist zumeist sehr knapp gehalten, was manch wissenswerte Hintergründe und Details im Dunkeln lässt. Die Chronik erscheint dem heutigen Leser wie ein überblicksartiges Werk, das seine gute Lesbarkeit durch die Kürze der Beschreibung der einzelnen Begebenheiten erhält.

Der Charakter der Kriegsführung des Deutschen Ordens im Baltikum ist laut der Chronik so zu beschreiben: Der Schauplatz vieler Kampfhandlungen waren die Burgbefestigungen, die als strategisch wichtige Stützpunkte, häufiges Angriffsziel des Ordens, aber auch seiner Gegner waren. Die Art der Kriegsführung ist mit der hinlänglich bekannten Strategie der „Verbrannten Erde“ zu beschreiben, die in den Darstellungen der Chronik durch die zahlreichen heroischen und religiösen Erzählungen mitunter glorifiziert wird. Um letztendlich die Oberherrschaft über die baltischen Regionen zu erlangen und die Christianisierung der heidnischen Völker zu bewirken, schien der Deutsche Orden, laut den Darstellungen der Chronik, bei seiner Kriegsführung die Zielsetzung zu verfolgen, den Gegner nachhaltig seiner Ressourcen, Infrastruktur und seiner religiösen Gebräuche zu berauben.

 

Empfohlene Zitierweise: Blümel, Jonathan (2012): Die Kriegsführung des Deutschen Ordens in der Älteren Hochmeisterchronik (II). In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 


Bibliographie:

  1. Siehe Hirsch, Theodor / Töppen, Max / Strehlke, Ernst: Scriptores rerum Prussicarum : die Geschichtsquellen der preussischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft. Band 3. Leipzig 1866. S. 564
  2. Siehe Kwiatkowski, Stefan: Der Deutsche Orden im Streit mit Polen-Litauen. Eine theologische Kontroverse über Krieg und Frieden auf dem Konzil von Konstanz (1414-1418). Stuttgart 2000. S. 27.
  3. Siehe Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 562.
  4. Siehe Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 568.
  5. Siehe Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 563.
  6. Vgl. Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 563. Kapitel 55 „Do wedyr wertin sich dy geste mit den brudirn menlich, sundirlich eyn rittyr her Schenkel von Byntheym aus Westvalerland, der durch reit mit seyme sper der vinde heer, daz ym der Prusyn zcu beydin seyten vil tod blebin, und do her sich umme wante und mittene yn daz heer quam, do wart der gotis rittyr och yrslayn.“
  7. Siehe Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 583.
  8. Siehe Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 577.
  9. Siehe Hirsch / Töppen / Strehlke 1866. S. 564.

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Die Notwendigkeit des „History Managements“ in der heutigen Zeit

Wie wichtig die Aufarbeitung von Unternehmens- und Markengeschichte in der heutigen Zeit ist, soll im Folgenden im Zusammenhang mit dem sogenannten „History Management“, erläutert werden. „History Management bedeutet, in der Gegenwart die Potenziale der Vergangenheit zu nutzen, um in der Zukunft erfolgreich zu sein.“1

Die Historie oder Geschichte eines Unternehmens beginnt mit ihrer Gründung und erstreckt sich bis ins Heute. „History Management“ bezieht sich auf das gesamte Unternehmen mit allen zugehörigen Produkten und Marken. Dementsprechend nimmt die Markenhistorie einen wesentlichen Teil im „History Management“ ein. Laut Herbrand/Röhrig soll die Historie „als erfolgsrelevante Ressource“ verstanden werden und „zum Zwecke der Erreichung der Unternehmens-/Markenziele effektiv und effizient“2 in das Unternehmensmanagement einbezogen werden.

Bedingt durch die globalisierten Wirtschaftsmärkte, die Fusionen, Insolvenzen, Übernahme von Unternehmen und die Entstehung von „ Markenfriedhöfen“ mit dem Verschwinden von traditionsreichen Marken und Unternehmen wie z.B. Mannesmann und Telefunken, sind wesentliche Aspekte der „corporate identity“ wie Werte, Tradition, Kontinuität und Identität von Produkten und Unternehmen in der heutigen Wirtschaftswelt schwer zu vermitteln. Auch die Marken sind als Aushängeschilder und Assoziationsfelder der Unternehmen durch die „brand parity“3: die Vielzahl der Produkte, die Austauschbarkeit der Produkte („weil sie mit identischen Markenwerten [… ] wie Qualität, Preis, Design [….] etc. aufgeladen werden können“4) schweren Bedingungen unterworfen.5 Analog dazu steigt bei Konsumenten „das Bedürfnis nach Kontinuität, Orientierung, Vertrautem und Sicherheit. Marken bieten“, laut Herbrand und Röhrig, „in diesem Kontext Orientierungs- und Identifikationspotenziale.“6 So bietet das „History Management“ gerade an dieser Stelle viel Potenzial, denn die Lehren die man aus seiner Unternehmensgeschichte zieht, schaffen Orientierung und Klarheit, sie helfen die eigene Unternehmensstrategie zu korrigieren und stärken die eigene „coporate identity“. Die Geschichte eines Unternehmens und seiner Marken sagt viel über die Identität des Unternehmens aus, dementsprechend bietet eine charaktervolle und lebensnahe Unternehmensidentität viel Identifikationspotenzial für die Kunden. Kontinuität, Tradition, Integrität und Dynamik sind als Teil der Unternehmensgeschichte vertrauenserweckende Attribute.7 Doch auch wenn die Unternehmensgeschichte weniger ruhmreich ist, zählt doch entscheidend der Umgang des Unternehmens mit seiner Geschichte in der Gegenwart. Manch kritischer Betrachter wird fragen: Wählt das Unternehmen den Umgang mit der eigenen Unternehmensgeschichte aus einer Traditionsverbundenheit und mit dem Ziel die Potenziale der vergangenen Unternehmensgeschichte (im Sinne des „History Managements“) zu nutzen? Oder bezieht sich das Unternehmen bewusst auf positive Aspekte der eigenen Geschichte (wie z.B. historische Unternehmensbilder, -persönlichkeiten und die Markengeschichte) um die Geschichte des Unternehmens ins rechte Licht zu rücken und von dunklen Kapiteln der Unternehmensgeschichte abzulenken?8

