Pofallas Briefkopf – Aktenkunde und zeitgenössische Dokumentenfälschungen

Die Diplomatik, hier verstanden als klassische Urkundenlehre, war zuerst eine praktische Wissenschaft, bevor sie eine Hilfswissenschaft der Geschichtsforschung wurde. Discrimen veri ac falsi, die Entlarvung von Urkundenfälschungen, war in der Frühen Neuzeit eine Kunst von eminentem politischem und staatsrechtlichem Wert.

Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass die Aktenkunde als jüngere Schwester der Diplomatik diese Entwicklungsstufe übersprungen habe. In der Tat sorgt bereits die Überlieferung im Registraturzusammenhang dafür, dass der Echtheitsbeweis für das einzelne Aktenschriftstück bei der historischen Auswertung kaum je angetreten werden muss. Ganz verloren hat sich diese Aufgabe freilich nicht, und das Instrumentarium ist dafür vorhanden.

Im Februar 2013 berichtete die „Zeit“ über ein angeblich vom Chef des Bundeskanzleramtes, Ronald Pofalla, stammendes Schreiben an die Vorsitzende des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages. Folgt man dem Wortlaut, so hätte Pofalla massiven Druck auf den Ausschuss ausgeübt. Das Bundeskanzleramt wie die Ausschussvorsitzende bezweifelten umgehend die Echtheit des Stücks, und auch die “Zeit” blieb skeptisch. Es wurde Strafanzeige wegen Urkundenfälschung erstattet.

Die Argumentation gründet zum einen im Registraturzusammenhang (Pofalla sei nach Aktenlage nie mit dem Thema befasst gewesen), zum anderen auf formalen Merkmalen, mit denen wir in den Bereich der Aktenkunde kommen. Auch ohne das Stück zu kennen, lässt sich das discrimen veri ac falsi an diesem Beispiel zeitgeschichtlicher Aktenkunde ansatzweise durchspielen.

Wie also hat muss man sich das Schriftstück anhand des „Zeit“-Berichts vorstellen? Das Layout von Schreiben Oberster Bundesbehörden ist allgemein bekannt: Links oben im Kopf müsste das Signet der Bundesregierung stehen: Ganz links der Bundesadler in der 1997 eingeführten „dynamischen“ Gestaltungsvariante (Laitenberger/Bassier 2000: 13), rechts daneben ein schmaler, schwarz-rot-goldener Balken und wiederum rechts daneben die Behördenfirma, hier also „Bundeskanzleramt“, sofern nicht die personalisierte Variante mit der Amtsbezeichnung „Der Chef des Bundeskanzleramtes“ gewählt wird. Folgt man der „Zeit“, so stand „Bundeskanzleramt“ im Kopf. Während bei normalen Schreiben der obersten Bundesbehörden nur der Name des zeichnenden Bearbeiters genannt wird, gibt es für Schreiben hoher Amtsträger eine Personalisierungsmöglichkeit durch ein Namensfeld am rechten Rand im oberen Seitendrittel. Hier wäre zu erwarten „Ronald Pofalla MdB, Bundesminister“, oder ähnliches.

In jedem Fall firmiert der „ChefBK“ auf dem Kopfbogen seines Amtes selbstverständlich mit dessen Adresse (Willy-Brandt-Str. 1). Das der „Zeit“ zugespielte Schreiben führte, der Berichterstattung zufolge, als Absenderangabe aber das Mitglied des Deutschen Bundestages Pofalla mit seinem Abgeordnetenbüro an (im Jakob-Kaiser-Haus des Bundestages, Platz der Republik 1). Den Praktikern im Bundeskanzleramt ist dieser Fehler natürlich sofort aufgefallen. Um einen zentralen Forschungsbegriff zu verwenden: Das Stück ist offensichtlich nicht kanzleigemäß. Unter der Kanzleimäßigkeit eines Schriftstücks verstehen wir die „Übereinstimmung mit den jeweils aktuellen Normen der ausstellenden Kanzlei“ (Vogtherr 2008: 63).

Wäre Pofalla in seinem Amt als MdB Urheber des Schreibens, so würde dies einen weiteren, augenfälligen Verstoß gegen die Kanzleiregeln implizieren: einen falschen Adler.

