Aufbruch und Wiederaufbau

Wie wurden unsere Städte, wie sie heute sind? Wie wurde in Kempen die schöne Altstadt erhalten? Wie ging man in Geldern mit den Kriegsschäden um? Warum ist die Bausubstanz in Nimwegen, der ältesten Stadt der Niederlande, so modern? Wo kann man in Venlo das Flair der Vorkriegsstadt entdecken? Diesen und anderen Fragen geht das neue Buch “Aufbruch und Wiederaufbau” nach. Zehn Städte im niederrheinländischen Grenzgebiet und ihre Entwicklung vom Ende des Zweiten Weltkrieg bis heute werden hier reich bebildert vorgestellt. Die in niederländischer und deutscher Sprache geschriebenen Texte wenden sich auch an Interessierte ohne Vorkenntnisse.

Ein Video stellt das Buch humorvoll und informativ vor der Kulisse der Stadt Geldern vor.

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Quelle: http://histrhen.landesgeschichte.eu/2020/09/aufbruch-und-wiederaufbau/

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Buchbesprechung: HETTINGER, Hermann von Beckerath

HETTINGER, Ulrich: Hermann von Beckerath. Ein preußischer Patriot und rheinischer Liberaler (Krefelder Studien 14), Krefeld 2010.

Wie auf den Seiten dieses Blogs schon mehrfach festgestellt wurde, sind viele Mitglieder des Reichsministeriums von 1848/49 keineswegs gut erforschte Persönlichkeiten. Und auch in den Fällen, wo Publikationen in größerer Zahl vorhanden sind, überwiegen jene älteren Datums, die zwar oftmals wegen der darin abgedruckten Dokumente von großem Wert sind, in Darstellungsweise und Urteil aber kaum den aktuellen Ansprüchen und Standards genügen. Hermann von Beckerath, Reichsfinanzminister von August 1848 bis Mai 1849, bildet eine der wenigen Ausnahmen, indem zu ihm seit kurzem eine neue politische Biographie vorliegt. Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung einer 2001 an der Universität zu Köln angenommenen Dissertation.


In seiner Darstellung des bisherigen Forschungsstands weist der Verfasser Ulrich Hettinger zum einen darauf hin, dass sich das biographische Wissen bisher auf zwei Darstellungen stützte, die kurz nach Beckeraths Tod im Jahr 1870 von Personen aus seinem nahen Umfeld veröffentlicht wurden1 und deutlich verklärende Züge aufweisen; die gelegentlichen kleineren Artikel und Notizen späterer Jahrzehnte fügten sachlich kaum etwas hinzu. Zum anderen geht er auf die vorliegende Forschung zu jener politischen Strömung ein, der Beckerath zuzurechnen ist, nämlich dem rheinischen Liberalismus. Zu dieser Bewegung und Gruppierung wie auch zu den wichtigsten Mitstreitern Beckeraths – Ludolf Camphausen, Gustav Mevissen oder David Hansemann – sind erheblich mehr neuere Arbeiten vorhanden als zu Beckerath selbst. Hettinger bemängelt allerdings, dass in beträchtlichen Teilen dieser Literatur zu verkürzten oder einseitigen Würdigungen des rheinischen Liberalismus gelangt worden sei, weil er an den Maßstäben seines meist deutlich radikaleren südwestdeutschen Gegenstücks gemessen wurde. Speziell das abschätzige Urteil von Lothar Gall, der in dieser Strömung nur eine „opportunistische Richtung“2 des deutschen Liberalismus erkennen konnte, die sich vom Gros der Bewegung unvorteilhaft abhob, macht der Verfasser als Anstoss für seine Untersuchung namhaft. Für seinen eigenen Ansatz beruft er sich gegen solche Verkürzungen, die vor allem die „regionalspezifischen sozioökonomischen Erfahrungen der rheinischen Liberalen“ ignorieren, namentlich auf Elisabeth Fehrenbach3 und will nach deren Vorbild „das Denken und Handeln Hermann von Beckeraths im Lichte der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Sonderentwicklung seiner Heimatregion beschreiben“ (S. 12).