Die Maxime des „History Managements“ – nämlich „in der Gegenwart die Potenziale der Vergangenheit zu nutzen, um in der Zukunft erfolgreich zu sein“9 , bedeutet auch, sich den Fehlern und schweren Kapiteln seiner Vergangenheit zu stellen, um Glaubwürdigkeit in der Gegenwart zu erhalten, seine Lehre aus der Vergangenheit ziehen, um in der Gegenwart authentisch zu bleiben. Dokumentiert man diese Aufarbeitung der Unternehmensgeschichte und präsentiert die bewältigten Lernprozesse öffentlich, kann mit Zuversicht davon ausgegangen werden, dass begangene Fehler in der Zukunft vermieden werden können. Die Aufarbeitung der Unternehmensgeschichte wird wahrgenommen und von Öffentlichkeit und Presse aufgegriffen und weiter verbreitet, was wiederum für weitere Unternehmens- bzw. Markenbekanntheit sorgen kann. Denn das jeweilige Unternehmen kann im Bereich „corporate social responsibility“ verdeutlichen, dass es seine Rolle als „Bestandteil der Alltagskultur“10, nämlich als „corporate Citizen“ verantwortungsvoll wahrnimmt, indem es durch seine

„Entscheidungen, Produktentwicklungen und […] [sein] Marketing die Gesellschaft in ihren Strukturen sowie das Leben der Menschen und ihre Gewohnheiten, mithin deren Geschichte, entscheidend prägt.“11

Der offene und transparente Umgang mit der eigenen Unternehmensgeschichte fördert im Zusammenhang mit der Vorstellung der Marken-, Produktgeschichte und der Unternehmenstraditionen die Glaubwürdigkeit des Unternehmens in der Öffentlichkeit und schafft Vertrauen und Nähe bei Kunden.

Zusammengefasst ist das sogenannte „History Management“ eines Unternehmens der verantwortungsvolle Umgang mit der eigenen Unternehmensgeschichte sowie das Ausschöpfen der Potenziale und vermittelt dem Kunden, dass das Unternehmen selber seine Vergangenheit, mit den positiven (daher erwähnenswerten) Kapiteln der Unternehmensgeschichte, aber auch vor allem mit allen Schattenseiten und Krisen (umso erwähnenswerter),  aufarbeitet, sich zu Fehlern bekennt und daraus die notwendigen Schlüsse für die Gegenwart und Zukunft des Unternehmens zieht.

 

Empfohlene Zitierweise: Blümel, Jonathan (2012): Die Notwendigkeit des „History Managements“ in der heutigen Zeit. In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 


Bibliographie:

  1. Siehe Herbrand, Nicolai Oliver / Röhrig, Stefan: History Management – Grundzüge eines umfassenden Ansatzes zur Ausschöpfung des Erfolgspotenzials Markenhistorie, in: Herbrand, Nicolai Oliver / Röhrig, Stefan: Die Bedeutung der Tradition für die Markenkommunikation. Konzepte und Instrumente zur ganzheitlichen Ausschöpfung des Erfolgspotenzials Markenhistorie. Stuttgart 2006. S. 564.
  2. Ebenda S. 563.
  3. Vgl. Janssen, Philip / Krawietz, Marian: Geschichte als Kapital, in: Pressesprecher, 05/2004. Berlin 2004. S. 26.
  4. Siehe Schug, Alexander: History Marketing. Ein Leitfaden zum Umgang mit Geschichte in Unternehmen. Bielefeld 2003. S. 16
  5. Vgl. Herbrand / Röhrig 2006. S. 565.
  6. Siehe Herbrand / Röhrig 2006. S. 566.
  7. Vgl. Buß, Eugen: Die gesellschaftliche Bedeutung von Traditionsbildern, in: Herbrand, Nicolai Oliver / Röhrig, Stefan: Die Bedeutung der Tradition für die Markenkommunikation. Konzepte und Instrumente zur ganzheitlichen Ausschöpfung des Erfolgspotenzials Markenhistorie. Stuttgart 2006. S. 199-212.
  8. Siehe Herbrand / Röhrig 2006. S. 570.
  9. Siehe Herbrand / Röhrig 2006. S. 564.
  10. Siehe Herbrand / Röhrig 2006. S. 573.
  11. Vgl. Schug, Alexander: History Marketing. Ein Leitfaden zum Umgang mit Geschichte in Unternehmen. Bielefeld 2003. S. 18.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/05/die-notwendigkeit-des-„history-managements-in-der-heutigen-zeit/

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Die Kriegsführung des Deutschen Ordens im Baltikum

Zur Zeit des Hochmittelalters herrschte die allgemein verbreitete Denkweise, dass die Herrschaftsbildung und der Erwerb von Besitztümern in einem heidnischen Gebiet durch christliche Herrscher sowie Ritter und Adlige dazu dienten, dort die christliche Mission voranzutreiben und zu schützen und alle Widerstände gegen das Christentum zu beseitigen. So sollte der „weltliche Arm“, das heißt militärische und politische Mittel die Ausbreitung des Christentums vorantreiben. Mit der Bewältigung dieser Aufgaben waren Ritterorden wie der Deutsche Orden betraut, die im Heiligen Land gegründet worden waren.1

So kam es im Jahre 1147 dazu, dass erstmals erwogen wurde, das ursprüngliche Vorhaben der Kreuzzugsidee, nämlich die Verteidigung des Christentums bzw. die Wiedergewinnung heiliger Stätten in Jerusalem, auf die Gebiete der Heiden in den Gebieten wie Brandenburg, Mecklenburg und Pommern zu übertragen. Bei dieser Adaption der Kreuzzugsidee ging es darum, einen „religiös verdienstlichen Heidenkampf[…]“2 für die „Wiedererlangung christlicher Besitzrechte oder zum Schutze der Kirche oder der Christen“3 gegen die als heidnisch bezeichneten Völker in nordosteuropäischen Gebieten zu führen. Ursprünglich musste ein, im Sinne des von Kirchenvater Augustinus von Hippo ausgerufener, „gerechter Krieg“ „im Namen und auf Anordnung einer legitimen Autorität“4 wie z.B. dem Papst oder dem Kaiser ausgerufen werden. Weiterhin musste dem heiligen Krieg ein gerechter Kriegsgrund wie eine Unrechtshandlung des Gegners zugrundeliegen und gute Absichten mussten mit der Ausübung des Krieges verbunden sein.5

Im folgenden Artikel soll der heutige Forschungsstand über das Kriegswesen des Deutschen Ordens in Preußen, Livland vorgestellt werden.

