Die heutige Erinnerungskultur der Bundesrepublik hat sich nach fast einem Vierteljahrhundert Wiedervereinigung „in einem komplizierten, zweigeteilten Prozess seit dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet, wobei die Entwicklungen in Bundesrepublik und
DDR in verschiedenen Phasen verliefen“ (Bernd Faulenbach).[1]
In diesem Komplex ist zwischen sehr unterschiedlichen Handlungsfeldern und Akteuren zu unterscheiden, „nämlich erstens eine politisch-justizielle Aufarbeitung und eine daraus abgeleitete Ebene der Norm- und Gesetzgebung bzw. des politisch-administrativen Umgangs mit den Folgen der NS-Herrschaft, zweitens eine politisch-moralische, künstlerische und kulturelle Auseinandersetzung sowie drittens die wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“ (Hans-Ulrich Thamer).[2] Alle drei Ebenen hängen jeweils miteinander zusammen und bedingen einander.
1. Was die gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Diktatur angeht, so begann die erste Phase unmittelbar nach Kriegsende in den westlichen Besatzungszonen bekanntlich mit dem Versuch einer umfassenden Entnazifizierung der Bevölkerung[3], sowie mit Prozessen gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg einschließlich der dortigen Nachfolgeprozesse gegen schwer belastete Nazis oder Helfershelfer und Sympathisanten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie traf allerdings auf eine Bevölkerung, die sich in den denkbar schlimmsten sozioökonomischen Umständen befand und mehrheitlich ums nackte Überleben kämpfte. Die im Grunde einzig richtige justizielle Vorgehensweise der Einzelfallüberprüfung, vorbildhaft von den Amerikanern begonnen, scheiterte allerdings bald an der schieren Masse der zu bearbeitenden Fälle. Sie schlug aber auch deshalb mittelfristig fehl, weil sich NS-Belastete gegenseitig deckten, dadurch oft nur den Status von Mitläufern erhielten und auf diese Weise einer härteren Bestrafung entgingen, Stichwort „Mitläufer-Fabrik“ (Lutz Niethammer). Einmal durch die Mühen und Mühlen der Entnazifizierung gegangen, wurden die Hauptangeklagten der Nürnberger Prozesse bald als die allein Verantwortlichen für die Verbrechen der Nationalsozialisten stigmatisiert, wohingegen „die vielfachen Verstrickungen und das Mitläufertum“[4] der breiten Mehrheit von Deutschen verdrängt oder vergessen wurden.
2. Mit dem Auslaufen der Entnazifizierung und der Nürnberger Prozesse Anfang der 1950er Jahre setzte eine zweite Phase ein. Sie vollzog sich parallel zur Entstehung der bundesdeutschen Demokratie vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Ablehnung und Verurteilung der NS-Diktatur durch die Gründer der zweiten deutschen Demokratie, die einerseits von echter Überzeugung getragen war, andererseits aber auch eine unabdingbare conditio sine qua non für die Westintegration der sicherheitspolitisch gefährdeten jungen Bundesrepublik darstellte. Doch schon an der Wiedergutmachung der jüdischen Opfer, verbunden mit einer Globalentschädigung für Israel und der Jewish Claims Conference durch das Luxemburger Abkommen vom September 1952 erwies sich, dass die unerlässliche Notwendigkeit dieser finanziellen Entschädigungen in der westdeutschen Gesellschaft hoch umstritten war und mehrheitlich abgelehnt wurde.
Denn nicht selten kehrten sich die damit verbundenen Einstellungen bei einer Mehrheit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft sogar ins Gegenteil um, als in der Debatte um den Lastenausgleich von Flüchtlingen und Vertriebenen, Luftkriegsgeschädigten und Invaliden die deutschen Opfer in den Vordergrund geschoben wurden. In beträchtlichen Teilen der Bevölkerung wurde auf diese Weise mental eine Opferhierarchie konstruiert, in der nicht die Vernichtung der jüdischen Opfer, der Sinti und Roma und vieler anderer mehr, sondern das eigene Opfer an die Spitze gesetzt wurde. Obwohl die klare Absage an den Nationalsozialismus gleichsam Staatsdoktrin der zweiten deutschen Demokratie geworden war, lief zum vorherrschenden Verschweigen und Verdrängen des Nationalsozialismus in der jungen Bundesrepublik ein gesamtgesellschaftlicher Integrationsprozess parallel, durch den Millionen an die junge Demokratie gebunden wurden. Hierzu trug u. a. Art. 131 GG bei, der auch früheren NS-Belasteten den Weg in staatliche und kommunale Stellen öffnete. Dass das nicht selten höchst problematisch war, zeigen die Fälle Globke und Oberländer.