Der Hauptteil der Darstellung ist nach üblichem biographischem Format im Wesentlichen chronologisch aufgebaut und gliedert sich nach Lebensphasen und Tätigkeitsbereichen Beckeraths. Die ersten beiden Kapitel „Jugendzeit“ sowie „Sozialer Aufstieg und bürgerliche Lebenswelt in Krefeld“ (S. 13–40, 41–68) sind der Zeit von der Geburt Beckeraths 1801 bis etwa 1840 gewidmet, für welche relativ wenige zeitnahe Zeugnisse vorliegen. Der spätere Bankier und Reichsfinanzminister entstammte einer mennonitischen Handwerkerfamilie in der alten Seidenweberstadt Krefeld. Im Preußischen Landtag sollte er später den berühmt gewordenen Ausspruch tun: „Meine Wiege stand am Webstuhl meines Vaters“ – was vielleicht beengtere Verhältnisse suggerierte, als er tatsächlich erlebt hatte, denn der Vater war Webermeister gewesen, der sechs bis acht Gesellen beschäftigte (S. 17–19); das ändert jedoch nichts daran, dass Beckerath ein klassischer Selfmade-Mann war, der eine früh beendete Schulbildung durch lebenslanges autodidaktisches Studieren kompensierte, vom Lehrling im ersten Krefelder Bankhaus Molenaar rasch zum Geschäftsführer, Teilhaber und schließlich (noch vor seinem vierzigsten Lebensjahr) Gründer seiner eigenen Bank avancierte und seine ersten politischen Ämter mit Dispens wegen noch nicht erreichten Mindestalters antrat. Diesen Lebensweg und die dabei gemachten Erfahrungen setzt Hettinger in Verbindung mit einigen Überzeugungen, die Beckerath später in seiner politischen Wirksamkeit vertrat. Dazu zählt etwa sein fester Glaube an die Verknüpfung von „Bildung und Wohlstand“ (S. 37), der wiederum stark auf seine Einstellungen zum allgemeinen Wahlrecht – das er stets ablehnte – oder zur sozialen Problematik wirkte. Dieser war er sich durchaus bewusst und anerkannte auch, dass keineswegs alle von Armut Betroffenen (gerade in den Krisenjahren ab 1845) diese selbst verschuldet hatten; er wurde auch in seiner Heimatstadt zur Bekämpfung der Not aktiv, gelangte dabei jedoch nicht über konventionelle Mittel der punktuellen karitativen Unterstützung hinaus. Dies lag einerseits an seiner festen Überzeugung, nur durch fortgesetzte industrielle Entwicklung und Hebung des allgemeinen Wohlstands sei der „Pauperismus“ wirksam zu bekämpfen – heute spräche man von der „Trickle down“-These; andererseits hemmten handfeste Sozialängste Beckerath ebenso wie die meisten großbürgerlichen Liberalen, wenn es darum ging, den ärmeren Bevölkerungsschichten politische Handlungsmöglichkeiten oder Mitspracherechte einzuräumen.

Das dritte und vierte Kapitel („Unternehmerische Tätigkeit und regionalwirtschaftliche Ziele“, S. 69–97; „Kommunales Wirken“, S. 99–128) betreffen die Tätigkeitsgebiete Beckeraths außerhalb der „großen“ Politik. Auch hier werden allerdings viele Züge und Zielsetzungen herausgearbeitet, die seine gesamte Aktivität durchziehen. Beckerath setzte seine Hoffnung ganz in die zielgerichtete Förderung der Industrie; er drang immer wieder auf Maßnahmen sowohl von privater wie von staatlicher Seite zur Verbesserung des Kreditwesens und der Investitionsbedingungen und engagierte sich für den Ausbau der Verkehrswege, insbesondere der Eisenbahnen. Der Autor dieser Zeilen erreichte Krefeld jüngst zwecks eines Besuchs im Stadtarchiv über eben jene Strecke von Köln über Neuß (einst Cöln-Crefelder Eisenbahn), auf deren Errichtung Beckerath schon in den 1840er Jahren wiederholt, wenn auch vorerst erfolglos, gedrungen hatte (S. 93–97).

