Nicht nur Wissenschaftler wollen die Welt verstehen. Jeder Mensch denkt mit und nach, stellt über einzelne Ereignisse hinausgehende Zusammenhänge her, gibt dem Konkreten einen Platz in einem größeren Kontext. Und das funktioniert meistens auch so gut, dass wir es bis ins Jahr 2013 geschafft haben und uns nicht auf der Basis eines falschen Verständnisses von Gravitation aus dem Fenster unseres Zahnarztes im 4. Stock geschwungen haben. Unsere Köpfe stecken voller Modelle/Theorien/Annahmen/Überzeugungen, mit denen wir uns erklären, was um uns herum und in uns drin geschieht und die unsere Interaktionen mit der Umgebung steuern. Psychologen untersuchen sowohl das Zustandekommen von Ursachenzuschreibungen (=Attributionen) als auch die Folgen, die diese ursächlichen Erklärungen nach sich ziehen. Wenn ich in der Bahn angerempelt werde, ist es für mein weiteres Handeln entscheidend, ob ich dieses Ereignis auf eine böswillige Absicht oder auf ein Versehen zurückführe.
Wer nicht fragt, bleibt zwar dumm, aber im Alltag rennen wir trotzdem nicht die ganze Zeit ‘Wieso? Weshalb? Warum?’ fragend durch die Gegend. Das liegt daran, dass wir viele dieser Fragen in der Vergangenheit schon einmal gestellt und beantwortet haben, so dass wir heute nur dann bewusst auf Ursachensuche gehen, wenn etwas unseren Erwartungen Widersprechendes geschieht. Wir fallen nicht schockiert vom Stuhl, wenn am Abend das Tageslicht versiegt, weil dieses Phänomen ganz wunderbar in unser Modell von einem normalen Tagesablauf passt. Andererseits kostet es beim Sommerurlaub in Island schon erstmal ein bisschen Kraft und Schlaf, die Verwirrung über die um zwei Uhr nachts aufgehende Sonne abzuschütteln. Und wenn es etwas gibt, das im Alltag noch regelmäßiger unseren Erwartungen zuwiderläuft als Naturereignisse, dann sind das andere Menschen. Wir erkunden die kausalen Zusammenhänge, wenn Geschehnisse unser Selbstbild, unsere Weltsicht oder den Umgang mit unseren Mitmenschen in Frage stellen.
Drei Informationsdimensionen
Wie laufen diese Attribuierungsprozesse, diese Erkundungen kausaler Zusammenhänge ab?
Nehmen wir an, ich treffe zum ersten Mal die Eltern meiner Freundin und ihr Vater wirkt zeitweilig mürrisch und abweisend, während ich mich mit ihm unterhalte. Ich bin verunsichert. Mag er mich nicht? Ist das einfach seine Art? Hat er einen schlechten Tag? Schmeckt ihm das Essen nicht? Interpretiere ich zu viel in sein Verhalten hinein? Um diese für die Beziehungsgestaltung wichtigen Fragen zu beantworten, sammle ich weitere Informationen: Ich beobachte, wie er sich seiner Frau und seiner Tochter gegenüber verhält. Ich frage ihn, ob ihm das Essen schmeckt. Ich frage meine Freundin, ob sie meine Interpretationen teilt. Bei unserem zweiten Treffen achte ich darauf, ob er weniger mürrisch wirkt als beim ersten.
Psychologen benutzen drei Fachbegriffe, um diese beispielhaft dargestellten Informationsdimensionen zu beschreiben, die jeder Mensch oft in sozial mehrdeutigen Situationen einholt. Konsensus-Informationen bekomme ich, indem ich meine Freundin frage, ob sie ihren Vater auch als abweisend wahrnimmt. Ich gleiche meine Sicht der Dinge mit der anderer Personen ab. ‘Geht es Dir auch so?’ ist die prototypische Frage. Distinktheits-Informationen bekomme ich, indem ich den Vater im Umgang mit seiner Tochter und seiner Frau beobachte. Ich gucke, inwiefern sein Verhalten sich in Abhängigkeit des Menschen ändert, mit dem er interagiert. Dabei wird es umso interessanter, je unterschiedlicher die Interaktionspartner sind. Am erhellendsten wäre es für mich, ihn mit einem Arbeitskollegen, einem Bettler, seiner Frau, seiner Geliebten, einem Spiegel, Gott, seinen Eltern und mit einem chinesischen Einsiedler reden zu sehen. ‘Wie abhängig ist das Phänomen vom Interaktionsobjekt?’ könnte die prototypische Frage sein. Konsistenz-Informationen bekomme ich, indem ich den Mann ein zweites, drittes und siebtes Mal treffe. Ich nehme Veränderungen über die Zeit in seinem Verhalten wahr. ‘Wie tagesformabhängig ist das Phänomen?’ lautet die prototypische Frage.
