Warum Archive alt sein müssen – Gedanken zum 2. Jahrestag unseres Universitätsarchivs

Was meinen Sie, geschätzter Leser, geschätzte Leserin, wenn Sie von „Ihrem Archiv“ sprechen? Meinen Sie damit vielleicht Ihre Fotoalben oder über die Jahre zusammengetragene Zeitungsausschnitte? Haben Sie vielleicht ein „Briefmarkenarchiv“, oder ist ein Archiv für Sie gar gleichbedeutend mit einer Sammlung? Dann meinen wir mit „Archiv“ etwas Grundverschiedenes. Archiv und Sammlung, das ist wie Tag und Nacht, wie Licht und Schatten. Beide gehören zwar irgendwie zusammen, unterscheiden sich aber in ganz wesentlichen Bereichen eklatant. Weisen Sammlungen eher in Richtung Museum, vielleicht als „Dokumentenmuseen“, bestehen legitim aus für sich selbständigen, quasi isolierten Einheiten, so richten Archive ihr Augenmerk auf die Bewahrung von Kontexten, von Information über Zusammenhänge, Vorgänge des Verwaltungshandelns, auf die Sicherung von Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Handlungen des Archivträgers. Sie sammeln nichts, sondern sie empfangen. Sie empfangen die kontinuierlichen Aussonderungen der Akteure ihres Trägers und bereiten sie für die öffentliche Nutzung vor. Ziel ist die Sicherung der Erforschbarkeit und die Rechtssicherung, die der Rechte des Trägers und der Rechte Dritter an den Träger. Dann, und nur dann, kann es sich um Archive im öffentlich-rechtlichen und im Sinn der Archivwissenschaft handeln. Dass diese Archivbestände zusätzlich durch Sammlungen ergänzt werden können, dient der weiteren Erhellung des Archivs und des Wirkens von dessen Träger. Diese Sammlungen müssen sich in eine sinnvolle Gesamtstruktur – Archivare sprechen hier von „Tektonik“ – einbauen lassen. Kurzum: Archive archivieren Kontexte. Dies sei dem Folgenden zum besseren Verständnis vorausgeschickt.

Das bayerische Archivgesetz legt eine so genannte „Schutzfrist“ von dreißig Jahren fest, die von der Entstehung eines Dokuments an vergangen sein müssen, damit es einem Archivbesucher vorgelegt werden darf. Ähnliche Fristenregelungen gibt es in den übrigen Bundesländern und beim Bund. Ursprünglich – und damit meine ich die Zeit des Aufkommens von Archivgesetzen in Deutschland, also die Jahre 1988 bis 1997 – wurde diese Zeitspanne mit dem Erfordernis zur Wahrung des Amtsgeheimnisses und der Unbefangenheit behördlichen Handelns gerechtfertigt. In der Begründung zum Bayerischen Archivgesetzt vom 18.zehn.1988 (Landtagsdrucksache 11/8185) heißt es dazu: „[…] Nach dreißig Jahren kann im allgemeinen davon ausgegangen werden, daß eine Gefährdung öffentlicher und privater Belange weitgehend ausgeschlossen und eine Vorlage des Archivguts zur Benützung in der Regel unbedenklich ist. […]“. Mit dem Aufkommen der Informationsfreiheitsgesetze wurde (und wird) dem der Grundsatz der Öffentlichkeit von Verwaltungsinformation entgegengestellt. Sie treten in Konkurrenz mit den archivgesetzlichen Regelungen und scheinen dabei über kurz oder lang den Sieg davonzutragen und die Relevanz der so genannten „allgemeinen Schutzfrist“ aufzuheben. Immerhin enthalten einige Landesarchivgesetze längst nurmehr eine derartige Schutzfrist von zehn Jahren. Der Berliner Jurist Batholomäus Manegold forderte in seinem Vortrag über die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen öffentlicher Archive in Deutschland auf dem 81. Deutschen Archivtag 2011 in Bremen die Aufhebung dieser Schutzfrist. Sie sei verfassungsrechtlich problematisch und verletze als „prinzipielle Schranke und allgemeine Sperre ohne Ansehen des Archivgutes“ die Forschungsfreiheit. Wenn diese Fragen auch eher selten auf der hohen Ebene des Verfassungsrechts erörtert werden, so gibt die Konkurrenz mit den Informationsfreiheitsgesetzen den Archivträgern doch genügend Anlass, zumindest mittelfristig eine Anpassung an die zu beobachtende Rechtsentwicklung vorzunehmen.

