Antiziganismus. Was können wir tun?

 

Umfangreiche und detaillierte Curricula, eine unübersehbare Auswahl an Lernmaterialien und gleichzeitig eine schwindende Zahl an Geschichtslektionen sind alltägliche Herausforderungen für Geschichtslehrkräfte der Sekundarstufe I. Lässt sich da ein spezieller Inhalt wie zum Beispiel die Geschichte von Roma, Sinti und Jenischen rechtfertigen? Unbedingt!

 

Das Roma-Kind mit der Waffe

Auf dem Titelbild des Schweizer Magazins „Weltwoche“ vom 5. April 20121 zielte ein Roma-Kind mit einer Pistole direkt auf die Lesenden. Das Bild und der dazu gehörende Artikel lösten eine heftige Debatte aus. Sie sind ein krasses, aber sprechendes Beispiel für den Befund einer kürzlich von der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus publizierten Studie zur Berichterstattung über Roma in Schweizer Medien. Die Studie zeigt eine markante Zunahme der Pressebeiträge in den letzten Jahren – und inhaltliche Unterschiede: Berichte über Roma im Inland fokussieren meist auf Aspekte wie Bettelei, Kriminalität und Prostitution, während Ausland-Beiträge mehr über Diskriminierung und Integrationsbemühungen berichten.2

Lernanlässe: die heutige Presse

Der Umgang unserer Mehrheitsgesellschaft mit Roma, Sinti und Jenischen ist heute also ein vieldiskutiertes Thema in der Öffentlichkeit. Ihre Medienpräsenz bietet Lehrkräften die Möglichkeit, exemplarischen, problemorientierten und multiperspektivischen Unterricht zu gestalten. Der Lebensweltbezug ist dabei hoch, zumal in vielen Klassen SchülerInnen mit Migrationshintergrund sitzen, die täglich Erfahrungen mit Diskriminierung und Ausgrenzung machen. Für exemplarischen Unterricht in politischer Bildung bieten sich zunächst Presseberichte an: Sie werfen Fragen auf – bezüglich ihrer Fokussierung, bezüglich der Stereotypisierung mancher Vorwürfe, aber auch bezüglich der angesprochenen Problemfelder. Welche Behauptungen lassen sich belegen, welche widerlegen? Wo lassen sich Pauschalisierungen und Vorurteile ausmachen? Wie reagieren Behörden auf die öffentliche Diskussion? Und schließlich: Was weiß man eigentlich über Anzahl, Herkunft und Lebensweise von Roma, Sinti und Jenischen? Kurz, hier bieten sich mannigfache Anknüpfungen für Klafkis Schlüsselthema „gesellschaftlich produzierte Ungleichheit“.3

Das Unrecht an den Jenischen

Die Beschäftigung mit Antiziganismus hat aber auch eine historische Komponente. Sinti und Roma bildeten nach den Juden die zweitgrösste Opfergruppe der Nationalsozialisten. Ihre Stigmatisierung, Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung folgten dem Muster der Shoah, wenn auch nicht überall gleich gnadenlos wie bei der jüdischen Bevölkerung. Auch in der Schweiz gab es eine Form schwerer Diskriminierung: „1926 begannen das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse der Stiftung Pro Juventute mit Unterstützung des Bundes sowie andere Fürsorgeinstitutionen, den Jenischen systematisch die Kinder (…) wegzunehmen und sie in Pflegefamilien, psychiatr. Anstalten und sogar Gefängnissen unterzubringen, um sie zur Sesshaftigkeit umzuerziehen. Erst 1973 erwirkten die Betroffenen mit Unterstützung der Medien das Ende dieser Massnahmen.“4 In zwei knappen Sätzen beschreibt das Historische Lexikon der Schweiz einen Vorgang, den der Historiker Thomas Meier als „beispielloses dunkles Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte“ bezeichnet.5 Der Hintergrund ist tatsächlich erschreckend: Aufgrund von rassistisch erscheinenden Ressentiments trennte eine private Stiftung mit Unterstützung der Behörden rund 600 Kinder von ihren jenischen Eltern und platzierte sie in Pflegefamilien oder in Heimen. Ziel war es, die fahrende Kultur der Jenischen zu eliminieren, die als gesellschaftlich unerwünscht galt. Zurück blieben gebrochene Eltern und traumatisierte Kinder. Eine Tragödie in einem vom Leid der Katastrophen des 20. Jahrhunderts weitgehend verschonten Land.