Ab der Mitte des 12. Jhr. begannen die Kreuzzüge gegen die heidnischen Elbslawen und gegen Ende des 12. Jhr. bzw. am Anfang des 13. Jhr. gegen die heidnischen Völker im Baltikum. Unter ihnen waren neben den Letten, Kuren, Esten auch die Litauer, Prußen und Liven.6 Letztere drei Völker sollten vor allem vom Deutschen Orden, einem geistlichen Ritterorden, christianisiert werden. Sogenannte geistliche Ritterordnen entstanden am Anfang des 12. Jhr. n. Chr. im Zusammenhang mit den Kreuzzügen von europäischen, christlichen Herrschern gegen muslimische Herrscher im Heiligen Land. Diese Ritterorden waren ähnlich einem geistlichen Glaubensorden mit Gelübden der „Keuschheit, Armut und Gehorsam“7 organisiert, verbanden dieses jedoch mit einer Art christlichem Rittertum und dem organisierten militärischem Kampf gegen die Gegner der Christen. Als einer der drei größten geistlichen Ritterorden war der Deutsche Orden als ein Feldlazarett (“Hospital Sankt Mariens des Deutschen Hauses zu Jerusalem”8) nach dem Dritten Kreuzzug im Zeitraum vom Winter 1189 bis Frühjahr 1190 entstanden. Diese Gruppe von Ordensbrüdern,  die sich aus Bremer und Lübecker Kreuzfahrern zusammen setzte, machte es sich zur Aufgabe, die Kranken und Verletzten während einer Belagerung zu versorgen und sich am Heidenkampf zu beteiligen.9 Obwohl nach der Eroberung Akkons in Syrien die Brüder des neuen Ordens nicht die Befehlsgewalt über alle Spitäler Akkons erhielten, nahmen ihre Besitztümer und ihr Einfluss in und um Akkon zu. Im Laufe der nächsten Jahre erhielten sie weitere Privilegien und waren für die „Versorgung der Pilger, Kranken und Bedürftigen“10 zuständig und wurden nach ihrer Erhebung 1198 zu einem Ritterorden auch in den militärischen Kampf gegen die Sarazenen einberufen.11 Schließlich wurde die Erhebung zum Ritterorden am 19. Februar 1199 von Papst Innnozenz III. bestätigt.12

Der heutige Forschungsstand über die Kriegsführung des Deutschen Ordens

Nach der Rückeroberung des Heiligen Landes durch die Sarazenen ab 1291 zogen sich auch die Brüder des Deutschen Ordens endgültig von dort zurück. Dem Deutschen Orden blieben zahlreiche einzelne Besitzungen im Heiligen Römischen Reich und auch außerhalb des Reiches, jedoch besaßen sie kein zusammenhängendes größeres Territorium, über das sie alleine herrschen konnten.13 Zudem mussten sie auf der Balkanhalbinsel die Besitzung Burzenland in Siebenbürgen, die sie für ihre Hilfe in der Schlacht von 1211 gegen die Kumanen vom König von Ungarn erhalten hatten, wegen ihrer Vertreibung von dort bereits um 1225 wieder verlassen.14

Der Deutsche Orden im Baltikum

Schließlich wurde um 1225/1226 der Orden dringend gebeten, Konrad von Masowien zu helfen, seine Grenzen gegen den Einfall der heidnischen Prußen zu verteidigen.15 Außerdem sollte die Christianisierung des Baltikums fortgeführt werden, denn bereits von 1200 bis 1226 hatten polnische Herzöge zahlreiche vergebliche Versuche unternommen, durch Kreuzzüge die heidnischen Prußen zu christianisieren. Der 1216 vom Papst Innozenz III. zum Bischof von Preußen ernannte Christian organisierte viele dieser gewaltsamen Unternehmungen und bemühte sich zugleich, Besitzungen östlich der Weichsel im pommerellischen-prußischen Grenzgebiet zu erlangen.16 Im Kruschwitzer Vertrag übergab Konrad um 1230 dem Deutschen Orden, unter der Leitung des Hochmeisters Hermann von Salza, Gebiete wie das Kulmer Land, das Löbauer Land, alle künftigen eroberten Gebiete im Preußenland sowie die am linken Weichselufer gelegenen Städte Orlow und Nessau, die als die Ausgangspunkte für die ersten Eroberungsfeldzüge fungieren sollten.  Kaiser Friedrich II. stattete in der Goldenen Bulle von Rimini, deren Ausstellung entweder auf 1226 oder 1235 datiert wird, den Deutschen Orden mit weiteren Privilegien zur Eroberung des Preußenlandes aus und bestätigte die Schenkungen Konrads.17

So begannen die Ordensbrüder ab 1230/1231 unter der Leitung des Landmeisters Hermann von Balk mit der Eroberung des Preußenlandes „entlang der Weichsel und […] der Ostküste“18 und errichteten mit Hilfe der Kreuzfahrer  zahlreiche Städte und Burgbefestigungen, sorgten für die „Ansiedlung christlicher Bevölkerung“19, verpflichteten die unterworfenen Prußen zu Dienstleistungen und unternahmen gewaltsame Missionierungsversuche der Prußen. Zudem wurden die Ordensritter bei ihren ersten Kreuzzügen gegen die Prußen durch die Truppen der polnischen Herzöge aus Kujawien, Masowien, Schlesien und dem pommerellischen Herzog Swantopolk unterstützt.20

Bis 1233 war das Kulmerland weitestgehend erobert und man zog in das prußische Pomesanien und errichtete dort Stützpunkte und griff prußische Burgen an. Ab 1237 wurden die Pogesanier unterworfen und die Burg Elbing (Elbląg) errichtet.21 Von 1240 bis 1255 eroberte man auch die Gebiete des Samlands an der Küste. Das Preußenland wurde ab 1243 in die vier Diözesen Pomesanien, Kulmerland, Ermland und Samland aufgeteilt und unterstand dem Schutz des Papstes. Schließlich wurden die Gebiete Preußens bis 1283 vom Deutschen Orden erobert.22