Offen und spannend bleibt die Frage, im Rahmen welcher Nutzungsvorhaben und welcher Nutzungsarten in einer vielleicht nicht allzu fernen Zeit verminderter Zugangseinschränkungen auf die jüngsten archivalischen Unterlagen zugegriffen werden wird. Die Forderung nach Zugang und Unterstützung der Forschungsfreiheit sagt ja noch nichts darüber aus, mit welchen methodologischen Instrumentarien die Interpretation solch junger Quellen vorgenommen werden soll. Natürlich haben die Zeithistoriker ihre quellenkritischen Methoden, die der relativen Unabgeschlossenheit dokumentierter Prozesse gerecht werden können. Allerdings ist dieser Nutzerkreis und überhaupt die qualifizierte wissenschaftliche Nutzung in den meisten Archiven – von den Big Players abgesehen – eher in der Minderheit, der gegenüber die so genannten nicht wissenschaftlichen Nutzungsarten überwiegen. Die Möglichkeit, Quellen unzureichend kritisch zu interpretieren, eine Möglichkeit, die die Archivare als Gefahr ansehen, kann nun dadurch mitverursacht sein, dass die erforderliche Quellenkritik auf Grund der fehlenden zeitlichen Distanz nicht geübt werden kann. Was dann noch bleibt, sind Deutungsprognosen oder Faktenlistungen, wobei selbst die Auswahl der Fakten, die des Listens wert gehalten würden, objektiv fragwürdig bleiben dürfte. In der archivarischen Praxis gesellt sich diesem Problem das der fragmentarischen Überlieferung und das damit eng verbundene der oft eigenwilligen Aussonderungspraxis der Schriftgutbildner bei. Heute verhält es sich so, dass Entwicklungen, die noch nicht länger als dreißig bzw. zehn Jahre her sind, schon allein auf Grund der Quellenlage in den Archiven nur lückenhaft untersucht werden könnten, selbst wenn es keine Schutzfristen gäbe. Aus dieser jüngsten Zeit liegen vielfach zwar Ergänzungsüberlieferungen, etwa in Form von jüngst erworbenen Nachlässen, oder Dokumentationsbestände wie Pressedokumentationen vor. Das Herzstück der archivalischen Überlieferung aber, die Akten der Institutionen, für die das jeweilige Archiv als verantwortlich bestimmt ist, befinden sich noch in den Büros der Sachbearbeiter oder im günstigsten Fall in den Registraturen der Behörden. Warum? Weil die darin enthaltenen Vorgänge von den federführenden Stellen noch nicht als sicher abgeschlossen angesehen werden, oder weil zumindest ein Wiederaufgreifen eines Vorgangs noch nicht ausgeschlossen erscheint. Daraus folgt, dass ihrer historischen Interpretierbarkeit noch gewisse Grenzen gesetzt sind. Und das selbst dann, wenn mittels eines Informationsfreiheitsgesetzes dem Einsicht Begehrenden der Weg bis hinein in die Amtsregistraturen gebahnt wäre, wie es ja in einigen Bundesländern durchaus bereits der Fall ist.

Viel bedeutsamer als die Unterstützung der Forschungsfreiheit könnte das Informationsrecht als bürgerliches Recht zur Kontrolle des Exekutivhandelns sein, das in der – wenn auch im Laufe der Zeit unterschiedlich motivierten – Verpflichtung der öffentlichen Verwaltung zu Transparenz und Nachvollziehbarkeit ihres Handelns bereits seit dem 19. Jahrhundert eine befähigende Grundlage vorfindet. Dies hat aber nichts mit wissenschaftlicher Forschung, sondern mit Justitiabilität bei gleichzeitigem Bezug zur jeweils aktuellen Gegenwart zu tun.