Aktuelle Initiativen in der Schweiz

Kultur und Geschichte von Roma, Sinti und Jenischen sind sowohl im Internet wie in der Qualitätspresse und in der Fachliteratur immer besser dokumentiert. Trotzdem braucht es von den Lehrpersonen nach wie vor einige Anstrengung, die Informationen zu sichten und thematisch zu fokussieren. Entsprechend gestaltete Lehrmittel und Lernmaterialien sind noch eher dünn gesät. Die Pädagogische Hochschule Nordwestschweiz hat sich deswegen in zwei Tagungen dem Thema angenommen. Die Resultate der ersten Tagung 2013 zu den aktuellen Forschungsergebnissen zum Antiziganismus werden im Januar 2014 erscheinen. An einer zweiten Tagung6 anlässlich des Holocaust-Gedenktages 2014 sollen Möglichkeiten der schulischen und ausserschulischen Vermittlung diskutiert werden. Ihre Resultate werden voraussichtlich online zur Verfügung gestellt werden. Antiziganismus hat Potential für den Unterricht – und zwar für Geschichte wie für Politische Bildung. Entsprechende Themen sind aber komplex. Es gilt, inhaltlich korrekt zu sein und bestehende Narrationen kritisch zu hinterfragen. Dazu bedarf es alltagstauglicher Instrumente für die Lehrkräfte – und ein Engagement wie auch eine Kompetenzerweiterung der AutorInnen von Lehrmitteln und Curricula.

 

Literatur

  • Bogdal, Klaus Michael: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Frankfurt a.M. 2011.
  • Schär, Bernhard / Ziegler, Béatrice (Hrsg.): Antiziganismus in Europa und der Schweiz. Geschichte, Kontinuitäten und Reflexionen, Zürich 2014 (erscheint im Januar).
  • Galle, Sara / Meier, Thomas: Von Menschen und Akten. Die Aktion «Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute, Zürich 2009 (mit DVD-ROM).

Externe Links

  • Der Bildungsserver Berlin-Brandenburg bietet eine aktuelle Übersicht über verfügbare Unterrichtsmaterialien zu Sinti und Roma in Deutschland und gibt weitere Hinweise auf Quellen und Dokumentationen. URL: http://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/sinti_roma.html (zuletzt am 81.1.14).
  • Informationen zu Schweizer Fahrenden bietet die kürzlich publizierte Website der Stiftung „Zukunft für Schweizer Fahrende“. URL: www.stiftung-fahrende.ch/geschichte-gegenwart/ (zuletzt am 8.1.14).
  • Homepage des Historikers Thomas Huonker zu Geschichte und Gegenwart der Jenischen in der Schweiz. URL: http://www.thata.ch (zuletzt am 8.1.14).


Abbildungsnachweis
© Dominik Sauerländer.

Empfohlene Zitierweise
Sauerländer, Dominik: Antiziganismus
. Was können wir tin? In: Public History Weekly 2 (2014) 3, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1165.

Copyright (c) 2014 by Oldenbourg Verlag and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.

The post Antiziganismus. Was können wir tun? appeared first on Public History Weekly.

Quelle: http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/2-2014-3/antiziganismus-koennen-wir-tun/

Weiterlesen

Methodik, Schmuddelkind der Geschichtsdidaktik? Eine österreichische Perspektive

 

Die Geschichtsdidaktik kämpft in Österreich nach wie vor um den durchgängig anerkannten Status einer Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, wenn nicht sogar um den einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin. Es gibt bislang keinen ordentlichen Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik an einer Universität. An den Pädagogischen Hochschulen sind die Abdeckungen wenn überhaupt am ehesten mit denen in der Schweiz vergleichbar. Die intensiven geschichtstheoretischen und geschichtsdidaktischen Diskussionen und Forschungen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und auch aktuelle Bemühungen haben zwar viel erreicht, doch die Geschichtsdidaktik konnte sich nicht gänzlich befreien von den an den Lehrerausbildungsseminaren des vorigen Jahrhunderts geprägten und bis heute nachwirkenden Vorstellungen in den Köpfen vieler, wonach die Disziplin vor allem Methodik wäre. 