Wie Beckeraths Zukunftsvorstellungen in der Anwendung auf Preußen und Deutschland aussahen, wird im fünften Kapitel (“Ökonomisches Modernisierungskonzept und politische Reformforderungen”, S. 129–156) dargelegt. Die Modernisierungsvision, die ihm vor Augen stand, verschränkte den ökonomischen Aufbau auf das Engste mit den verfassungs- und nationalpolitischen Zielen der Durchsetzung des Konstitutionalismus sowie der deutschen Einheit. In Handelsfragen war Beckerath stets ein überzeugter Anhänger der Schutz- und Differentialzollpolitik; in ihr und im deutschen Zollverein sah er zugleich ein wichtiges Instrument der nationalen Einigung. Der Einfluss der Schriften Friedrich Lists auf diese Vorstellungen wird von Hettinger deutlich herausgestellt; er lässt sich bis zum Nachweis List’scher Schlüsselbegriffe in den Denkschriften und Reden Beckeraths verfolgen (S. 134). Die Umsetzung der von Friedrich Wilhelm III. nach den Napoleonischen Kriegen gegebenen Verfassungsversprechen und somit die gesicherte Partizipation des Bürgertums an der Gesetzgebung über ein periodisch tagendes preußisches Parlament figurierten als nötige Voraussetzungen dieser Ziele – schon deshalb, weil die von hochkonservativen Adels- und Beamtenkreisen dominierte Regierung und ihre Bürokratie Beckerath und seinen Mitstreitern als gänzlich unfähig zur Bewältigung auch nur der dringendsten Aufgaben, geschweige denn zur Verfolgung großer Zukunftsvisionen erschienen. Am monarchischen Prinzip hingegen und an der Dynastie der Hohenzollern, für die er sichtlich eine tiefe Loyalität empfand, scheint Beckerath nie gezweifelt zu haben. Zudem glaubte er unverbrüchlich an die Berufung Preußens, der natürliche Ausgangspunkt und Träger der Vereinigung Deutschlands zu sein.

Die drei letzten Hauptkapitel sind der aktivsten Zeit des Protagonisten in der preußischen Politik gewidmet: Seiner Rolle auf den Rheinischen Provinziallandtagen von 1843 und 1845 sowie auf dem Vereinigten Landtag von 1847 (S. 157–266). Die Gruppe der rheinischen Liberalen, zu deren wichtigeren Exponenten Beckerath zählte, wird hier in ihrem Zusammenkommen, in den innovativen Methoden ihrer politischen Mobilisierung und ihres Mediengebrauchs, in ihrer parlamentarischen Taktik, ihren meist eher publizistischen als faktischen Erfolgen, aber auch in ihren internen Zerwürfnissen und den Grenzen ihrer Kohärenz und Effektivität plastisch geschildert. Neuartig – und für die preußischen Regierungskreise zutiefst beunruhigend – war etwa der gekonnte Gebrauch, den die liberalen Politiker von Petitionen machten; sie verstanden es, im Vorfeld der Landtage konzertierte Wellen von Eingaben zustande zu bringen. Diese stellten nicht nur ihren Rückhalt in der bürgerlichen Öffentlichkeit eindrucksvoll unter Beweis, sondern erlaubten ihnen auch trotz der restriktiven Geschäftsordnung, die Themen der Diskussion in den Versammlungen unter Umgehung der königlichen Propositionen zu bestimmen.

Die Beschlüsse, die auf diesem Wege erreicht wurden, stellten nicht selten kalkulierte Überschreitungen der sehr beschränkten Kompetenzen der Landtage dar. Dennoch ist die Strategie der rheinischen Liberalen im Kern stets eine der Verständigung mit der Krone geblieben. Ihre Bitten und Aufforderungen verbanden sich stets mit demonstrativen Loyalitätsbekundungen, und einen anderen Weg zu politischen Veränderungen scheinen sie nie ernsthaft in Betracht gezogen zu haben – nicht zuletzt aus Furcht vor Revolution und Chaos bei Verlassen dieser Bahn. Beckerath war stets ein besonders entschiedener Verfechter dieser Strategie, der selbst dann, als Mitstreiter angesichts des ausbleibenden Entgegenkommens der Regierung für Obstruktion oder Rückzug plädierten, fast immer bestrebt war, den offenen Bruch zu vermeiden. Beispielsweise zählte er 1847 zu jener Minderheit der liberalen Abgeordneten, die sich an der Wahl des Vereinigten Ständischen Ausschusses beteiligten, obwohl Friedrich Wilhelm IV. auf ihre Forderungen, die Periodizität und die Kompetenzen des Landtags gegenüber diesem Ausschuss sicherzustellen, nicht eingegangen war. Diese Entscheidung war auch vor den eigenen Wählern nicht leicht zu rechtfertigen (S. 254–255).