Kürzlich machte mich ein wissenschaftlicher Assistent vom hiesigen Lehrstuhl für Neueste Geschichte auf eine Pressemitteilung vom November 1983 aufmerksam, auf die er bei Archivrecherchen gestoßen war. In ihr kündigt die Universität mit viel vorgeschossenem Lob und großer Freude den Historiker Ernst Nolte als Referent in Bayreuth an. Darin findet sich eine zeitgenössische Wertung der wissenschaftlichen Bedeutung dieses Mannes, die in der akademischen Community und in der Gesellschaft nur wenige Jahre später aus einem völlig veränderten Licht heraus ganz anders ausfiel. Sprechen wir heute von bedeutsamen Gründungen und Events der jüngsten Vergangenheit, so kann doch erst die Zukunft zeigen, was an ihnen bleibend nennenswert sein wird, und welche Bedeutung sie im Kontext tatsächlich erlangten. Zeitgeschichtsschreibung in diesem Sinne muss sich im Besonderen dessen bewusst sein, dass sie mit ihren Darstellungen selbst Quellen erschafft, die von nachfolgenden Generationen als Ausdruck historisch-zeitgenössischer Wahrnehmung der historischen Gegenwart interpretiert werden.

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(Pressemitteilung der Universität Bayreuth vom 25.11.1983; zum Vergrößern auf das Bild klicken!)

Geschichtsdeutung auf der Basis interpretierbarer Quellen verlangt Zeugnisse abgrenzbarer Prozesse. Sie verlangt Knoten und Bänder von Ereignissen, Handlungen und Beziehungen. Die Archivare sprechen vom inneren „archival bond“, das einen Vorgang zu Akte macht. Erst dann lassen sich Handlungen überblicken, Zusammenhänge verstehen und Wirkungen deuten, wenn eine Sichtweise auf etwas in zu definierendem Maße Abgeschlossenes aus hinreichender Distanz möglich ist. Wenn auch nicht jede Beschäftigung mit Geschehnissen aus der Zeit nach der großen Pest des 14. Jahrhunderts in klischeegenerierter Mediävistenmanier als journalistische bezeichnet werden muss, so ist dennoch mit dieser Distanz freilich zuallererst eine zeitliche gemeint. Archiv kommt von αρχειν, nicht von αρχαιος, wie oft vermutet wird. Dennoch ist es das Alter, das die Archivreife mit sich bringt. Alter wird gemeinhin heute als etwas Relatives empfunden, und es geht die Redensart um, man sei (nur) so alt, wie man sich fühle. Unter der Prämisse, den Begriff des Alters in Relation zum jeweiligen Forschungsthema dehnbar zu halten, lässt sich nach dem Gesagten die in der Überschrift formulierte These, erst „alte“ Archive seien zur vollen Auswertbarkeit ausgereift, wohl bestätigen.

In fast allen Beständen des Universitätsarchivs befinden sich Unterlagen, die jünger als dreißig Jahre sind, viele jünger als zehn Jahre. Das Herzstück, die Akten der zentralen Verwaltung, der größte und systematischste Bestand, endet derzeit 1989 und wird vereinbarungsgemäß künftig im Fünfjahresrhythmus ergänzt. Zur Bildung weiterer zentraler Bestände fehlt es noch an Aussonderungen. Aus dem Wissenschaftsbereich liegen Inselbestände vor, die die Tätigkeit einzelner Stellen auch über längere Zeiträume belegen (z.B. Institut für Sportwissenschaft oder BayCEER-Abteilung Mikrometeorologie oder auch der Lehrstuhl Musikwissenschaft im Forschungsinstitut für Musiktheater). Die Dichte der Überlieferung hat demnach noch weithin die Struktur eines Schweizer Käses, was nach erst zwei Betriebsjahren allerdings auch kaum anders zu erwarten ist. Nichtsdestoweniger soll uns das ein Ansporn sein, den betretenen Weg weiterzugehen und so auch unserem dritten Jahrestag mit unvermindertem Eifer entgegenzuschreiten.

Das Universitätsarchiv hat am 1. März 2013 seinen Betrieb aufgenommen.
Übersicht über die Bestände im Universitätsarchiv Bayreuth: http://findbuch.uni-bayreuth.de/Akzessionsverzeichnis/index.htm

Quelle: http://unibloggt.hypotheses.org/389

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