 

“Schulpunzierung”?

Nicht selten wird „Fachdidaktik“ dabei mit dem Erstellen von Arbeitsblättern und Overheadfolien gleichgesetzt.1 Befördert wird diese Vorstellung von der „reinen Vermittlungsdisziplin“ nicht zuletzt an österreichischen Hochschulstandorten, an denen die Geschichtsdidaktik nicht mit Professuren und einer entsprechenden Ausstattung abgedeckt ist, sondern durch Lehrbeauftragte aus dem Schuldienst, die durch Doppelbelastungen zwischen Lehre in der Klasse und im Hörsaal oft nicht ausreichend Zeit für eine wissenschaftliche Weiterqualifikation am Standort finden, geschweige denn breit empirisch zu forschen. Engagierte Ausnahmen gilt es hier hervorzuheben! Die Didaktik der Geschichte gilt seit Karl-Ernst Jeismann aber eigentlich als die „Wissenschaft vom Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft“. Ein Diktum, das in der Community gerne verwendet wird und dem sich viele Generationen von GeschichtsdidaktikerInnen anschlossen. Es wurde durch unterschiedlichste theoretische und empirische Studien untermauert. Schließlich war es ein Befreiungsschlag, der von einem wenig distinkten Dasein zwischen Geschichtswissenschaft und Allgemeiner Didaktik wegführte. Es kam zudem zur Emanzipation von der „Schulpunzierung“. Die Geschichtsdidaktik weitete sich zugunsten zusätzlich relevanter Bereiche zwischen individuellem und kollektivem historischen Denken und den daraus erwachsenden Objektiviationen (Geschichtskultur) aus.

Selbstreferenzielles System ohne Praxisanbindung?

Was sich jedoch im gleichen Maße entwickelte, war eine gewisse Distanz zur Schulpraxis. Während sich die theoretische und empirische Geschichtsdidaktik bis zum heutigen Tag – dank differenzierter Zugangsweisen und Profilierungen – in einer wissenschaftlichen Sphäre positionierte, existierten nach wie vor die Mühen der konkreten Geschichtsstunde von LehrerInnen. Alltägliche Praxis und wissenschaftlicher Überbau klafften, glaubt man den Unkenrufen der österreichischen Lehrerschaft im Rahmen der Fort- und Weiterbildung, immer weiter auseinander, nicht nur im sprachlichen Habitus beim Reden über den Geschichtsunterricht. Handelt es sich bei weiten Teilen der Geschichtsdidaktik tatsächlich um ein selbstreferenzielles System, ohne die Nöte der Schule wahrzuhaben? Wurde gar die praxisrelevante geschichtsdidaktische Methodik zum „Schmuddelkind“ des Faches? – zu nah am konkreten Problem, zu fern der theoretischen Abstraktion? Es stellt sich daher die Frage, inwieweit pragmatische bzw. (fach)methodische Anliegen aus der Praxis und vor allem auch deren Verquickung mit pädagogischen Problemlagen in konkreten Schulklassen (Heterogenität/ Diversity, Motivation, Leseschwächen, Verhaltenskreativität etc.) von der Geschichtsdidaktik weitgehend ignoriert werden dürfen.