Vier Attributionsdimensionen
Je mehr und je bessere Informationen bezüglich Distinktheit, Konsistenz und Konsensus ich einhole, umso genauer kann ich attribuieren. Am Ende des Prozesses können völlig unterschiedliche Ursachenzuschreibungen und ebenso unterschiedliche Schlussfolgerungen für mein eigenes Handeln stehen. Spielen wir mit dem Schwiegervaterbeispiel mal ein paar mögliche Muster durch:
Version 1 Meine Freundin erlebt ihren Vater überhaupt nicht als mürrisch und abweisend mir gegenüber, sondern als warmherzig und offen. Ich bemerke, dass er einige seiner mürrischen Verhaltensweisen auch im Umgang mit seiner Frau zeigt. Und bei unseren folgenden Treffen verhält er sich wieder genauso wie bei unserer ersten Begegnung. Ich schließe, dass dieser Mensch einfach so ist, dass er es nicht böse mit mir meint und ich stelle mich auf sein Freundlichkeitsniveau ein, so gut es geht.
Version 2 Meine Freundin teilt meine Wahrnehmung und wundert sich besonders, weil ihr Vater sich mit ihrem Ex-Freund immer so gut verstanden hat. Zu seiner Frau ist er ausgesprochen liebreizend. Und bei unseren folgenden Treffen verhält er sich wieder genauso wie bei unserer ersten Begegnung. Ich schließe, dass dieser Mensch mich einfach nicht mag und versuche, ihn für mich zu gewinnen, solange ich die Energie dafür habe und spreche mit meiner Freundin darüber, wie wir mit diesem angespannten Verhältnis zusammen umgehen wollen.
Version 3 Meine Freundin nimmt ihren Vater auch als mürrisch und leicht abweisend wahr. Ich bemerke, dass er einige seiner mürrischen Verhaltensweisen auch im Umgang mit seiner Frau zeigt. Und bei unserem zweiten Treffen ist er die Warmherzigkeit in Person und überschüttet alle Anwesenden inklusive mir mit seiner überschäumenden Liebe. Ich schließe, dass dieser Mensch starke Stimmungsschwankungen hat und stelle mich innerlich darauf ein, mir ein etwas dickeres Fell in Bezug auf ihn zuzulegen.
Auch Attribuierungsergebnisse ordnen Psychologen auf Dimensionen. Ich kann internal, auf in der Person liegende Faktoren oder external, auf situationale Faktoren attribuieren. Ich kann Phänomene auf eine über die Zeit stabile oder auf eine variable Ursache zurückführen. Ich kann auf eine für mich kontrollierbare oder unkontrollierbare Ursache attribuieren. Und ich kann einschätzen, inwieweit eine Ursache auch in mehr oder weniger ähnlichen Situationen wirksam ist, wie global bzw. lokal sie ist. In einer dicken Depression attribuieren Menschen schöne Ereignisse z. B. gerne external, variabel, unkontrollierbar und lokal, während sie für unschöne Ereignisse ein internales, stabiles, unkontrollierbares und globales Muster wählen. Das heißt, wenn sie auf der Straße spontan angelächelt werden, sagen sie sich, dass das auf keinen Fall an ihnen liegen kann, dass es morgen bestimmt nicht noch einmal vorkommt, dass die Ursache für das Lächeln außerhalb des Bereiches ihrer Kontrolle liegt und dass die Situation derart einzigartig war, dass sowas in anderen Situationen nicht wieder passieren wird. Und wenn sie auf der Straße spontan beleidigt werden, sagen sie sich, dass sie einfach ein fantastisch beleidigbares Gesicht haben, mit dem sie weiterhin leben müssen und das sie nicht ändern können, weil sie nun mal so geboren sind, und dass sie darunter bei jeder Begegnung mit anderen Menschen und Spiegeln leiden.