Heraldisch gibt es nur „den“ Bundesadler. Die moderne Staatssymbolik weicht insofern von der klassischen Heraldik ab, als dass sie für einzelne Anwendungsbereiche unterschiedliche gestalterische Ausführungen des Wappens bzw. des Wappenbildes vorsieht. Das „Grundmodell“ des Bundesadlers wurde durch eine Bekanntmachung des Bundespräsidenten festgelegt und ist identisch mit dem Weimarer Reichsadler. Für die Ausführung zu amtlichen Zwecken sind „die im Bundesministerium des Innern verwahrten Muster … maßgebend“ (Bundesgesetzblatt 1950 S. 26. Vgl. Hattenhauer 1990: 121 f.). Diese Muster zeigen den 1927 von Tobias Schwab gestalteten Weimarer Reichsadler (Laitenberger/Bassier 2000: Tafel I. Vgl. Hartmann 2008: 501). Die leicht abgewandelte Variante für das heutige Signet unterscheidet sich auf den ersten Blick nur durch das ausgestellte Gefieder, das schon in Heuss’ Bekanntmachung für die Darstellung des Adlers außerhalb des Wappenschilds vorgeschrieben wird (auf der Website des BMI lässt sich der Signet-Adler oben links gut mit dem Adler des Bundeswappens vergleichen).

Während die Bundesbehörden also Schwabs Ausführung verwenden, nutzen der Bundestag und seine Mitglieder als Signet aber eine grafische Umsetzung der 1953 von Ludwig Gies für die Stirnwand des Plenarsaals geschaffenen Adlerplastik – der sogenannten „Fetten Henne“ (Hartmann 2008: 503–505). In einem Schreiben des MdB Pofalla wäre also dieser Parlamentsadler zu erwarten, dessen Kombination mit der Behördenfirma „Bundeskanzleramt“ im selben Kopfbogen nun völlig kanzleiwidrig wäre.

Wenn wir die heraldischen Elemente pragmatisch unter den „weichen“ Regeln der Staatssymbolik der Gegenwart betrachten, so gilt auch für heutige Behördenschreiben mutatis mutandis die Feststellung: „Insgesamt bildet die Heraldik des Schreibens und die Art ihrer Plazierung einen wichtigen Teil jenes ggf. territorial differenzierten Comments, der als ‚Kanzleistil‘ firmiert“ (Kloosterhuis 1999: 499, Preprint: 29).

Natürlich ist dies alles eine Trockenübung. Der Beweis der Fälschung wird über ordnungsgemäß geführte Akten in der Registratur des Bundeskanzleramtes geführt. Aber stellen wir uns vor, im Abstand von Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten wäre die amtliche Überlieferung ganz oder teilweise verloren gegangen, durch Katastrophen oder auch nur archivische Bewertung, und unsere ganze Quellengrundlage zu dem Vorfall sei das der „Zeit“ zugespielte Stück, das im Nachlass eines Journalisten überdauert habe. Spätestens müsste jetzt mit aktenkundlicher Methodik die inneren Merkmale des Schriftstücks untersucht werden.

Discrimen veri ac falsi – eine Aufgabe auch der zeitgeschichtlichen Aktenkunde.

 

Literatur

 

Hartmann, Jürgen 2008: Der Bundesadler. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56: 495–509 (Abstract).

Hattenhauer, Hans 1990: Geschichte der deutschen Nationalsymbole. 2. Aufl. München.

Kloosterhuis, Jürgen 1999: Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Ein hilfswissenschaftliches Kompendium. In: Archiv für Diplomatik 45: 465–563 (Preprint).

Laitenberger, Birgit/Bassier, Maria 2000: Wappen und Flaggen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder. 5. Aufl. Köln u. a.

Vogtherr, Thomas 2008: Urkundenlehre: Basiswissen. Hannover.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/38

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Netzfundstück: Kleine Aktenkunde beim Großen Generalstab

Der Archivar und Historiker Lars-Holger Thümmler betreibt eine Website zur preußischen Militärgeschichte, auf der sich etwas unerwartet auch eine „Kurze Einführung in die Aktenkunde“ ergoogeln lässt. Diese Seite scheint innerhalb der Website nicht verlinkt und nur direkt abrufbar zu sein.

Es handelt sich um eine als Gedächtnisstütze brauchbare Zusammenstellung zentraler Aktenstilformen der Zeit bis 1918, jeweils mit den wichtigsten formalen Merkmalen in Stichwortform. Hier ist auch einmal das unter Archivaren legendäre „Kornsche Gatter“ als JPG vorhanden: Ein tabellarisches Schaubild, das ein wenig wie „Käsekästchen“ aussieht, und es erlaubt, Aktenschriftstücke anhand der Kombination der Merkmale „Stil“ und „Zweck“ (des Schreibens) zu kategorisieren – benannt nach dem Dozenten an der Archivschule Marburg Hans-Enno Korn.