Auch in anderen Punkten erwies sich die liberale Gruppe als brüchig. Während die meisten ihrer Mitglieder wie Beckerath schutzzöllnerisch dachten, verfocht etwa Camphausen entschieden eine Politik des Freihandels; und auch kleinliche regionale Sonderinteressen, etwa bei der Konkurrenz zwischen verschiedenen Bankplätzen oder Eisenbahnprojekten, hatten öfters eine entzweiende Wirkung auf die überwiegend aus Unternehmern bestehende Gruppierung. Beckerath, der die rechtliche und staatliche Einheit Preußens als Voraussetzung seiner Zukunftsvisionen ansah und daher jeden provinziellen Partikularismus ablehnte, isolierte sich dadurch mitunter von anderen Oppositionspolitikern, die gern gerade auf die Sonderrechte ihrer Provinzen pochten. Einig waren sich die Liberalen allerdings, außer in der grundsätzlichen Stoßrichtung ihrer konstitutionellen Forderungen, vor allem im Hinblick auf den Wunsch nach staatsbürgerlicher Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Ein besonderes Anliegen des Mennoniten Beckerath war die Gleichberechtigung der religiösen Minderheiten; mehrere seiner am meisten beachteten Landtagsreden galten der Emanzipation der Juden, die freilich wie fast alle anderen Forderungen angesichts des hartnäckigen Widerstands der Regierung weit weniger vorankam, als er gewünscht hätte.

Mit dem Beginn der Revolution von 1848 schließt der Hauptteil von Hettingers Darstellung; die Tätigkeit Beckeraths sowohl in als auch nach der Revolutionszeit wird nur in einem knappen „Ausblick“ gewürdigt (S. 267–282). Gerade aus der Sicht unseres Projekts ist dies natürlich zu bedauern4. Die Skizze, die Hettinger bietet, deckt sich allerdings mit dem Bild, das auch die Protokolle und Akten der Zentralgewalt sowie die weitere einschlägige Literatur liefern. Beckerath hatte die Revolution von Anfang an als „Katastrophe“ angesehen (S. 269). Die Bildung der Provisorischen Zentralgewalt und die Wahl eines österreichischen Erzherzogs zum Reichsverweser waren ihm alles andere als recht (S. 272); zu seinem Regierungseintritt kam es letztlich vor allem deshalb, weil Camphausen sich zu einem solchen nicht bewegen ließ. Im Rahmen der ohnehin alles andere als radikalen Ministerien Leiningen und Schmerling war Beckerath eine der konservativeren Figuren, und vor allem vertrat er – weit mehr als der preußische General Peucker im Kriegsministerium – die Interessen Preußens. Schon im August 1848 stellte er sich mehrfach gegen die Mehrheit seiner Kollegen, so in der Frage des Huldigungserlasses oder in jener der Verkündung der Reichsgesetze in den Einzelstaaten5. Auch am Ende seines Ministeramtes scherte er aus, denn die ohnehin begrenzte Bereitschaft seiner Kollegen zu Maßnahmen zur Durchsetzung der Reichsverfassung trotz der Ablehnung durch Preußen ging ihm zu weit; den Beschluss der Nationalversammlung zur Ausschreibung von Reichstagswahlen vom 4. Mai 1849 nahm er zum Anlass, als Abgeordneter und Minister zurückzutreten (S. 276), einige Tage bevor dies der Rest des Ministeriums Gagern tat. Seine eigentlichen Kompetenzen als Finanzminister hatte er hingegen durchaus mit Elan wahrgenommen, nicht zuletzt weil die von den Einzelstaaten einzutreibenden Gelder vor allem für den Aufbau der deutschen Kriegsflotte dienen sollten – ein nationales Vorhaben, für das auch Beckerath große Sympathien hegte. Vom preußischen Unionsprojekt (dem sogenannten „Dreikönigsbündnis“) zeigte er sich nach seinem Regierungsaustritt hoch erfreut6 und unterstützte es bis zum endgültigen Scheitern 1850, obwohl die darin enthaltenen verfassungsrechtlichen Pläne weit hinter den liberalen Forderungen zurückblieben; auch die oktroyierte preußische Verfassung und deren revidierte Fassung von 1850 erschienen ihm in Summe eher als wichtige Fortschritte auf dem von ihm gewünschten Weg denn als Enttäuschungen (S. 277–278).