Zusätzlich zu den errungenen herrschaftlichen Befugnissen im Preußenland hatte sich auch in Livland um 1236 eine Perspektive für die Etablierung des Deutschen Ordens ergeben: Nach einer verheerenden Niederlage gegen die Litauer in Schaulen (Šiauliai) wurde der Schwertbrüderorden auf Geheiß des Papstes Gregor IX. vom Deutschen Orden inkorporiert und der Deutsche Orden führte die Missionierung Livlands weiter. Bereits seit 1185 hatten deutsche Kaufleute und Hartwig II, der Erzbischof von Hamburg-Bremen friedliche Versuche unternommen, die Liven zu christianisieren. Als dies scheiterte, ergriff man mit den Kreuzzügen gewaltsame Mittel zur Christianisierung der Bewohner Livlands und gründete 1202 den Schwertbrüderorden, der den Bischof bei seiner Mission unterstützen sollte.23 Die Missionierung Livlands ging einher mit der „systematischen Unterwerfung des Landes“24, was bedeutete, dass Livland zu zwei Dritteln in je zwei bischöfliche Kirchenstaaten unterteilt wurde und das letzte Drittel dem Schwertbrüderorden gehörte. Auch der Deutsche Orden durfte nach der Inkorporation des Schwertbrüderordens nur ein Drittel Livlands eigenständig beherrschen und unterstand „wie zuvor die Schwertbrüder, der Oberhoheit des Bischofs von Riga.“25 Von 1242 bis 1244 eroberte der Deutsche Orden zudem das benachbarte Kurland und ließ 1245 in Goldingen (Kuldīga) eine Burg errichten. Ein Drittel des Kurlandes unterstand künftig dem Deutschen Orden, zwei Dritteln den Bischöfen, allerdings war der Orden im Kurland nicht, wie in Livland, „der Obödienz des Bischofs unterworfen.“26 Die Organisation des Deutschen Ordens gliederte sich vermutlich seit ihren Anfängen in fünf Ämter (Großgebietiger), die dem Hochmeister untergeben waren. Es gab den Großkomtur, der die meisten Besitzungen des Ordens besaß und verwaltete und der Stellvertreter des Hochmeisters war. Weiterhin war der Spittler „der Oberaufseher des Spitalwesens“, der Tressler „verwaltete die Privatschatulle und das persönliche Vermögen des Hochmeisters“27. Dem Obersttrappier oblag die Zensorenbefugnis über Kleidung und Erscheinung der Ordensritter und dem Marschall oblag alle Befehlsgewalt über das Militär. Zusätzlich gab es die Landmeister von Preußen und Livland sowie den Deutschmeister, der für die Balleien im Deutschen Reich zuständig war.28

Eine direkte Verbindung der Gebiete des Deutschen Ordens – Livland, Kurland und Preußen – war über Land nicht gegeben, denn zwischen Preußen und Livland steckte mit dem Land der heidnischen Samaiten, zugehörig zum Großfürstentum Litauen, ein Keil.29 Die jeweiligen politischen Gegebenheiten sowie die geo-strategische Lage des Deutschen Ordens in Livland und Preußen bargen angesichts der zentralen Vorhaben des Deutschen Ordens wie der Oberherrschaft über die heidnischen Gebiete, dem Heidenkampf und der Christianisierung reichlich Konfliktpotenzial: Der Deutsche Orden befand sich einerseits inmitten prußischer Bevölkerung und benachbart zu polnischen Herzögen, andererseits inmitten der Liven und benachbart zu russischen und litauischen Fürsten sowie weiteren heidnischen Völkern. Auch die fortschreitende Expansion und die Machtzunahme des Deutschen Ordens sorgten für weitere Konflikte, die sich wiederholt in kriegerischen Auseinandersetzungen entluden. Folglich war die Eroberung und Besiedlung der Gebiete Preußen und Livland über die Jahre mit erheblichen Widerständen seitens der indigenen Bevölkerung oder der benachbarten Fürstentümer verbunden. Zwei dieser kriegerischen Auseinandersetzungen sollen im Folgenden beispielhaft und  überblicksartig vorgestellt werden, um daran anknüpfend den Forschungsstand über das Kriegswesen des Deutschen Ordens in Preußen und Livland zu ermitteln.

Die Feldzüge des Deutschen Ordens im Baltikum

Grundsätzlich unterscheidet man bei den kriegerischen Auseinandersetzungen des Deutschen Ordens im Baltikum zwischen territorialen Feldzügen und religiös-begründeten Feldzügen. Erstere hatten ihren Ursprung meist in politischen Differenzen und bei letzteren wurde die Ausführung des Feldzuges mit religiösen Zwecken begründet. Diese religiös begründeten Feldzüge können als eine Fortführung der Kreuzzüge verstanden werden. Welche machtpolitischen Ziele und Absichten im Einzelnen mit den Kriegen des Deutschen Ordens im Baltikum verfolgt wurden, steht aber nicht im Vordergrund dieser Untersuchung.

Ein Beispiel für einen territorialen Feldzug des Deutschen Ordens stellt folgende Begebenheit in Livland dar: Um sein eigenes Herrschaftsgebiet in Livland zu erweitern und „die Stellung des Ordenszweigs zu festigen und dessen Unabhängigkeit zu stärken“30, drängte der Deutsche Orden nach der Übernahme herrschaftlicher Befugnisse darauf, weitere Gebiete östlich von Livland wie die Fürstentümer Pleskau und Novgorod einzunehmen. Zwar eroberte der Deutsche Orden im Jahr 1240 die Stadt Pleskau (Pskow), wurde aber von dort wieder zurückgedrängt und erlitt am 5. April 1242 am Peipussee unter dem Landmeister Hermann Dietrich von Grüningen eine Niederlage gegen ein russisches Heer unter dem Großfürsten Alexander Newsky.31

Religiös-begründete Feldzüge des Deutschen Ordens stellten im Baltikum mitunter die jährlichen bzw. im Sommer und Winter stattfindenden „Littauerreisen“ oder „Preußenreisen“ dar, bei denen ab dem Jahr 1302/1304 aus dem Deutschen Reich und aus Westeuropa zahlreiche Kreuzfahrer kamen, um an den Grenzen Livlands gegen vermeintlich heidnische Gegner zu kämpfen. Unter den Gegnern des „Heidenkampfes“ waren auch die Litauer, die ab 1386 offiziell und in den Augen des Bischofs von Riga nicht mehr heidnisch waren, jedoch trotzdem unter dem Vorwurf angegriffen wurden, sie täuschten ihre Bekehrung nur vor. Diese „Reisen“ oder Heerfahrten wurden als Raubzüge geführt; man mag als Beweggründe und Motivation der „Reisenden“ für die Feldzüge zu Recht politische, ethische Gründe und auch das pure Vergnügen am Rittersport anführen; für die Christianisierung der angegriffenen Völker brachten diese Unternehmungen keinen Erfolg. Auch eine päpstliche Bulle von 1402 hielt den Deutschen Orden nicht davon ab, weitere Feldzüge zu führen. Erst 1422 ebbten die Angriffe ab und wurden allmählich eingestellt.32