Merkwürdigerweise fehlen gerade die Sonderformen des militärischen Schriftguts; siehe dazu konzise Jürgen Kloosterhuis, Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Ein hilfswissenschaftliches Kompendium, in: Archiv für Diplomatik 45 (1999), S. 465–563, hier S. 548 f. (im Preprint Kap. V, Anhang 2).

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/27

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Aus gegebenem Anlass: Darstellung der Flut aus Johannes Zahns „Specula Physico-Mathematico-Historica Notabilium” 1696

Darstellung der Flut aus Johannes Zahns „Specula Physico-Mathematico-Historica Notabilium” von 1696

Bestand: Priesterhausbibliothek

Signatur: 17D 574.1

Johannes Zahn, Specula Physico-Mathematico-Historica Notabilium Ac Mirabilium Sciendorum: In Qua Mundi Mirabilis Oeconomia, nunc autem ad lucem protractus, ac ad varias perfacili methodo acquirendas Scientias in Epitomen collectus Thesaurus Curiosis omnibus Cosmosophis inspectandus proponitur. Teil 1: Opus omnigena Eruditione, ac Rerum Memorabilium argumentis conspicuum, cuivis hominum statui perutile: quo universae Naturae Maiestas in triplici Mundo Coelesti, Aereo, & Terrestri

Erschienen: Norimbergae [Nürnberg]: Lochner; Literis Knorzianis, 1696

[27] Bl., 448 S., [4] Bl., [8] Bl., [27] gef. Bl.; Kupfertafel, 1 Portrait (Kupferstich), 22 Illustrationen und graphische Darstellungen (Kupferstiche); 2° (40 x 27 cm)

Flut - Johannes Zahn 1696

Flut – Johannes Zahn 1696

Johann Zahn, geboren am 29. März 1641 in Karlstadt, gestorben am 27. Juni 1707, war ein deutscher Prämonstratenserchorherr, Philosoph, Optiker, Erfinder, Mathematiker und Autor verschiedenartiger Werke.

Sein Hauptarbeitsgebiet war die Optik inklusive der astronomischen Beobachtung. Zahn bezeichnete sich als Schüler des Astronomen Franz Griendel von Ach aus Nürnberg. Er war Professor der Mathematik an der Universität Würzburg. Außerdem war er Kanoniker im Prämonstratenserkloster Oberzell und von 1685 bis zu seinem Tod im Jahr 1707 Propst im Kloster Unterzell. In seinem Werk Specula physico-mathematico-historica notabilium – aus dem der hier vorgestellte Kupferstich stammt – versuchte er, die damaligen Kenntnisse der Naturwissenschaften umfassend darzustellen. Zu diesem Buch hat Eimmart (Dt. Mathematiker, Astronom u. Maler, 1638-1705) ein paar Graphiken beigesteuert. Er stand mit Zahn in Briefkontakt, auch verbrachte Zahn 1693 einige Tage auf Eimmarts Sternwarte in Nürnberg.

Interessant bleibt noch anzumerken, dass das 1642 wiederbesiedelte Prämonstratenserinnen-Priorat Unterzell, dem Zahn als Chorherr von Oberzell als Propst vorstand, später traurige Berühmtheit erlangte, da 1749, also mitten in der Zeit der Aufklärung, dessen Subpriorin Renata Singer als eine der letzten Hexen in Deutschland hingerichtet wurde.

Zahn dürfte beim Jesuiten und Würzburger Professor Caspar (Gaspar) Schott studiert haben, war somit mit Athanasius Kirchers Ideenwelt vertraut. Die damalige Denkwelt kann mit den Begriffen der pansophischen Universalwissenschaft und Polyhistorie umrissen werden. Weiters dürfte der Optiker, Naturforscher und Militärarchitekt Johann Frantz Griendel von Ach aus Nürnberg, der zeitweise Kapuzinermönch war, ihn beeinflusst haben. Zahn bemühte sich u. a. um den Nachweis von Regelmäßigkeiten in meteorologischen Naturphänomenen, sah aber andererseits etwa Stürme als Werk von Dämonen und Zauberei. Der Stich spiegelt auch seinen typisch barocken Hang zum Phantastischen wider.