Ungewollte Didaktik in Österreich

Zu Recht war seit dem PISA-Schock ein Hinwenden zum Fachspezifischen und zu den ureigenen Agenden notwendig. Hans-Jürgen Pandels Kritik an den „fremden Importen“2, welche das Fach aushöhlten oder gar die fachspezifischen Aspekte abschafften, war mehr als berechtigt. Doch im Zusammenspiel zwischen der Realität in den Schulklassen, der Leistungsfähigkeit der SchülerInnen und den Anforderungen der Geschichtsdidaktik an einem besseren Geschichtsunterricht zeigen sich für SchulpraktikerInnen nicht selten Anforderungen, die aufgrund fehlender methodischer Modelle als überzogen wahrgenommen werden. Ein Theorie-Praxis-Gap kann festgestellt werden. Für Österreich ist zu beobachten, dass die sprachliche und begriffliche Präzision sowie die einer Wissenschaft innewohnende Tradition im Umgang mit älteren Denkrichtungen in jenem Teilbereich der Geschichtsdidaktik, welcher sich der fachspezifischen schulischen Vermittlung zuwendet und daher als angewandte Wissenschaft begriffen werden kann, von der eigentlichen Zielgruppe – den LehrerInnen – tendenziell abgelehnt wird. Dies hat jedoch mehrere Gründe. Nicht verschweigen sollte man für Österreich die Tatsache, dass viele im Dienst stehende GeschichtslehrerInnen überhaupt keine fachdidaktische Ausbildung erhielten und in der Fortbildung im Heute aber in Teilen einem als übergroß erscheinenden und hoch differenzierten Begriffs- und Methodenapparat gegenüberstehen. Die administrative Praxis des Einsatzes von ungeprüften GeschichtslehrerInnen in der Pflichtschule verschärft diese Situation zudem. Auch scheint es, dass die „bildungspolitisch dominierende didaktische Orthodoxie“, welche alleine die Inhalte sieht, lieber auf das „Faktenlernen“ beharrt und sich gegenüber Änderungen in den Lehrplänen (z.B. fachspezifische Methoden, eigenständiges Denken) als resistent erweist.3 Es wundert dann jedoch wenig, wenn dort auch neopositivistische Positionen im Umgang mit Geschichte und Vergangenheit eingenommen werden.4

Balance tut not!

Es stellt sich weiter die Frage, wie die Methodik der Geschichtsdidaktik zwischen wissenschaftlicher Forschung & Entwicklung, Transferangeboten der Lehrerfortbildung und des Schulbuchmarkts, der gelebten Praxis sowie ihrer professionellen Selbstreflexion in konkreten Lernsettings die notwendige Balance halten kann. Dabei soll hier kein platter Praxis-Theorie-Gegensatz zum Selbstschutz der handelnden Personen an den Schulen oder an den akademischen Einrichtungen aufgebaut werden, sondern für eine enge produktive und gegenseitig wertschätzende Zusammenarbeit plädiert werden. Zudem darf die geschichtsdidaktische Methodik bei praxisnahen, am schulischen Alltag orientierten Umsetzungsversuchen nicht allzu schnell von ihren eigenen VertreterInnen an den tertiären Einrichtungen ins wissenschaftliche Abseits gestellt werden, weil dadurch der nötige Ausgleich und die darin lagernden Erkenntnischancen a priori verloren gehen. Eine adäquate geschichtsdidaktische Methodik wird sich daher hinkünftig um zweierlei kümmern müssen: Nämlich (1) um ihre wissenschaftliche Begründbarkeit, die nicht nur aus normativen bzw. theoretischen Setzungen bestehen kann, und (2) um einen relevanten Praxisbezug, der von den LehrerInnen im Feld angenommen wird. Klaffen die beiden Pole immer weiter auseinander, steht zu befürchten, dass beide Seiten sich als inadäquate „Spielkameraden“ wahrnehmen und den SchülerInnen damit am wenigsten geholfen ist.

 

 

Literatur

  • Kühberger, Christoph / Windischbauer, Elfriede: Individualisierung und Differenzierung im Politikunterricht. Offenes Lernen in Theorie und Praxis, Schwalbach/Ts. 2013.
  • Mayer, Ulrich / Pandel, Hans-Jürgen / Schneider, Gerhard (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, 4. Aufl., Schwalbach/Ts. 2013.

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
© Jutta Rotter / pixelio.de

Empfohlene Zitierweise
Kühberger, Christoph: Methodik als “Schmuddelkind” der Geschichtsdidaktik? Eine österreichische Perspektive. In: Public History Weekly 2 (2014) 3, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1263.

Copyright (c) 2014 by Oldenbourg Verlag and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.

The post Methodik, Schmuddelkind der Geschichtsdidaktik? Eine österreichische Perspektive appeared first on Public History Weekly.

Quelle: http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/2-2014-3/methodik-als-schmuddelkind-der-geschichtsdidaktik-eine-oesterreichische-perspektive/

Weiterlesen