Die Art der Kriegsführung

Hinsichtlich der Art der Kriegsführung des Deutschen Ordens mit den Strategien und angewendeten Kampftaktiken sowie den in Feldzügen verfolgten Zielsetzungen ist laut aktuellem Forschungsstand folgendes zu konstatieren: Für die Eroberung, Besetzung und Verwaltung der Gebiete des Deutschen Ordens im Baltikum stellten die zahlreichen Siedlungstätigkeiten, aber vor allem die Städtegründungen (die meist als Großburgen befestigt waren) und der Bau oder Ausbau von Burgbefestigungen eine zentrale Rolle dar. Durch die Burgen konnte auch der Zugang zur Weichsel, zum Frischen Haff und zum Nogat und damit auch zu Nachschüben an Truppen und Ressourcen gesichert werden.33 In den Burgen, die bis 1270 als Holz-Erde-Befestigungen konstruiert waren, waren häufig Komtureien enthalten, die, als das administrative und militärische Zentrum des Ordens, mit dem Komtur und zwölf ihm untergebenen Ordensrittern, begleitet von jeweils zwei Knechten sowie weiteren Kreuzfahrern, Waffenträgern oder Söldnern besetzt waren.34 Weitere wichtige Verwaltungs-einheiten des Deutschen Ordens waren zudem die Konvente und Kapitel.35

Bezüglich der Art und Weise, wie Kriege zwischen dem Deutschen Orden und seinen Gegnern geführt wurden und wie sich die Heftigkeit dieser kriegerischen Auseinandersetzungen begründete, ist zunächst festzustellen, dass niemand von seinem Gegner Schonung erwartete und daher brutal und erbarmungslos gekämpft wurde. Außerdem waren die vom Deutschen Orden geführten Kriege in der Regel Heidenkriege bzw. mussten als Kriege gegen Heiden deklariert sein, sodass die Gegner des Deutschen Ordens – eben da sie als heidnisch bezeichnet wurden  –  keinen Anspruch darauf hatten, „nach den Regeln des Rittertums behandelt zu werden.“36 Die im Baltikum praktizierte Kriegspolitik des Ordens mit der Kriegsstrategie der „Verbrannten Erde“ ähnelte einem Vernichtungskrieg, der nicht nur die vollständige militärische Unterwerfung der Gegner beinhaltete, sondern auch die Zerstörung der gegnerischen Infrastruktur, einhergehend mit der Plünderung sämtlicher verwertbarer Ressourcen sowie der Geiselnahme von Frauen und Kindern.37 Natürlich kämpften die Ordensbrüder im Baltikum auf eine andere Art und Weise als ihre Ordensbrüder im Heiligen Land, doch waren die Vernichtungskreuzzüge zeitgemäß und populär und im Kontext der frühmittelalterlichen Kreuz- und Feldzüge gängige Praxis.38

Bei den Feldzügen gegen die Prußen, aber auch auf den „Littauerreisen“ agierten die Truppen des Deutschen Ordens und der Kreuzfahrer in der Regel so, dass sie die Prußen bei ihren Wohnsitzen angriffen, ihre wirtschaftlichen Ressourcen wie z. B. Felder niederbrannten oder plünderten. Sie nahmen Frauen und Kinder zu Gefangenen, töteten alle waffenfähigen Männer, zerstörten Burgen und Dörfer, sodass ihren Gegnern nichts zur Wiederherstellung und Regeneration übrigblieb. Zudem sandte man häufig Kundschafter aus, bevor man einen Feldzug unternahm.39 Obwohl die Ritter des Deutschen Ordens sicherlich zu Beginn der Eroberung Preußens über die dortigen geographischen Gegebenheiten keine so guten Kenntnisse wie die Prußen besaßen, erwuchs ihnen im Kampf dadurch meist kein größerer Nachteil, da sie von ihrer Organisation, der Kampftaktik, ihrer Kampfausrüstung mit gepanzerten Reitern und Armbrust sowie ihrer Kampfstärke, deutlich im Vorteil waren.40

Die Kriege mussten jedoch aufgrund der geographischen Gegebenheiten anders als in mediterranen Ländern geführt werden, denn im Preußenland und Livland waren Truppenbewegungen oftmals durch dichte Wälder, Moore, Kälte und Schnee behindert. Hier waren die leicht bewaffneten baltischen Völker im Vorteil, die zudem die bessere Kenntnis über die geographischen Gegebenheiten besaßen. Für die Durchführung von Winterfeldzügen war man darauf angewiesen, dass Seen und Flüsse zugefroren waren.41

Um ein detaillreicheres Bild von der Art der Kriegsführung des Deutschen Ordens im Baltikum zu erhalten, ist es lohnenswert die Beschreibungen der Chroniken des Deutschen Ordens wie z. B. die des Peter von Dusburgs oder die der Älteren Hochmeisterchronik näher zu untersuchen. Viele der in diesem Artikel aufgeführten Beschreibungen der Kriegsführung finden sich auch in den Darstellungen wieder, doch manches Detail tritt in den Beschreibungen der Chronik auch deutlicher heraus. Auch muss immer wieder der Versuch unternommen werden die Darstellungen der Chroniken auf ihre jeweilige Authenzität zu überprüfen. Mit Sicherheit werden in der nächsten Zeit diese Versuche die weitere Forschungsdebatte über die Kriegsführung des Deutschen Ordens bestimmen.

 

Empfohlene Zitierweise: Blümel, Jonathan (2012): Die Kriegsführung des Deutschen Ordens im Baltikum. In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 


Bibliographie:

  1. Vgl. Boockmann, Hartmut: der Deutsche Orden. Zwölf Kapitel aus seiner Geschichte. München 1981. S. 73ff. ; Labuda, Gerard: Teil 2. Entstehung und Entwicklung des Deutschordensstaates in Preussen, in: Biskup, Marian / Labuda, Gerard: Die Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen. Wirtschaft – Gesellschaft – Staat – Ideologie. Osnabrück 2000. S. 115.
  2. Siehe Boockmann 1981. S. 74.
  3. Siehe Riley-Smith, Jonathan, s.v. Kreuzzug, in TRE 20. S. 1.
  4. Siehe Riley-Smith, Jonathan, s.v. Kreuzzug, in LMA 5, S. 1508.
  5. Vgl. Riley-Smith, Jonathan, s.v. Kreuzzug, in LMA 5, S. 1508.
  6. Vgl. Labuda, Gerard: Teil 1: Das ursprüngliche Preussen, in Preussen, in: Biskup, Marian / Labuda, Gerard: Die Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen. Wirtschaft – Gesellschaft – Staat – Ideologie. Osnabrück 2000. S. 110.
  7. Siehe Sarnowsky, Jürgen: Der Deutsche Orden. München 2007. S. 8 u. 19.
  8. Siehe Sarnowsky 2007. S. 9.
  9. Vgl. Schreiber, Hermann: Der Deutsche Orden unter den Kreuzrittern. Hamburg 2008. S. 62 ; Labuda in Labuda/Biskup 2000. S. 118.
  10. Siehe Militzer, Klaus: Die Geschichte des deutschen Ordens. Stuttgart 2005. S. 14.
  11. Vgl. Sarnowsky 2007. S.15.
  12. Vgl. Militzer 2005. S. 12-14 ; Sarnowsky 2007. S. 15 ; Boockmann 1981. S. 32.
  13. Vgl. Boockmann 1981. S. 38 ; Labuda in Biskup/Labuda 2000. S. 122-132.
  14. Vgl. Sarnowsky 2007. S. 28 -31 ; Schreiber 2008. S. 72-81 ; Boockmann 1981. S. 38 ; Labuda in Biskup/Labuda 2000. S. 132-138.
  15. Vgl. Boockmann 1981. S. 69.
  16. Vgl. Sarnowsky 2007. S. 32-33 ; Boockmann 1981. S. 71ff. ; Labuda in: Labuda/Biskup 2000. S. 102-107.
  17. Vgl. Sarnowsky 2007. S. 35-36 ; Militzer, Klaus: Die Geschichte des deutschen Ordens. Stuttgart 2005. S. 63-64 ; Boockmann 1981. S. 81-87. Anm.: Vermutlich stand der Kaiser 1226 in Verhandlungen mit dem Deutschen Orden und Konrad von Masowien sowie Reichsfürsten. Die Ausstellung einer Goldbulle um 1226 bleibt aber umstritten.
  18. Siehe Sarnowsky 2007. S. 34.
  19. Siehe Sarnowsky 2007. S. 34.
  20. Vgl. Labuda in Biskup/Labuda 2000. S. 163.
  21. Vgl. Militzer 2005. S. 66 ; Schreiber 2008. S. 114.
  22. Vgl. Sarnowsky 2007. S.39 ; Labuda in: Biskup/Labuda. S. 150 ; Boockmann 1981. S. 94-96.
  23. Vgl. Sarnowsky 2007. S. 34.
  24. Siehe Labuda in Labuda/Biskup 2000. S. 110.
  25. Siehe Labuda in Biskup/Labuda 2000. S. 155.
  26. Siehe Militzer 2005. S. 79.
  27. Siehe Schreiber S. 63-64. ; Biskup in Labuda/Biskup 2000. S. 301.
  28. Vgl. Biskup in Labuda/Biskup 2000.  S. 300.
  29. Vgl. Boockmann 1981. S. 94.
  30. Siehe Militzer 2005. S. 79.
  31. Vgl. Sarnowsky 2007. S. 39 ; Labuda in Biskup/Labuda 2000. S. 155.
  32. Vgl. Paravicini, Werner, s.v. Preußenreise, in: LMA VII. S. 197 ; Boockmann, Hartmut: s.v. Preußenreise, in LMA III. S. 774 ; Militzer 2005. S. 117 ; Hruschka, Constantin: Kriegsführung und Geschichtsschreibung im Spätmittelalter : eine Untersuchung zur Chronistik der Konzilszeit. Köln 2001. S. 98-99 ; Boockmann 1981. S. 160 ; Ziegler, Uwe: Kreuz und Schwert. Köln 2003. 144-148.
  33. Vgl. Militzer 2005. S. 65-66 u. S. 74 ; Labuda in Biskup/Labuda 2000. S. 163.
  34. Vgl. Labuda in Biskup/Labuda 2000. S. 180-185 ; Militzer 2005. S. 71 u. 105-106.
  35. Vgl. Biskup in Labuda/Biskup 2000.  S. 300.
  36. Siehe Boockmann 1981. S. 168.
  37. Vgl. Hruschka 2001. S. 108.
  38. Vgl. Forey, Alan: The military orders: from the twelfth to the early fourteenth centuries. Basingstoke 1992. S. 48 ; Hruschka 2001. S. 100.
  39. Vgl. Militzer 2005. S. 117 ; Labuda in Labuda/Biskup 2000. S. 185.
  40. Vgl. Labuda in Labuda/Biskup 2000. S. 185 ; Militzer 2005. S. 66.
  41. Vgl. Forey 1992. S. 49.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/04/die-kriegsfuhrung-des-deutschen-ordens-im-baltikum/

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Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (IV)

Der Oberrhein des 20. und 21. Jahrhunderts

Das heutige Oberrheingebiet

Für die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts bedeutete die Korrektion dennoch ein Segen.1 Aus der Sicht Alexa Geisthövels löste sie aber langfristig gravierende Umweltschäden aus.2 In Beiträgen der Landesanstalt für Naturschutz Baden- Württemberg wird die drastische Umgestaltung der Landschaftsstruktur und Naturhaushalt seit Tulla ersichtlich.3 Aus der früheren Wildstromlandschaft ist durch die starke Absenkung des Grundwasserspiegels die „Steppe am Oberrhein“ geworden.4 „Großflächig und dauerhaft breiteten sich Trockenstandorte aus.“5 Stehende Gewässer trockneten aus.6 85% der feuchten Oberrheinauen verschwanden.7 Schon im 19. Jahrhundert wurden große Flächen trocken gelegt und einer landwirtschaftlichen Nutzung zugeführt.8 Mit dem Verlust an Auenwald, Sümpfen und Feuchtwiesen reduzierte sich auch die Anzahl der Pflanzen- und Tierarten, deren Platz oftmals von „eingeschleppten Arten“ übernommen wurde.9

Eine weitere Denaturierung der Rheinufer erfolgte durch den Bau der Rheintalautobahn, von Kiesgruben und einer Kreismülldeponie.10 Große Industriekomplexe sowie ein Kernkraftwerk auf elsässischer Seite vervollständigen das Bild des modernen südlichen Oberrheins.11 Im ehemaligen Überflutungsraum liegen heute etliche Gemeinden, Industrie- und Verkehrsanlagen oder Abraumhalden.12 Bei Basel und mit seinen Chemiekonzernen beginnt die Verschmutzung des Rheins, die sich mit den elsässischen Industriekomplexen, einschließlich Chemischer Großindustrie und Müllverbrennungsanlagen bei Straßburg/Kehl, fortsetzt.13