Attributionsfehler
Im Alltag gehen Attribuierungen nicht derart strukturiert von statten; ich arbeite mich nicht erst durch die Konsensus-, Distinktheits- und Konsistenzinformationen hindurch, um am Ende ein inneres Statement abgeben zu können à la: “Unter Berücksichtigung aller vorhandenen Informationen entscheide ich mich dazu, das abweisende und mürrische Verhalten meines Schwiegervaters mir gegenüber internal, variabel, unkontrollierbar und global (Version 3) zu attribuieren.” Es ist jedoch beachtlich, wie sehr der intuitive Attribuierungsprozess dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnungsprozess ähnelt: Am Anfang steht eine Beobachtung, der einige Vermutungen folgen, die diese Beobachtung erklären könnten, und schließlich suche ich triftige Hinweise für und wider die verschiedenen Erklärungsalternativen. Dieser Vorgang kann in einsamer Reflexion oder auch im Gespräch stattfinden und er führt nicht zu finalen Weisheiten, sondern zu Übergangsergebnissen, die ggf. auf der Basis neuer Erfahrungen revidiert werden. Wegen dieser Ähnlichkeit des alltäglichen und des wissenschaftlichen Vorgehens sprechen Psychologen gerne von ‘Alltagspsychologie’ oder von ‘naiver Wissenschaft’. Und dann verbringen sie viel Zeit damit, die psychologischen Alltagsüberzeugungen tatsächlichen sozialwissenschaftlichen Befunden gegenüberzustellen. So tun sich Bereiche auf, in denen die im Großen und Ganzen gut geölte Erklärungsfindungsmaschine in unseren Köpfen von einer intersubjektiv teilbaren Realität abweicht und ihren eigenen Film schiebt.
Zum Beispiel tendieren Menschen dazu, den Einfluss von Persönlichkeitseigenschaften zu überschätzen, wenn sie andere Menschen beobachten. Wer einmal nicht ganz die Wahrheit sagt, ist ein Lügner. Wer mich in der Bahn anrempelt, ist entweder ein Tölpel oder ein Flegel. Und wer barfuß durch die Stadt geht, muss ein Hallodri sein. Das geht sogar so weit, dass selbst dann noch internal attribuiert wird, wenn der Persönlichkeitseinfluss auf ein Verhalten experimentell auf null reduziert wird. Beispielsweise kann man Leute zufällig einer von zwei Gruppen zuordnen, von denen die eine Essays pro und die andere contra Atomkraft schreiben soll. Und wenn man diese Essays Versuchspersonen vorlegt und um eine Einschätzung bittet, inwiefern die Essays den Standpunkt des jeweiligen Autors darstellen, attribuieren die Versuchspersonen immer noch ziemlich gerne internal, auf die Persönlichkeit, obwohl sie wissen, dass die Gruppenzuordnung per Münzwurf entschieden wurde. Diese kognitive Tendenz, das internale Attribuieren bei der Fremdbeobachtung zu übertreiben, nennt man den fundamentalen Attributionsfehler. Ähnliche Schwierigkeiten dem Schubladendenken zu entkommen haben Menschen, wenn sie Andere beobachten, die einer fremden Gruppe angehören. Wenn ich z. B. zum ersten Mal im Leben eine Kuwaiterin kennenlerne und sie beim Abendessen einen Spritzer Balsamico auf ihre Pizza tut, könnte ich verführt sein zu denken “Aha, das macht man in Kuwait also so”. Wenn mein Freund Christoph aus Detmold das gleiche tun würde, käme ich wohl nicht auf die Idee zu denken, dass alle Detmolder Balsamico-Pizzen lieben. Diese kognitive Tendenz, Eigen- und Fremdgruppen unterschiedliche Attributionen angedeihen zu lassen, nennt man den ultimativen Attributionsfehler.
Fazit
Jeder Mensch schreitet mit im Laufe des Lebens gewachsenen Modellen umher, die die äußere und innere Realität erklären sollen. Wenn diese geistigen Modelle durch neue Erlebnisse herausgefordert werden, betätigen wir uns als Alltagspsychologen und begeben uns in einen quasi-wissenschaftlichen Prozess der Informationssuche und der Ursachenzuschreibung. Dabei führen bestimmte Tendenzen – bei aller Effizienz des geistigen Attribuierungsapparates als Ganzem – nachweislich wiederholt zu Fehlern. So zum Beispiel, wenn wir im Verhalten Anderer ihre Persönlichkeit überstark durchscheinen zu sehen glauben oder wenn wir die Gruppenzugehörigkeit als handlungsbestimmendes Merkmal überbetonen.
Quelle: http://psych.hypotheses.org/81