Im 1. Band des Werkes (das als Überblick der gesamten Naturwissenschaften und als Lehrbuch konzipiert gewesen sein dürfte) findet sich im Scrutinium III. Atmo-cosmicum unter Disquisitio III Meteoro-Scopica (meteoroskopische Untersuchung, also auf das sich in der Luft Befindliche bezogen) das Kapitel VIII De Diluviis & inundationibus (Über Überschwemmungen und Fluten).

Im ersten Abschnitt legt er Ursachen und Prognosen der Überschwemmungen dar. Er beschreibt dabei seine Beobachtungen „in noster Franconia“ aus dem Jahr 1682. Und wirklich findet sich in der Chronik der unterfränkischen Weinstadt Hammelburg die Information, dass am 25. Januar 1682, „nachdem es bei 14 Tag und Nacht geregnet, die Saal so groß worden ist, dass das Gewässer zwei Zwiebogen auf dem Gänserasen eingestoßen, die Steg am Grobsteg teils abgeschoben und großen Schaden getan hat.“ Das Jahr wird auch in den Untersuchungen von Dr. Andreas von Heßberg zum Obermain als Extremhochwasser genannt.

Im zweiten Abschnitt listet er denkwürdige Fluten und Überschwemmungen mit außerordentlichen Exempeln auf, von Gen 7 bis „Calabria 1692“.

Der Emblemtext am linken oberen Rand des Stiches lautet: „Fluctuat omnis ager, remis sonuere navales,/ cernit cum stabulis armenta natantia pastor,/ sternunter segetes, et deplorata colonis/ vota jacent, lonique perit labor irritus anni.”

Die beiden ersten Zeilen stammen aus dem Schluss des Gedichtes Nilus von Claudius Claudianus, die beiden anderen geben die Zeile 271 f. der Metamorphosen des Ovid wieder („Niedergestreckt ist die Saat, und des Landmanns sehnliche Hoffnung lieget beweint, und des Jahrs langwierige Müh’ ist verloren.“).

Das Werk ist ganz Europa, aber besonders in Deutschland, in vielen Bibliotheken zu finden. Der Kupferstecher konnte leider nicht mit Sicherheit ermittelt werden, es könnte aber durchaus der oben erwähnte Georg Christoph Eimmart gewesen sein.

Literatur:

http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Zahn (download 1. 7. 2009)

http://www.math.uni-hamburg.de/spag/ign/events/pdf/eimmart1004.pdf (download 1. 7. 2009)

Quelle: http://aes.hypotheses.org/37

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Mit Fürsterzbischof Franz Anton durch das Kirchenjahr – Fronleichnam 1723

Den 27ten dito feria 5ta in solemnitate Ss. Corporis Christi, umb 7 Uhr seyn Ihro Hochfürstl. Gnaden etc. mit dem ganzen Hoff und Einem hochwürdigen Dom-Capitel, in gewöhnlicher Vortragung des Erzbischöfl. Legat. und Stangn-Creuz, von dero Zimmern aus hinunter in dem Dom vor dem Hoch Altar gangen, nach daselbst gemachter reverenz sich ferner unter dem Baldachin in den Süz erhoben, allwo Ihro Hochfürstl. Gnaden etc. nebst denen Pontifical, auch die Missal Paramenta angenohmen, Erstlich die Nonam intoniert, und so dann das Hochambt solemniter Pontificiert. Nachdeme, ist die große Fronleichnambs Procession durch die vornehmiste Gassen allhiesiger Residenz Statt instituiert worden, bey welcher Höchst-gedacht Ihro Hochfürstl. Gnaden etc. das Hochwürdigiste Gueth selbsten getragen, und bey denen vier Evangeli die 4 heylige Seegen, benantlichen, den Ersten in dem Dom, den andten bey der Löbl. Bürgerspittals Kürchen, den dritten bey der Tothen-Bruedschafft, und den Viertn in der Capitel-Gassen, dem anwesenden Volckh mitgethailt haben, bey disem Actu Solemni haben aufgewarth Ihro hochwürden, und hochgräfliche Gnaden, Felix, Graf von Schrattenbach, Dom-Decanus. Ihro hochwürden und hochgräfl. Gnaden, Antonius, Graf von Fürstenberg. Ihro hochwürden und hochgräfl. Gnaden, Andreas, Jacob, Graf von Dietrichstein. Ihro hochwürdn und hochgräfl. Gnaden, Oswald, Graf von Attembs, und Ihro hochwürden und hochgräfl. Gnaden Franz Heinrich, Graf von Königl. Eodem Nachmittag, umb 3 Uhr, seyn Ihro Hochfürstl. Gnaden etc. in kurzen Klaydern, mit dero Hofstadt in das Oratorium Sancti Ruperti gangen, umb daselbst der Vesper, Complet und heylig Seegen beyzuwohnen.