Zum mehrheitlichen gesellschaftlichen Verschweigen gehörte auch die meist in Ansätzen stecken bleibende justizielle Aufdeckung und Verurteilung von NS-Verbrechern bzw. Verbrechen, die während des Krieges verübt worden waren.
3. Eine dritte Phase setzte Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre ein und führte erstmals zu einer breiteren, allerdings noch nicht umfassenden Sensibilisierung der bundesdeutschen Gesellschaft hinsichtlich der ja weiterhin virulenten NS-Problematik, hervorgerufen durch den Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958 und die daraufhin im gleichen Jahr gegründete Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, besonders aber durch den Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem sowie den Frankfurter Auschwitz-Prozess in den Jahren 1963-65. Erstmals wurden die Menschheitsverbrechen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik bis ins Detail hinein dokumentiert und publiziert. Und zugleich wurden die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt), das bürokratische Procedere und die logistisch-technische Seite millionenfachen Mordes im Rahmen von Befehl und Gehorsam unmißverständlich transparent. Auch wenn das Beschweigen der nationalsozialistischen Jahrhundertverbrechen in Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft weiter virulent blieb, vertuschen oder verharmlosen ließ sich die Monströsität des Holocaust fortan nicht mehr.
Vor dem Hintergrund eines sich vor allem bei Intellektuellen und Studenten markant wandelnden politischen Bewusstseins, Lebens- und Werteverständnisses setzte Ende der 1960er Jahre eine Debatte ein, in welcher die Dimensionen der nationalsozialistischen Verbrechen und die jeweilige kollektive und individuelle Verflochtenheit der deutschen Gesellschaft in den Jahren 1933 bis 1945 mit diesen zunehmend auch in Teile der westdeutschen Gesellschaft eindrang, die sich bislang sprachlos und/oder apolitisch verhalten hatte. Diese Diskussion begann allmählich das in Millionen von deutschen Familien noch immer praktizierte Verschweigen der braunen Vergangenheit aufzulösen.
4. Eine vierte Phase, die man inzwischen als Weg von der „Tribunalisierung zur Historisierung“ des Nationalsozialismus bezeichnet, führte schließlich zum Durchbruch einer nun in nahezu allen Gesellschaftsschichten angekommenen Thematisierung der NS-Diktatur. Hierzu hat der Fernsehfilm „Holocaust“ in ganz entscheidendem Maße beigetragen, der im Jahre 1979 gezeigt wurde und für alle Zuschauer das Leben, Leiden und Sterben von Menschen in Auschwitz erlebbar und dadurch zugleich nachvollziehbar machte. Die Empathie mit den Opfern bereitete den Boden für eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung und führte damit zu einer Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die seither kaum mehr nachgelassen hat, auch deshalb nicht, weil wissenschaftliche Kontroversen um den Nationalsozialismus ebenso wie gesamtgesellschaftliche Debatten darüber diese Vergegenwärtigung immer wieder neu entfachten. So u. a. der Fall Filbinger im Jahre 1978 oder die richtungweisende Rede Bundespräsident Richard von Weizsäckers im Jahre 1985 – die NS-Diktatur und ihre Verbrechen blieben fortan ein Dauerthema der öffentlichen Debatte. Genannt seien in diesem Zusammenhang nur der „Historikerstreit“ in den Jahren 1986/87, die hoch emotional geführten Auseinandersetzungen um die „Wehrmachtsausstellungen“ zwischen 1995 und 1999 sowie Daniel Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“, 1996 in deutscher Fassung erschienen.