Charakteristisch für das deutsche Ufer sind seine großen Wein-, Mais- und Weizenanbauflächen.14 Blackbourn schildert die heutige Oberrheinebene als „blühender Garten“ mit reich kultivierten Feldern. 15 Er sieht aber auch, dass Düngemittel als Abfallsprodukt des „blühenden Gartens“ den Fluss zusätzlich verunreinigten.16 Die winzigen Überreste der alten Auenwälder hingegen verzaubern ihn.17

Weitere Eingriffe im späten  20. Jahrhundert

Die kultivierte Agrarlandschaft der südlichen Oberrheinebene bewegt viele deutsche Autoren zu einem wehmütigen Rückblick in die Zeit vor den Korrektionen des 19. Jahrhunderts.18 Das Gemälde Peter Birmanns gehört hierbei zum Standard jeder Oberrheinauen Beschreibung.19

Es waren aber die Eingriffe des 20. Jahrhunderts, die dem Oberrhein erst endgültig seinen Wildstromcharakter nahmen und einen enormen Verlust an Auenfläche zur Folge hatten.20

Tullas Nachfolger erreichten, dass bis Ende des 20. Jahrhunderts die Nebenarme des alten Rheins fast vollständig gesperrt waren, so dass kein Wasser in den Rhein mehr einfließen konnte.21 Zudem bauten sie die Deiche kontinuierlich aus.22 Vor allem bei der Rheinregulierung nach den Plänen Honsells wurde der Strom noch einmal eingeengt um durch eine erhöhte Fließgeschwindigkeit und Tiefenerosion eine größere Fahrtiefe zu erhalten.23 Durch so genannte Querbauten suchte man eine bestimmte Mindestbreite und –tiefe des Fahrwassers sicherzustellen.24

Die natürlichen Kräfte des Ökosystems hätten aber trotz der Eingriffe durch Tullas Korrektion und Honsells Niederwasserregulierung ein bedingt ökologisches Gleichgewicht wiederherstellen können, „was der Landschaft aber in den letzten 60 Jahren angetan worden ist, stellt das Vorhergegangene in den Schatten und hat die natürliche Landschaft zerstört.“25

Der Bau und Ausbau des „Grand Canal d’ Alsace“ als geschlossenen Rheinseitenkanal erfolgte zwischen 1928 und 1955.26 Um Elektrizität zu gewinnen, wird das Wasser aus dem Rhein in diese „Betonrinne“ geleitet und Flusskraftwerken zugeführt.27 „Der „Canal d’Alsace“ hat dem Rhein das Wesen genommen. Aus dem reißenden Strom ist ein müder Fluss geworden.“28 „Die Schalthebel der Wehre entscheiden, ob der Rhein ein Fluss, ein Bach oder ein Rinnsal ist.“29 Das ökologische Ergebnis aller Ausbaumaßnahmen ist die heutige Trockenaue.30 Das ökonomische Ergebnis ist die sehr teure Nachschüttung von Kies, die so genannte „Geschiebezugabe“, um die schon kurz nach Tullas Tod überschrittene optimale Tiefenmarke der Sohlenerosion zu stoppen, die die Fundamente der Ufer- und Strombauwerke, die Häfen sowie Land- und Forstwirtschaft gefährden.31

Weitere Bauten von Kraftwerksstaustufen nach dem Zweiten Weltkrieg im seitlich betonierten Kanal und im alten Rheinbett beschleunigten die Austrocknung des Oberrheingebiets.32 All diese „Nach- Tulla- Arbeiten“ erhöhten aber die Gefahr eines Katastrophenhochwassers am Mittel- und Niederrheingebiet um ein Vielfaches, da der Fluss am Oberrhein bei Hochwasser nicht mehr ausufern kann und das Wasser in seiner schmalen, geraden „Rinne“ eine enorme Beschleunigung erfährt, dessen Auswirkungen die Städte flussabwärts, vor allem Mannheim und Köln, vermehrt zu spüren bekommen.33

Aussicht und Fazit

Um dem Hochwasser am Mittel- und Niederrhein beizukommen, legte das Land Baden- Württemberg im Jahr 1988 sein „Integriertes Rheinprogramm“ (IRP) vor.34 In diesem Programm wurden zwei Ziele festgelegt: 1. Die Widerherstellung des Hochwasserschutzes und 2. Die Erhaltung und Renaturierung der Auenlandschaft am Oberrhein.35 Im Jahr 1997 beschlossen die verschiedenen Landesanstalten eine Tieferlegung von Vorlandflächen auf einem ca. 90 Meter breiten Streifen um Hochwasserrückhaltebecken (so genannte Polder) zu gewinnen, und eine Auenrenaturierung voranzutreiben.36

Bei allem Enthusiasmus vieler Autoren für eine Renaturierung der feuchten Auen darf man nicht vergessen, dass nennenswerte Flächenanteile von Trockenstandorten in der Wildstromaue auch schon in der „Vor-Tulla-Zeit“ vorhanden waren und der Artenbestand in der Trockenaue trotz der Ausbaumaßnahmen weitestgehend ursprünglich geblieben ist.37 Viele Schriftsteller schwärmen in ihren Darstellungen bevorzugt von den feuchten Auenbereichen vor den großen Ausbaumaßnahmen, übersehen dabei aber häufig den überragenden Wert der Flora und Fauna der trockengefallenen Rheinauen am südlichen Oberrhein, einem der wärmsten Gebiete Deutschlands.38 Die Beiträge der Landesanstalt für Umweltschutz sprechen von einem in Deutschland einmaligen Landschaftraumsraum, „der auf großer Fläche höchst seltene und wertvolle Biotypen […] und eine Fülle bemerkenswerterte Tier- und Pflanzenarten“ aufweist.39

Wertvolle Trockenbiotope sollten aus Sicht heutiger Umweltschützer nicht einfach durch Auenbiotope ersetzt werden.40 Der Schutz und die Entwicklung nicht beanspruchter Trockenauenbereiche und die Generation von Feuchtauenbiotopen müssen gleichzeitig gefördert werden.[41.Vgl. Meineke. S. 487.]