Quelle: http://aes.hypotheses.org/26

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„Übergangsgesellschaften“ – ein Werkzeug

Sind nicht alle Gesellschaften Übergangsgesellschaften? Kann ich mir eine Gesellschaft vorstellen, die vollständig statisch ist, die sich also nicht in einem Übergang von einem in einen anderen Zustand befindet? Gibt es überhaupt gesellschaftliche Zustände, die durch Übergänge miteinander verknüpft werden? Bereits diese erste Irritation verdeutlicht, dass „Übergangsgesellschaften“ weniger eine Klassifikation ist (nach dem Muster: es gibt Übergangsgesellschaften und es gibt Zustandsgesellschaften), sondern eher als heuristisches Werkzeug dienen kann.

Es wäre jedoch banal, als einzigen heuristischen Mehrwert den Fokus auf die Wandelbarkeit gesellschaftlicher Strukturen und Mechanismen anzunehmen – etwa genauso banal wäre es auch, das Ganze als These zu formulieren, etwa: Ich gehe davon aus, dass ländliche Gemeinden zwischen 1850 und 1950 Übergangsgesellschaften waren. Nur als Werkzeug, nicht aber als Ergebnis, funktioniert der Begriff.

Verstreute Funde innerhalb und außerhalb der Geschichtswissenschaft bieten jedoch die Möglichkeit, etwas genauer zusammenzupuzzlen, was mit dem Begriff „Übergangsgesellschaften“ als Werkzeug zu erreichen ist.

Zunächst jedoch: „Übergangsgesellschaft“ ist im Grunde gar kein Begriff. Er taucht nicht besonders häufig auf, und er ist in keiner Form als Begriff fixiert. In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft gibt es eigentlich nur eine Verwendungsweise des Begriffs, die klar zuzuordnen ist. Im Jahr 1996 erschien in der „Zeitschrift für Historische Forschung“ ein Aufsatz von Christof Dipper mit diesem Titel; darin plädierte er dafür, Europa um 1800 als „Übergangsgesellschaft“ zu begreifen. Er verfolgte damit eine doppelte Strategie: Zum einen betonte er europaweite Ähnlichkeiten und Parallelen, zum anderen forderte er eine Neubewertung des späten 18. Jahrhunderts, indem er die „Epochenschwelle“ von 1789 durch einen längeren Transformationszeitraum ersetzte. Dafür zog er zum Beispiel demographische oder ökonomische Strukturveränderungen als Argumente heran. Einige wenige Autoren verwenden den Begriff ausgehend von Dippers Überlegungen, ohne ihn dabei weiter zu bestimmen (Bauerkämper, Grewe und Raphael); in der Festschrift zu Dippers Emeritierung erschien außerdem 2008 eine Auseinandersetzung von Jürgen Osterhammel mit dem Begriff aus globalhistorischer Sicht.

Bibliographiert man auch jenseits der disziplinären Grenzen, trifft man auf den Terminus in der Entwicklungssoziologie. Stichwortgeber war hier der Soziologe Alvin Boskoff, der in den 1950er Jahren den Begriff der „transitional society“ (der mit „Übergangsgesellschaft“ übersetzt wird) benutzte, um Gesellschaften der südlichen Hemisphäre zu beschreiben. Ihm war daran gelegen, die starken Dichotomien, die die Soziologie beherrschten, aufzulösen. Mit dem Begriff „transitional society“ führte er einen weiteren, hybriden Idealtypus ein: „By ‚transitional society‘ is meant a society which offers substantial evidence of modification away from some distinguishable ideal type with which it had been previously identified.“. Er dynamisierte also – ebenso wie Dipper übrigens – die Beobachtung von gesellschaftlichen Transformationen.

Dabei charakterisierte Boskoff allerdings diese „transitional societies“ durch besondere Konfliktlagen, die dadurch zustande kämen, so Boskoff, dass externe Wandlungen nicht vollständig und nicht adäquat in die gesellschaftliche Struktur eingebaut würden. So entstünden Spannungen struktureller und psychologischer Art.