5. Eine fünfte Phase, die sicherlich die komplizierteste ist und bis heute andauert, setzte mit der Wiedervereinigung ein, als sich durch den Zusammenbruch der SED-Diktatur die Frage nach dem Wesen kommunistischer und faschistischer Diktaturen neu stellte. Von großem Gewicht war dabei in diesem Zusammenhang, dass mit dem Ende der DDR auch ein häufig gegensätzliches oder stark abweichendes Verständnis der NS-Diktatur bei der ostdeutschen Bevölkerung zum Vorschein kam, das in geschichtspolitischer Hinsicht Berücksichtigung finden musste.
So konnte die Aufarbeitung der Geschichte der zweiten deutschen Diktatur im nunmehr vereinten Deutschland nicht an der besonderen politisch-ideologischen Behandlung der NS-Diktatur durch die KPD/SED vorüber gehen, zumal die DDR sowohl ihren Legitimationsanspruch daraus abgeleitet, als auch mit einer ganz spezifischen Interpretation des Nationalsozialismus versucht hatte, die eigene Bevölkerung über vier Jahrzehnte lang zu indoktrinieren – durchaus mit einigen mentalen Langzeitwirkungen vor allem bei der älteren Generation. Mit dem Ideologem „Antifaschismus“ sollte innen- wie außenpolitisch die unangreifbare Existenzberechtigung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden legitimiert und abgesichert werden. Da der Begriff Nationalsozialismus schon aus Gründen der Kombination der in ihm enthaltenen Substantive für die SED inakzeptabel war, wurde stattdessen durchweg der Begriff Faschismus verwendet, wodurch wiederum der Begriff universalisiert wurde. Die bekannte Dimitroff-Formel vom „Faschismus als offener terroristischer Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Faschismus des Finanzkapitals“[5] führte darüber hinaus zu einer vornehmlich ökonomistischen Interpretation und trug dadurch zu einer weitreichenden Verkennung der wesentlichen Herrschaftsstrukturen des Nationalsozialismus, einschließlich seiner barbarischen Folgen, bei. Die beabsichtigte Folge war, dass „der Faschismus weniger mit der deutschen Geschichte als mit der politischen Geschichte des Kapitalismus zu tun hatte“, wie Herfried Münkler einmal treffend festgestellt hat.[6] Indem die Kommunisten gleichzeitig für sich in Anspruch nahmen, die einzigen gewesen zu sein, die Widerstand gegen die NS-Diktatur geleistet hätten, legitimierten sie sich gleichsam selbst und leiteten daraus auch die Führungsrolle in Staat und Partei ab. Damit nicht genug, wurde angesichts des Weiterbestehens einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik insinuiert, dort lebe gleichsam der Faschismus in Gestalt unverbesserlicher, kriegslüsterner Imperialisten und Militaristen weiter. Auf diese Weise wohnte dem Antifaschismus-Ideologem als Gründungsmythos und Staatsdoktrin der DDR sowohl eine exkulpierende und dadurch zugleich integrierende Funktion (gegenüber der eigenen Bevölkerung) als auch eine exkludierende und depravierende Funktion (gegenüber der Bundesrepublik) inne.
6. Trotz dieser massiven Indoktrination ist das spezifische Erinnerungsverständnis ehemaliger Einwohner der DDR an den SED-Staat allerdings keineswegs homogen, wie die Forschung inzwischen nachgewiesen hat. So ist bei einer Minderheit ein sog. „Diktaturgedächtnis“ anzutreffen, das einerseits auf den diktatorialen Herrschaftscharakter des SED-Regimes und seiner Repressionsorgane und –praktiken fokussiert ist, andererseits auf dessen demokratische Überwindung durch die Friedliche Revolution von 1989/90.[7]
Eine zweite, unter früheren DDR-Bürgern mehrheitlich verbreitete Erinnerung stellt demgegenüber das als „Arrangementgedächtnis“ apostrophierte Erinnern an den früheren SED-Staat dar.[8] Hier steht das persönliche Leben und Erleben im Gehäuse des sozialistischen Obrigkeitsstaates, jene Mischung aus erzwungenem, kollektiven Mitmachen und individueller Selbstbehauptung in der Bandbreite zwischen Lippenbekenntnis und opportunistischem Verhalten bis hin zu geforderter oder sogar überzeugter Unterstützung im Vordergrund. Diese Erinnerung stellt auf der einen Seite das ganz persönliche Erleben, nicht selten den damit verbundenen Eskapismus in den Vordergrund, auf der anderen Seite werden die damaligen politisch-ideologischen Zumutungen und der subkutan existente und effiziente Zwangscharakter des Regimes relativiert oder manchmal sogar ausgeblendet.
