Frühe Stimmen über das Chinesische: “Über die Chinesische Schriftsprache” (1813)


In China besteht noch jetzt alle Gelehrsamkeit in der Kenntniß der Sprache. Um zu den höchsten Staatsämtern zu gelangen, braucht man durchaus nichts weiter zu verstehen. Die Candidaten aller Staatsämter in China werden nur hierinn äusserst scharf examinirt. [...] Nicht sowohl wegen der Natur der Chinesischen Schriftsprache selbst sind in China noch alle gelehrten Fertigkeiten auf die Kenntniß der Sprache beschränkt[1]

Der Aufmerksame, eine Beilage zur Grazer Zeitung brachte am 20. März 1813 den Beitrag “Ueber die Chinesische Schriftsprache”, in dem die Besonderheiten der Sprache beschrieben  und durch Beispiele illustriert werden.

Unter Berufung auf Barrows Reisebeschreibung[2] heißt es, die “Mundsprache [wäre] sehr leicht, indem sie nur aus einigen Hunderten (342) einsilbigen Worten besteht, die bloß durch verschiedenen Accent und veränderte Aussprache zu 1,331 verschiedenen Ausdrücken werden.”

Die Schrift hingegen wäre wesentlich komplexer:

Zur schriftlichen Darstellung dieser 1,331 Worte aber gehören nicht weniger als 80,000 Charaktere (Zeichen, Symbole, Hieroglyphen), so daß also 60 Charaktere auf ein und dasselbe Wort kommen. Das einsilbige Wort nemlich hat so viel verschiedene Bedeutungen, daß es keine geringere Anzahl als 60 Charaktere im Durchschnitte zu seiner schriftlichen Darstellung nöthig hat.[3]

Um den Lesern eine Vorstellung von der Schrift zu geben, werden einige einfache(re) Schriftzeichen beschrieben, darunter:

  • tián “Feld”
  • xià “unten”
  • shàng “oben”

Der Beitrag beschreibt dann Radikal-System und das Signifikum-Phonetikum-Prinzip und führt aus, dass “das Zeichen, das Hand bedeutet, bey allen Zeichen vor[kommt], die Geschäfte oder Handwerke bedeuten, nur wird es durch andere Zeichen näher bestimmt.”[4]

Der Artikel führt weiter aus, dass die meisten Schriftzeichen aus  einfacheren Zeichen zusammengesetzt scheinen. Diese ‘Bilder’ seien für Chinesen ganz selbstverständlich, für Europäer aber schwer nachzuvollziehen.Am  Zeichen für “Glück” wird das genauer ausgeführt:

[...] einem Europäer bleibt es immer schwer zu begreifen, wie die vereinten Zeichen von Dämon, Einheit, Mund, und bebautem Feld  das Glück bedeuten. Ohne Zweifel hat diese Vereinigung in der Vorstellung der Chinesen keinen andern Sinn als Glück, aber einem Europäer bleibt sie immer schwer zu fassen.[5]

Beschrieben damit wird das folgende Schrifzeichen:

fu

fu “Glück” [Graphik: Monika Lehner]

Das Zeichen 褔 besteht demnach aus vier Elementen:

  1. shì (Variante von  示)  „Vorfahren, zeigen, verehren“
  2. 一  yī “eins”
  3. 口 kǒu “Mund”
  4. tián “Feld”

Das Zeichen ist zusammengesetzt aus dem Radikal[6]/Signifikum[7] 礻und dem Phonetikum[8] 畗.礻ist Bestandteil vieler Zeichen, die mit Religiösem und Geistern im weitesten Sinn zu tun haben, Das Phonetikum 畗 bedeutet “Überfluss”[9] S. 193, Lesson 75 D).)) Wieger leitet 畗 von 高 ab und gibt als Bedeutungen: “the heaping up of the productions of the 田 fields, goods of the earth abundance, prosperity”.[10]

In dem Beitrag wird die Quelle nur beiläufig erwähnt, ist aber eindeutig. Es handelt sich um Travels in China von John Barrow ( 1764-1848) aus dem Jahr 1804[11], genauer um Kapitel VI “Language – Literature, and the fine Arts – Sciences _ Mechanics, and Medicine.” (S. 236-356) Der Artikel “Ueber die Chinesische Schriftsprache” fasst Ausführungen von Barrow sehr kursorisch (und manchmal irreführend) zusammen), die bei Barrows mit abgedruckten Schriftzeichen fehlen.

