Wie jeden Samstag haben sich in Istanbul am vergangenen frühen Abend wieder tausende von Menschen zu Demonstrationen zusammengefunden. Die Polizei reagiert mit massivem Trägen- Pfeffergas- und Wasserwerfereinsätzen, die auch nach der Nacht nicht beendet sind.
Doch zunächst ein paar Worte zu den letzten zwei Wochen, die unter dem Eindruck verschiedener Ereignisse standen, in deren Zuge bemerkenswerte Bündnisse sichtbar wurden.
Am 28.6. hatte in der kurdischen Region Lice bei Diyarbakır eine Demonstration gegen den Neubau einer Polizeistation stattgefunden, die just nach dem im Friedensplan vorgesehenen Abzug der PKK aus jenem Gebiet gebaut werden sollte. Die Sicherheitskräfte schossen in die Menge, verletzten 9 Menschen und erschossen den 18jährigen Medeni Yıldırım. Die Nachricht verbreitete sich rasch über alternative Medien und noch am gleichen Abend wurde in den Parkforen zu Solidaritätsdemonstrationen mobilisiert. Tags darauf fanden in Istanbul, Ankara und andern Städten in Erinnerung an das Opfer große Kundgebungen der Çapulcu statt. Dass sich die Protestbewegung hier mit kurdischen Interessen solidarisiert, ist keineswegs selbstverständlich. Insbesondere nationalistische Kreise und Fahnenträger sehen die kurdischen Autonomiebestrebungen als Gefährdung nationaler Einheit, und die Politik der CHP, welche mit der aktuellen Bewegung sympathisiert, hat in den letzten Jahren – oft im Schulterschluss mit der ultranationalen MHP – jeden Versuch zu einer Befriedung des Konflikts blockiert. Wenn im Zuge der Solikundgebungen also der Slogan “Her yer Taksim – her yer direniş” zu “Her Yer Lice – her Yer Direniş” ["Lice ist überall, Widerstand ist überall"] umgewandelt wird, so zeigt sich ein weiteres Mal die integrative Kraft der neuen Bewegung, welche heterogene Perspektiven politisch bündelt.
Widerstand Lice Widerstand Gezi – Wir wollen keine Polizeistation, wir wollen Frieden. Demonstration in Istanbul 29.6.2013. Q: http://haber.sol.org.tr/devlet-ve-siyaset/kesk-lice-icin-yurudu-haberi-75534
Dass das Thema für die verschiedenen Gruppen nicht einfach ist, zeigen teils hitzige Debatten in den Foren, in denen viele Anwesende aber auf die Notwendigkeit der Vielstimmigkeit, des Zuhörens und des Dialogs verweisen. Betont wird dabei immer wieder die symbolische Kraft, dass auf dem Taksim türkische Flaggen und kurdische Flaggen nebeneinander stehen konnten.
Am jenem Wochenende Ende Juni fand zudem die große Abschlussdemonstration der Istanbuler CSD-Woche unter dem Thema “direniş”/”Widerstand” statt. Die LGBT-Bewegung war von Beginn an im Gezi Park mit dabei, und so war die Pride-Woche am 23.6. mit einem Marsch der Transsexuellen eröffnet worden, deren Plakat das linke Bewegungs-Motto “Ekmek, Adalet, Özgürlük için” – “Für Brot, Gerechtigkeit, Freiheit” und mit der Gasmake ein zentrales Symbol der Bewegung aufgreift:
Die Zeile ist auch bekannt aus dem Revolutionslied “Haydi barikata!” – “Auf die Barrikaden!” des Musikkollektivs bandista, die statt für die GeziPark-Bewegung ein neues Lied zu schreiben, mit den Çapulcu musizierend auf den Straßen unterwegs ist. http://tayfabandista.org/ [Album: de te fabula narratur, haydi barikata!]
Der abschießenden CSD-Demo am 30.6. schlossen sich in breiter Solidarität Tausende von Çapulcu an.
Auch hier wird im gemeinsamen Ruf zehntausender Demonstrant/innen der Zusammenschluss betont: “Kurtuluş yok tek başına, ya hep beraber ya hiç birimiz” - “Alleine gibt es keine Befreiung, entweder wir alle oder keiner.”
Anfang dieser Woche, am 2.Juli, fanden zum 20jährigen Jahrestag des Massakers von Sivas im ganzen Land große Demonstrationen statt – die Bewegung diesmal explizit mit den Aleviten verbindend. 1993 hatte eine islamistisch aufgehetzte Menge das Hotel Madimak in Sivas Brand gesetzt, in dem anlässlich eines alevitischen Kulturfestes Künstler/innen und Intellektuelle untergebracht waren. Der rasende Mob verweigerte den Menschen die Flucht aus dem Hotel, die Polizei griff nicht ein, 37 Menschen kamen im Feuer ums Leben. Die Täter sind untergetaucht, einige davon in Deutschland, und bis heute nicht bestraft worden. Ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung vor 5 Jahren beschreibt die Hintergründe: http://www.sueddeutsche.de/politik/-jahrestag-des-massakers-von-sivas-eingebrannt-in-die-erinnerung-1.179909. Der hier genannte Sultan Selim I., der für die Alevitenverfolgungen im Osmanischen Reich zeichnete, ist übrigens von Erdoğan als Namensgeber für die geplante dritte Brücke über den Bosporus ausgewählt worden – es gibt alevitische Stimmen, die diese Namensgebung für symptomatisch halten.