Das Verdienst des konzisen und gut lesbaren Buches von Hettinger liegt vor allem darin, sowohl zum Verständnis der persönlichen Vorstellungswelt und Handlungsweisen Beckeraths als auch zur Deutung des rheinischen Liberalismus insgesamt nicht monokausal auf einen einzigen Faktor zu rekurrieren, sondern verschiedene Elemente und Ebenen zusammenzuführen und ihre wechselseitige Verschränkung verständlich zu machen. Es wird deutlich, dass im Denken Beckeraths sowohl die konkreten ökonomischen Interessen seiner sozialen Gruppe und seiner Region als auch verschiedene Kategorien ideeller Beweggründe ineinandergriffen: ererbter preußischer Patriotismus und dynastische Loyalität, der (mehr über Lektüre und bürgerliche Geselligkeit denn auf schulischem Wege rezipierte) Idealismus und Humanismus seiner Jugendzeit, ein intensives Gefühl nationaler Zugehörigkeit, ein tief verwurzeltes Arbeits- und Pflichtethos (Beckerath scheint seine öffentliche Tätigkeit kaum jemals als angenehm empfunden zu haben). Nicht zuletzt war auch sein religiöses Empfinden für ihn in hohem Maße handlungsleitend. Dabei handelte es sich allerdings um eine universalistisch-überkonfessionelle Verehrung für den ethischen „Geist des Christentums“ (S. 252), die mit kirchlich gebundenem Offenbarungsglauben wenig zu tun hatte.

Durch dieses differenzierte Bild werden auch manche scheinbaren Widersprüche plausibel aufgelöst. Beckerath konnte zugleich die Emanzipation der Juden fordern und von Preußen als „christlichem Staat“ sprechen, weil er damit etwas völlig anderes meinte als die konservativen Erfinder dieser Denkfigur. Er hätte sich selbst als erster dazu bekannt, dass seine konstitutionellen Vorstellungen darauf hinausliefen, den politischen Einfluss der sozialen Formation, der er selbst angehörte, zu stärken; im Gegensatz zu den Konservativen hätte er hierin allerdings keinen selbstsüchtigen Griff nach der Macht gesehen, da ihm die Beteiligung des industriellen Bürgertums am Staatswesen geradezu als Voraussetzung dafür erschien, dass der Staat für das Wohl aller Bevölkerungsschichten sorgen könne. Manches an ihm freilich wird durch nähere Betrachtung um nichts besser verständlich; insbesondere gilt dies für das offenbar unerschütterliche Vertrauen, das er trotz vielfach wiederkehrender Enttäuschungen und selbst schroffer persönlicher Zurückweisungen in die Herrscher aus dem Haus Hohenzollern setzte, erst in Friedrich Wilhelm IV., dann in Wilhelm I. In seinem Nachlass findet sich eine eigene Mappe, die nur der Dokumentation seiner persönlichen Kontakte mit den Mitgliedern des Königshauses gewidmet ist7.