Tullas Oberrheinkorrektion kann nicht allein mit heutigen Maßstäben bewertet werden. Sein Traum war eine verbesserte Lebensbedingung der Oberrheinanwohner. Zwar haben schon einige Zeitgenossen vor den kommenden negativen Auswirkungen gewarnt, für die Menschen des 19. Jahrhunderts aber war sein Großprojekt ein Segen in schwierigen Zeiten. Unter den damaligen Bedingungen war eine umfassende Lösung „alternativlos“, ansonsten hätte man die Rheinauen als Siedlungsgebiet aufgeben müssen.

Tullas Großprojekt half außerdem mit den neuen badischen Staat entlang seiner Hauptschlagader zu integrieren. Welch ökologische Spätfolgen seine „Rectification“ mit sich brachte, konnte er zum einen noch nicht vollständig vorhersehen, zum anderen waren es erst die Ausbaumaßnahmen seiner Nachfolger und die Bauarbeiten des 20. Jahrhunderts, die den Oberrhein in einen Kanal und somit in eine Bedrohung für die stromabwärts gelegenen Städte verwandelte. Für die „Versteppung“ des Oberrheingebiets zeichnet sich Tulla ebenso nicht allein verantwortlich.

Die Kultivierung und industrielle Erschließung des Oberrheinraumes ist zudem nicht per se ein negatives Faktum. Sie ermöglichen nicht nur eine gute Versorgung mit landwirtschaftlichen Produkten, sondern schufen auch eine Vielzahl an Arbeitsplätzen. Mit der „Zivilisation“ begann zwar auch die Verschmutzung des Oberrheingebiets, aber auch die Erschließung des Verkehrswegs Fluss. Am Anfang war Tullas Idee, aber erst die weitreichenden folgenden Ausbaumaßnahmen ermöglichten die Schiffbarkeit und die Industrialisierung des Rheins mit all seinen negativen und positiven Folgen. Mit dem Ende alter Lebenswelten beginnt aber auch immer etwas Neues. Tullas Traum stand also am Anfang eines langen Prozesses der Kultivierung des Gebietes und der Kanalisierung des Rheins. Mit Tulla änderten sich Denkhorizonte. Seine „Nachfolger“ im Wasserbau setzten da an, wo Tulla aufgehört hatte. Was vorher unmöglich erschien, war denkbar geworden. Dies ist sein Verdienst aber auch die Hauptkritik an seinem Schaffen.

 

Empfohlene Zitierweise:Dembek, Christoph (2012): Wilde Flusslandschaft oder wertvolle Kulturlandschaft? Über die Begradigung des Oberrheins (IV). In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 


Bibliographie:

 

  1. Vgl. Geisthövel, Alexa: Restauration und Vormärz 1815-1847. Seminarbuch Geschichte, Paderborn 2008. S. 102-103.
  2. Ebenda.
  3. Vgl. Baum, Frank/ Meineke, Jörg- Uwe/ Neumann Christoph/ Schmid- Egger, Christian: Das „Trockenaueprojekt“. Vorgeschichte und Zielsetzung, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 11.
  4. Siehe Baum, Frank/ Meineke, Jörg- Uwe/ Neumann Christoph/ Schmid- Egger, Christian: Das „Trockenaueprojekt“. Vorgeschichte und Zielsetzung, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 11.
  5. Siehe Vgl. Baum, Frank/ Meineke, Jörg- Uwe/ Neumann Christoph/ Schmid- Egger, Christian: Das „Trockenaueprojekt“. Vorgeschichte und Zielsetzung, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 11.
  6. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2006. S. 143.
  7. Ebd. S. 139.
  8. Ebd. S. 139.
  9. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 139-140
  10. Vgl. Baum: Das „Trockenaueprojekt“, S. 11.
  11. Vgl. Baum: Das „Trockenaueprojekt“, S. 11.
  12. Vgl. Huppmann, Othmar/ Pfarr, Ulrike/ Staber, Herbert-Michael: Die Planung eines Hochwasserrückhalteraumes am südliche Oberrhein zwischen Basel und Breisach- Hochwasserschutz und Naturschutz Hand in Hand, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 37.
  13. Vgl. Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, München 1994. S. 158-171.
  14. Ebd. S. 171-184.
  15. Siehe. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 129.
  16. Ebd. S. 141.
  17. Ebd. S. 139-140.
  18. Vgl. Coch, Thomas: Einführung in den Naturraum. Zur Frage primärer Trockenstandorte in der Wildstromaue des südlichen Oberrheingebietes, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000. S. 25
  19. Ebenda S. 26.
  20. Ebenda S. 25.
  21. Vgl. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 144-145.
  22. Ebd. S. 145.
  23. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 149.
  24. Schwabe, Erich: Mensch und Oberrhein. Besiedlungsgeschichte, in: Die Auen am Oberrhein. Ausmaß und Perspektiven des Landschaftswandels am südlichen und mittleren Oberrhein seit 1800, hrsg. von Werner A. Galluser und Andre Schenker, Basel/ Boston/Berlin 1992. S. 53.
  25. Siehe Tümmers: Der Rhein, S. 149.
  26. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 24.
  27. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 25.
  28. Siehe  Coch: Einführung in den Naturraum, S. 25.
  29. Siehe Coch: Einführung in den Naturraum, S. 25.
  30. Vgl. Huppmann: Die Planung eines Hochwasserrückhalteraumes am südliche Oberrhein, S. 37.
  31. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 148 u. S. 154-155.
  32. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 156.
  33. Vgl. Tümmers: Der Rhein, S. 156.
  34. Vgl. Huppmann: Die Planung eines Hochwasserrückhalteraumes, S. 35.
  35. Vgl. Huppmann: Die Planung eines Hochwasserrückhalteraumes, S. 35.
  36. Ebd, S. 40-45.
  37. Vgl. Meineke, Jörg-Uwe/ Ostermann, Alexander/ Jehle, Peter: Naturschutz in der Trockenaue. Erhalten und Gestalten, in: Vom Wildstrom zur Trockenaue. Natur und Geschichte der Flusslandschaft am südlichen Oberrhein, hrsg. von der Landesanstalt für Umweltschutz Baden Württemberg, Ubstadt-Weiher 2000, S. 483. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 15.
  38. Vgl. Coch: Einführung in den Naturraum, S. 15-18.
  39. Siehe Baum: Das „Trockenaueprojekt“, S. 11.
  40. Vgl. Meineke. S. 487.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/03/wilde-flusslandschaft-oder-wertvolle-kulturlandschaft-uber-die-begradigung-des-oberrheins-iv/

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