Was bei Boskoff – schon allein aufgrund der Wortwahl – problematisch und beinahe pathologisch klang, fasste Pierre Bourdieu rund 20 Jahre später etwas gelassener. In seiner Untersuchung zu Wirtschafts- und Zeitstrukturen in Algerien in den 1960er Jahren (dieses Buch trägt im deutschen Untertitel den Begriff der Übergangsgesellschaft, Bourdieu selbst verwendet ihn allerdings nicht) entwickelte er eine Betrachtungsweise von gesellschaftlichem Wandel, der durch externe Veränderungen angestoßen wird und sich in einem von hierarchischen Machtbeziehungen durchzogenen Raum abspielt.

Dieser gesellschaftliche Wandel, so Bourdieu, sei notwendigerweise spannungsgeladen – nicht etwa nur deshalb, weil die Übergangsgesellschaften die externen Einflüsse nicht adäquat verarbeiteten. Strukturveränderungen, so Bourdieu, könnten sich gar nicht unmittelbar in veränderten Lebensweisen, Dispositionen und Habitus niederschlagen, denn sie müssten über einen langwierigen Lernprozess, über Erfahrung und Praxis von Individuen (die unterschiedlich gute Voraussetzungen dafür mitbrächten) eingepasst werden. Ein solcher Adaptionsprozess an neue strukturelle Veränderungen aber brauche Zeit.

Bourdieus Vorschlag – Spannungen und Lernprozesse als nicht-deviante Verhaltensweisen zu verstehen und damit erst der Analyse zugänglich zu machen – muss meiner Meinung nach durch eine weitere Perspektive ergänzt werden: Befindet sich eine Gesellschaft im Übergang, ist keineswegs klar und eindeutig, was ihr Ziel sein wird. Weder gibt es eine notwendige (und wiederum statische) Endstation, noch gibt es ausschließlich eine adäquate und damit letztlich zu erreichende Umgangsweise mit strukturellen Veränderungen. Der Übergang ist vielmehr eine vergleichsweise offene Situation, in der verschiedene Adaptionsprozesse beobachtet werden können.

„Übergangsgesellschaften“ bezeichnet also soziale Gebilde, deren Kontexte und innere Strukturen, Machtverhältnisse und Praxisformen in Bewegung geraten sind. Während einer längeren Phase der Adaption kann man auf der Mikroebene beobachten, wie sich neue Konstellationen herausbilden, die sich nach und nach stabilisieren, ohne dass sie dabei determiniert sind. Der Begriff lenkt meine Aufmerksamkeit auf eine besondere gesellschaftliche Dynamik, die Anpassungsprozesse erzwingt und mit recht hoher Wahrscheinlichkeit Konflikte hervorbringt.

Ich beobachte ländliche Gemeinden zwischen 1850 und 1950 als Übergangsgesellschaften, und zwar mit dem Ziel, die Adaptionsprozesse sichtbar zu machen und daraus wiederum Einsichten in den gesellschaftlichen Wandel auf der Mikro- ebenso wie der Makroebene zu gewinnen.

 

Literatur:

Bauerkämper, Arnd: Traditionalität in der Moderne. Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Mecklenburg nach 1945, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 51 (2003), S. 9-33.

Boskoff, Alvin: Postponement of Social Decision in Transitional Society, in: Social Forces 31 (1953), S. 229-234.

Bourdieu, Pierre: Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaften. Aus dem Franz. Übers. u. m. einem Nachwort v. Franz Schultheis, Konstanz 2000 (frz. Orig. u.d.T.: Algérie 60. Structures économiques et structures temporelles, Paris 1977).

Dipper, Christof: Übergangsgesellschaft. Die ländliche Sozialordnung in Mitteleuropa um 1800, in: Zeitschrift für Historische Forschung 23 (1996), S. 57-87.

Grewe, Bernd-Stefan: Die Übergangsgesellschaft und ihre Umwelt, Schneider, Ute u. Raphael, Lutz (Hg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christoph Dipper, Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 687-705.

Osterhammel, Jürgen: Die europäische Übergangsgesellschaft im globalen Zusammenhang, in: Schneider, Ute u. Raphael, Lutz (Hg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christoph Dipper, Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 707-723.

Raphael, Lutz: Staat im Dorf. Transformation lokaler Herrschaft zwischen 1750 und 1850: Französische und westdeutsche Erfahrungen in vergleichender Perspektive, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 51 (2003), S. 43-61.

Zunächst ausgespart habe ich aus diesen Überlegungen das Stück des Dramatikers Volker Braun von 1982. Braun, Volker: Die Übergangsgesellschaft (1982), in: Stücke 2, Berlin 1989, S. 119-146.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/23

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