Auch was den rheinischen Liberalismus im Ganzen angeht, erweist sich die differenzierende Sichtweise Hettingers als hilfreich zur Überwindung verkürzender Einschätzungen. Die inhaltliche Mäßigung und der taktische Pragmatismus, welche diese Strömung im Vergleich zu den Liberalen anderer deutscher Regionen kennzeichneten, entsprechen zum einen den besonderen ökonomischen Bedingungen einer Provinz, die sich auf einem deutlich höheren Stand der industriellen Entwicklung befand als fast alle anderen Teile Deutschlands, und dem damit verbundenen Umstand, dass es sich beim politischen Personal der Gruppe überwiegend um Unternehmer handelte – im Gegensatz zu den akademischen oder beamteten Juristen, die andernorts die meisten oppositionellen Politiker stellten. Nicht nur materielle Interessen, sondern auch Ausbildung und Lebenserfahrung bedingten bei ihnen eine andere Herangehensweise. Beckerath war wie die meisten seiner Mitstreiter kein Theoretiker; er hat seine Zukunftsvision nie als kohärentes System in allen Teilen ausformuliert und wäre vermutlich nie auf die Idee gekommen, einen eigenen Entwurf einer deutschen Verfassung aus dem Ärmel zu schütteln, wie dies etwa Robert von Mohl im Frühjahr 1848 innerhalb kürzester Zeit fertigbrachte. Zum anderen muß, wie Hettinger mit Recht hervorhebt, die Behutsamkeit der rheinischen Liberalen und ihr besonderes Festhalten am Verständigungsprinzip auch mit den politischen und rechtlichen Zuständen des verfassungslosen Preußen in Verbindung gebracht werden. Sie konnten sich manches nicht erlauben, was die auf einem vergleichsweise weit festeren konstitutionellen und parlamentarischen Rechtsboden stehenden Oppositionellen etwa in den südwestdeutschen Staaten erprobten. Ohne die Interessengebundenheit der rheinisch-liberalen Politik zu leugnen, werden durch diese Überlegungen so reduktionistische Urteile wie die von Hettinger eingangs zitierten Formulierungen von Gall in wichtigen Punkten nuanciert.

 

  1. KOPSTADT, Hugo: Hermann von Beckerath. Ein Lebensbild, Braunschweig 1875; ONCKEN, Wilhelm: Aus dem Leben und den Papieren Hermann’s von Beckerath, Köln 1873.
  2. GALL, Lothar: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 220 (1975) 324–356, hier 349.
  3. FEHRENBACH, Elisabeth: Rheinischer Liberalismus und gesellschaftliche Verfassung. In: SCHIEDER, Wolfgang (Hrsg.): Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz (Geschichte und Gesellschaft Sonderheft 9), Göttingen 1983, 272–294.
  4. In einer Anmerkung (S. 348) verweist Hettinger darauf, dass diese Periode den Schwerpunkt der älteren Darstellungen (vgl. Anm. 1) bildet. Angesichts der von ihm selbst zur Genüge herausgestellten Schwächen jener Arbeiten ist das nur bedingt überzeugend. Die Beschränkung erfolgte wohl eher aus pragmatischen Gründen, die der beschränkte Rahmen einer Dissertation nahelegte, und ist in dieser Hinsicht legitim; eine Aufarbeitung von Beckeraths Aktivität 1848/49 auf ähnlichem Niveau, wie es Hettinger für die Zeit davor bietet, bleibt aber ein Desiderat, das die älteren Arbeiten keineswegs erfüllen.
  5. BArch DB 52/1 fol. 10–14, Protokoll der 3. Sitzung des Gesamtreichsministeriums, 1848 August 24.
  6. Vgl. insbesondere seine Korrespondenz mit Bassermann und Mathy aus dem Mai und Juni 1849: Stadtarchiv Krefeld, Bestand 40/2, Nr. 5, fol. 18–21, und Nr. 6, fol. 52–67.
  7. Stadtarchiv Krefeld, Bestand 40/2, Nr. 7.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/217

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Die Nachlässe der Minister, oder: Was haben Memoiren in einer Aktenedition zu suchen?

Wie bereits berichtet, ist der Kernbestand der von uns geplanten Edition  die 185 Sitzungsprotokolle des Gesamtreichsministeriums und die Beilagen dazu  inzwischen vollständig transkribiert beziehungsweise regestiert. Die weitere Arbeit konzentriert sich einerseits auf Sachkommentare zu diesem Material, andererseits auf die Ermittlung weiterer, nicht unmittelbar beiliegender Bezugsakten aus den nunmehr digitalisierten Beständen der Ministerien.

Anton von Schmerling legte in hohem Alter nach seinem Ausscheiden aus der aktiven (österreichischen) Politik umfangreiche “Denkwürdigkeiten” an, die heute als Manuskript im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv verwahrt werden.