Die heutigen Demonstrationen bildeten zunächst den Abschluss einer kurzfristig einberufenen feministischen Aktionswoche gegen sexuelle Belästigungen und Gewalt – ausgelöst durch den Bericht von Eylem Karadağ, die am 26.6. in Ankara, Dikmen im Zuge ihrer Festnahme belästigt und mit Vergewaltigung bedroht worden – wie viele andere Frauen auch.
Der Aufruf sich nicht einschüchtern zu lassen und gegen das von Polizei, Regierung und Presse geschürte sexistische Klima anzugehen, fand seine Form u.a. in einer Aktion gegen die Tageszeitung Takvim. Die als Reaktion auf ihre Verleumdungskampagne gegen den von der Polizei erschossenen Ethem Sarısülük bereits mit einer 3-Affen-Demonstrationen bedachte Tageszeitung, war am 30.6. wieder in den Fokus geraten: Über dem Foto einer von ihrem Freund zusammengeschlagenen auf dem Boden liegenden jungen Frau war in fetter roter Schrift der Titel “Nakavt” [Knockout] zu lesen. Umgehend und spontan fanden sich Demonstrant/innen zusammen, welche im Gegenzug zu einem Knockout der Zeitung aufriefen:
Just am Tag dieser Gegendemonstration hatte Takvim den Fall des von der Polizei am Berliner Alexanderplatz erschossenen nackten Mannes aufgegriffen, um die deutsche Kritik an den massiven Polizeieinsätzen in der Türkei zu konterkarieren. Auf der Titelseite fand sich am 1.7. eine Fotomontage, in der Angela Merkel mit gestrecktem Arm und Hakenkreuz unter dem Titel “Heil Merkel” zu sehen war – ich war sprachlos, als ich das sah. Zu lesen ist das nicht alleine vor dem Hintergrund der Kritik Merkels gegen die Polizeieinsätze Anfang Juni, sondern auch vor der Folie des Faschismus-Vorwurfs durch die Çapulcu an Erdoğans AKP-Regierung – eine krude Retourkutsche:
Die heutige Frauenkundgebung ging über in die samstägliche Großdemo im an Taksim und Istiklal Caddesi. Nachdem ein Gericht nun die Bebauungspläne für den Gezi Park sowie den Umbau des Taksim verworfen hat, sind die Çapulcu mit ihrer wöchentlichen Samstagsdemo angetreten, den Park, der lt. dem Istanbuler Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu angeblich am heutigen Sonntag wieder ‘dem Volk’ übergeben werden soll, wieder in Besitz zu nehmen. Mutlu hat die heutige Demonstration im Vorfeld als verboten erklärt – und den Çapulcu das von der türkischen Verfassung garantierte Grundrecht auf unangemeldete Versammlungen und Demonstrationen abgesprochen. Nachdem in den letzten zwei Wochen statt Gaseinsätzen breite Verhaftungswellen und Repressionen gegen Ärzte, Anwälte, Social Media-Nutzer/innen und Presse durch das Land gehen, gibt es seit gestern abend wieder massive Gas- und Wasserwerfereinsätze in der Istiklal Caddesi, betroffen sind auch die Seitenstraßen und die umliegenden Viertel, etwa die Gegend um Pera, Balık Pazarı (Fischmarkt) und Nevizade (der berühmten Gasse mit den Meyhane/Lokalen hinter der Çiçek/Blumen-Passage). Nachdem es in letzter Zeit wenige Bilder in den deutschen Medien gab, berichten nun auch wieder Tagesschau und ZDF.
In den türkischen Social Media und alternativen Nachrichten-Plattformen wird berichtet, dass neben der Polizei und Zivilpolizei auch bewaffnete AKP-Anhänger an den Angriffen auf die Demonstrant/innen beteiligt sind. Während die Polizei die Menschen z.B. in Çihangir gen Italienisches Krankenhaus treibe, sollen sich den fliehenden Menschen mit Knüppeln bewaffnete Jugendlichen entgegengestellt haben. Zudem kursieren zwei Handyvideos, auf denen in Elmadağ, der Hotelgegend um den Taksim, mit Säbeln bewaffnete Männer zu beobachten sind, wie sie Menschen angreifen, eine Frau mit Säbel schlagen und in den Rücken treten – ohne dass die Polizei eingreift.
Q: Ulusal Haber, http://www.ulusalportal.com/haber/gundem/14115-06070302.html
Q: http://haber.sol.org.tr/devlet-ve-siyaset/basbakanin-satirli-kahramanindan-kadinlara-tekme-haberi-75914
Die Straßen ersticken wieder in Gas, nach den derzeitigen Zahlen wurden in Istanbul seit gestern abend mindestens 59 Menschen festgenommen. Makbule Cengiz, Mitarbeiterin von Halk TV, berichtet von systematischen Übergriffen auf Journalist/innen, unter den bisher ungezählten Verletzten befinden sich neben ihr mindestens 8 Kolleg/innen.
In Eskişehir und Izmir gab es von den dortigen Parkforen aus spontane Protestdemonstrationen gegen die als faschistisch gebrandmarkten Übergriffe in Istanbul.
Die Auseinandersetzungen gehen auch nach Sonnenaufgang weiter.
Die Çapulcu wehren sich mit ihren Waffen: nicht nur gab es wieder Topf- und Pfannen-Lärmdemos von den Fenstern, sondern auch so:
BREAKING: Protester attacking Police in return for the teargas attacks!
verbreitet via Twitter 6./7.7.2013
Und hier noch ein englisch untertiteltes Solidaritätsvideo von AtomFilm in Adana vom 12.6.2013, das eben von Halk TV ausgestrahlt wurde:
Diren (Kısa Film) / Resist (Short Film) veröffentlicht von atom filmtürkiye am 12.6.2013