Schließlich das sog. „Fortschrittsgedächtnis“, besser als „Festhalten an der sozialistischen Utopie“ bezeichnet. Es weist, meist von älteren DDR-Bürgern vertreten, die noch zur Aufbaugeneration gehören, dem SED-Staat nach wie vor einen eher positiven Charakter zu, getragen von der bis heute verinnerlichten Überzeugung, dass Sozialismus grundsätzlich noch immer die beste Staats- und Gesellschaftsform darstelle, auch und obwohl der Sozialismus im Gewande der DDR gescheitert ist.[9]
7. Auf diesem geschichtspolitisch und erinnerungskulturell heterogenen Trümmerfeld mit unterschiedlichen Reminiszenzen an die NS-Diktatur und an den jeweiligen deutschen Staat, in dem man gelebt hat, bewegt sich die heutige politische, öffentliche und wissenschaftliche Diskussion. Sie spitzte sich besonders in der Problematik doppelter Gedenkstätten zu, die gerade in den neuen Bundesländern existent sind, etwa in der räumlichen Koinzidenz von nationalsozialistischen Konzentrationslagern und sowjetischen Speziallagern (Buchenwald/Sachsenhausen) während der Jahre 1945 bis 1952.
Insgesamt hat sich erwiesen, dass die Hinterlassenschaft zweier totalitärer Diktaturen in Deutschland zu einer jahrzehntelangen, oft skrupulösen und notwendigerweise auch selbstquälerischen Debatte geführt hat. Sie blieb, auch und gerade nach der Wiedervereinigung „geschichtspolitisch umkämpft, erinnerungskulturell fragmentiert und erfahrungsgeschichtlich geteilt“, wie dies Edgar Wolfrum einmal prägnant zusammengefasst hat.[10]
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Prof. Dr. Günther Heydemann ist seit 2009 Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden. Außerdem ist er seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten des Diktaturenvergleichs (NS-, SED-Regime), der vergleichenden europäischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert sowie auf Transformationsprozessen in den neuen Bundesländern.
[1] Ders., Diktaturerfahrungen und demokratische Erinnerungskultur in Deutschland, in: Annette Kaminsky (Hg.),Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, Bonn 2004, S. 18-30; 20.
[2] Vgl. Ders., Die westdeutsche Erinnerung an die NS-Diktatur in der Nachkriegszeit, in: Peter März/Hans-Joachim Veen (Hg.), Woran erinnern ? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, (=Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, Bd. 8), Köln u. a. 2006, S. 51-70; 56. Dort auch die weitere, diesbezügliche Forschungsliteratur.
[3] Das Standartwerk hierzu stammt nach wie vor von Clemens Vollnhals (Hg.), Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, München 1991. Hierzu jüngst auch Horst Möller, Unser letzter Stolz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.6.2012, S. 8.
[4] Vollnhals, ebd., S. 59.
[5] Vgl. Günther Heydemann, Die antifaschistische Erinnerung in der DDR, in: ebd., S. 71-89; 75.
[6] Ders., Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR. Abgrenzungsinstrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach innen: Manfred Agethen/Eckhard Jesse/Ehrhart Neubert (Hg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg i. Br. 2002, S. 79-99; 84.
[7] Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: Ders., (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 18.
[8] Ebd., S. 19.
[9] Ebd.
[10] Ders., Das Erbe zweier Diktaturen und die politische Kultur des gegenwärtigen Deutschland im europäischen Kontext, in: Steffen Sigmund u. a. (Hg.), Soziale Konstellationen und historische Perspektive. FS für Rainer M. Lepsius, Wiesbaden 2008, S. 310.
Quelle: http://gid.hypotheses.org/130