Daneben ist aber für die kommenden Monate noch eine weitere Reihe von Demarchen geplant. In einer erklecklichen Zahl von Bibliotheken und Archiven, über weite Teile Deutschlands (und Österreichs) verstreut, soll in Nachlässe der Minister und Unterstaatssekretäre der Provisorischen Zentralgewalt Einsicht genommen werden. Recherchen im Laufe des vergangenen Jahres haben ergeben, daß es zu mehr als der Hälfte der Regierungsmitglieder in größerem oder geringerem Umfang handschriftliches Material gibt. Besonders reichhaltig sind der Nachlass des Justizministers Robert von Mohl in Tübingen und Stuttgart  allein seine gesammelten Briefwechsel füllen 20 Bände , die Familienpapiere Gagern in Darmstadt, der Nachlass des Außen- und Marineministers August Jochmus in München sowie jener des Vorsitzenden des Ministerrats im Herbst 1848, Anton von Schmerling, in Wien. (Warum die aufeinander folgenden Leiter des Reichsministeriums manchmal Premierminister hießen und manchmal nicht, wäre eine eigene Geschichte.) Substantielle Bestände gibt es aber auch an etwas abgelegeneren Orten, etwa im Stadtarchiv Krefeld zum Finanzminister Hermann von Beckerath oder im Leiningenschen Schlossarchiv zu Amorbach zum ersten deutschen Premierminister, Karl zu Leiningen. Die fortschreitende Erschließung von Nachlässen und Autographen durch überlokale Datenbanken (genannt seien vor allem die ZDN sowie der Autographenkatalog KALLIOPE) hat außerdem erlaubt, kleinere Reste und Einzelstücke an einer Vielzahl von Standorten zu lokalisieren, die freilich gar nicht alle bereist werden können.

Andererseits sind auch Lücken festgestellt worden; von manchen Persönlichkeiten scheint überhaupt kein oder kein nennenswerter Nachlass jemals bekannt gewesen zu sein, so etwa von den beiden letzten Vorsitzenden Grävell und Sayn-Wittgenstein-Berleburg. In anderen Fällen sind Papiere, die im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert in Familienbesitz nachweisbar sind, heute unbekannten Verbleibs, etwa die in mehreren Arbeiten vor dem Zweiten Weltkrieg noch herangezogenen Materialien aus dem Besitz des letzten Justizministers Johann Hermann Detmold. Der umfangreiche Nachlass des kurzzeitigen Unterstaatssekretärs im Handelsministerium, Gustav Mevissen (der als Unternehmer und als Kölner Lokalpolitiker weit bekannter ist), ist dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln zum Opfer gefallen und auf absehbare Zeit nicht zu benutzen; und vom Grazer Nachlass des Erzherzog-Reichsverwesers selbst sind erhebliche Teile im Zweiten Weltkrieg zerstört worden.

Was aber wollen wir mit diesen Quellen? Ihre Einbeziehung in eine Aktenedition ist ausgesprochen ungewöhnlich. Dahinter steht vor allem die folgende Überlegung: Die Protokolle selbst sind in aller Regel sehr lapidar formuliert. Zu vielen Punkten liest man dort Formulierungen in der Art von: Das Reichsministerium des Krieges legt den in dessen Akten unter Numero 1628 eingetragenen Bericht des Reichs-Commißärs Stedmann vom 21ten dieses Monats und die demzufolge für den Befehlshaber der Reichstruppen in Schleßwig-Holstein, Generalmajor von Bonin, entworfene – unter Numero 756 vom 29ten dieses Monats ausgefertigte Instruktion vor. Es wird beschlossen: letztere zu genehmigen (73. Sitzung vom 27. Dezember 1848, § 8). Zum Inhalt der erwähnten Dokumente erfährt man hier nichts oder fast nichts, in einzelnen Fällen werden nicht einmal Betreffe genannt; viel weniger kommen Diskussionen oder Begründungen für die Entscheidungen zur Sprache. Allenfalls wird zu einem Beschluss erwähnt, er sei nach stattgehabter Erörterung gefallen. Diese lakonische Kürze ist durchaus nicht ungewöhnlich; von Protokollen als Quellengattung darf grundsätzlich nicht erwartet werden, dass sie etwas anderes als die rechtlich relevanten Aspekte eines Vorgangs festhalten, in diesem Fall eben die Beschlüsse. Der Umstand unterscheidet die Protokolle des Reichsministeriums aber doch von einzelnen ähnlichen Quellen derselben Zeit, namentlich von den Wiener Ministerratsprotokollen, in denen regelmäßig auch von den Ministern vorgebrachte Standpunkte und Argumente wiedergegeben werden. (Dies rechtfertigt im Falle der österreichischen Protokolle für sich bereits den Grundsatz der Edition im Volltext, auch wenn er angesichts des Umfangs des Bestandes an der langen Bearbeitungsdauer und dem gewaltigen Umfang der Edition einen gewichtigen Anteil hat.)