So heißt es bei Barrows zu den Schriftzeichen 上 und 下 “above and below, distinctly marked these points of position”[12] In dem Beitrag heißt es: “Das Wort unten wird durch ein Lateinisches T [...] dargestellt, und oben durch dasselbe umgekehrte Zeichen.” Der Punkt, der in dem “T” die Position angibt, bleibt außen vor.[13]
Zu den ‘zusammengesetzten’ Zeichen heißt es bei Barrow: “It may not be difficult to conceive, for instance, that in a figurative language, the union of the sun [日]and moon [yuè 月] might be employed to express any extraordinary degree of light or brilliancy [míng 明], but it would not so readily occur, that the character foo or happiness, or suprime felicity, should be designed by the union of the caracters expressing a spirit or demon, the number one or unity, a mouth and a piece of cultivated ground thus 福.”[14]

Der Beitrag kommt zu einem eher pessimistischen Fazit:

Wären die Chinesen fest beym Urmechanismus ihrer Schriftsprache geblieben, der gewiss sinnreich und philosophisch ist, so würde sie eine der interessantesten Sprachen seyn. Aber so kommen noch täglich neue Charaktere auf, die gegen den universellen Sinn dieser Sprache eben so sehr als viele der bereits vorhandenen anstoßen. Doch würde dieser Uebelstand für Ausländer noch leichter zu überwinden seyn, als die vielen Abbreviaturen, woduch der Sinn der Charaktere noch mehr leidet, als durch die sonderbare Symbolik derselben.[15]

Der Kern ist Barrow entnommen:

If the Chinese had rigidly adhered to the ingenious and philosophical mechanism they originally employed in the construction of their characters, it would be the most interesting of all languages. But such is far from being the case. New characters are daily constructed, in which convenience, rather than perspicuity, has been consulted.[16]

Nun stimmt es zwar, dass jederzeit neue Zeichen ‘erfunden’ werden können, in der Praxis kamen allerdings seit dem 19. Jahrhundert vor allem Schriftzeichen für chemische Elemente dazu.
Auffallend ist, dass der Text in Der Aufmerksame eher Schwierigkeiten und Negatives in den Vordergrund stellt, während Barrow bei seiner Beschreibung der Sprache zwar deren Fremdartigkeit ins Zentrum rückt, dabei aber von negativen Zuschreibungen absieht.

  1. Grazer Zeitung,  Nr. 23 (20. März 1813) 1. Online: ANNO.
  2. Diese Beschreibung wird nicht weiter diskutiert, bibliographische Angaben fehlen.
  3. Grazer Zeitung,  Nr. 23 (20. März 1813), 1. Online: ANNO.
  4. Grazer Zeitung,  Nr. 23 (20. März 1813), 2. Online: ANNO.
  5. Grazer Zeitung,  Nr. 23 (20. März 1813), 2. Online: ANNO.
  6. Ein Radikal, chin. bùshǒu 部首 (auch ‘Klassenzeichen’)  ist eine grafische Zuordnungskomponente eines chinesischen Schriftzeichens. In manchen Fällen ist das Radikal auch Determinativ und deutet eine Begriffsklasse im weitesten Sinn an. Jedes Schriftzeichen hat genau ein Radikal; und in chinesischen Wörterbüchern sind die Lemmata nach Radikalen geordnet.
  7. Das Signifikum, chin. yìfú 義符, ist das sinntragende Element eines Schriftzeichens.
  8. Das Phonetikum, chin.  shēngpáng 聲旁 oder yīnfú 音符, ist das lauttragende Element eines Schriftzeichens und kann Hinweise zur Aussprache desZeichens enthalten.
  9. Léon Wieger: Chinese Characters. Their Origin, etymology, history, classification and signification. A thorough study form Chinese documents. Translated into Enlish by L. Davrout, S.J. Second Edition, enlarged and revised according to the 4th French edition (New York: Paragon Book Reprint Corp/Dover Publications 1965
  10. Ebd.
  11. John Barrow:  Travels in China containing descriptions, observations, and comparisons, made and collected in the course of a short residence at the imperial palace of Yuen-Min-Yuen, and on a subsequent journey through the country from Pekin to Canton (London: T. Cadell and W. Davies 1804) Digitalisate → Bibliotheca Sinica 2.0.
  12. Barrow (1804) 237.
  13. Grazer Zeitung,  Nr. 23 (20. März 1813), 2. Online: ANNO.
  14. Barrow (1804) 254 f.
  15. Grazer Zeitung,  Nr. 23 (20. März 1813), 2. Online: ANNO.
  16. Barrow (1804) 255 f.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1631

Weiterlesen