Die Aufarbeitung der Beilagen und sonstigen Bezugsakten sowie die Verwertung von Sekundärliteratur in den Sachkommentaren sind natürlich die Mittel erster Wahl, um die Kürze der Protokolle auszugleichen und den Benutzerinnen und Benutzern unserer Edition die unausgesprochenen Zusammenhänge zu erschließen. Manches aber, zumal Atmosphärisches, steht in aktenförmigem Schriftgut nirgends. Daher kommt die Idee, dass es einerseits wünschenswert, andererseits aber angesichts des überschaubaren Gesamtumfangs des zu bearbeitenden Materials auch hinsichtlich des Aufwands vertretbar ist, Quellen anderer Art ergänzend hinzuzuziehen. Zeitnahe Briefe oder persönliche Aufzeichnungen einerseits, später niedergeschriebene Erinnerungen andererseits erscheinen dazu gerade wegen der ganz anders als bei Akten gelagerten Berichts- und Selbstdarstellungsabsichten, die in ihnen wirksam sind, als besonders interessante Texte. Dass die Anlage und auch die Aufbewahrung solcher Schriften, welche die neuere Quellenkunde im Bereich der Selbstzeugnisse oder „Ego-Dokumente“ verortet, bei bürgerlichen wie adeligen Akteuren des öffentlichen Lebens im 19. Jahrhundert besonders verbreitet war, kommt unseren Absichten zustatten; im Übrigen auch insofern, als erhebliche Mengen derartiger Quellen bereits in publizierter Form vorliegen. Die Durchsicht dieser Veröffentlichungen und die Anbringung von Verweisen ist daher Teil der Kommentierung der Akten; zusätzlich sollen aber bisher ungedruckte Stücke ediert werden, wo sie von besonderem Wert für die Anliegen unseres Forschungsvorhabens sind.

Klar sein muss dabei, gerade angesichts des Umfangs des potentiell verwertbaren Materials dieser Art, dass es sich nur um eine Auswahl handeln kann. Die Protokolledition und der Nachweis der Bezugsakten sind und bleiben das Pflichtprogramm unserer Edition, die Ergänzung aus Selbstzeugnissen der Beteiligten gleichsam die Kür. Ein Vollständigkeitsanspruch, wie er hinsichtlich des ersteren Punktes selbstverständlich einzuhalten ist, kann hinsichtlich des zweiten nicht eingelöst und soll daher gar nicht erhoben werden: Dazu müssten wohl sämtliche Abgeordnete, Reichsgesandte, Reichskommissare, aber auch die Minister der einzelstaatlichen Regierungen, mit denen die Zentralgewalt verkehrte, einbezogen werden, darüber hinaus aber auch noch andere Zeugen und Zeuginnen, die in welcher Kapazität auch immer als Journalisten, als Beamte oder Militärs, als Ehefrauen von Politikern Einblick in das Geschehen hatten. Eine erste wesentliche Beschränkung betrifft daher den Personenkreis: Die handschriftlichen Nachlässe werden nur für die Mitglieder des Reichsministeriums, also Minister und Unterstaatssekretäre, aufgesucht. Auch aus ihnen kann aber gewiss nicht jede Stelle, die in irgendeiner Weise für die Tätigkeit der Zentralgewalt relevant und bisher ungedruckt ist, von uns veröffentlicht werden. Es ist daher eine Auswahl zu treffen, die sich an der Relevanz für die Leitfragen unseres Projekts orientiert.

Was dabei im Einzelnen herauskommen wird, ist aber jetzt noch nicht zu sagen. Da es ja gerade darum geht, bisher Unveröffentlichtes zu finden, wissen wir noch nicht, was der Blick in die Nachlässe liefern wird. Mit dem Schmerling-Nachlass hat vor kurzem dieser Arbeitsgang begonnen, Anfang März sind dann bereits die Mohlschen Papiere an der Reihe. Was sich dabei ergibt, wird an dieser Stelle zu erfahren sein, bevor es dann in den Editionsband Eingang findet.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/128

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