Psychiater als Experten der Migration

Gestern durfte ich in einem Workshop des Zentrums für Vergleichende Europäische Studien (ZEUS) vortragen. Titel des Workshops war Medizin im Kalten Krieg. Medizinische Expertise in der europäischen Zeitgeschichte. Ich sprach über Psychiater als Migrationsexperten. Ausgehend von einem Artikel (« L’invention » de l’immigré. La psychiatrie belge face à la migration maghrébine dans les années 1960 et 1970) der in Kürze im Le Mouvement Social erscheinen soll, wollte ich das Thema geographisch ausweiten, indem ich die Debatten in Deutschland und Frankreich miteinbezog. Ich beschränkte mich auf publizierte Fachdiskurse (Handbücher und Fachzeitschriften) für diese beiden Ländern. Fragestellung war wie Psychiater von den 1950er bis in die 1970er Jahre hinein zur Definition der Immigranten als “gesellschaftliches Problem” (Joseph Gusfield) beigetragen haben. Zwei Bemerkungen waren für mich besonders interessant. Einerseits muss ich begriffsgeschichtlich klarer werden: Gastarbeiter, Immigranten, transplantés, Flüchtlinge… Zwischen 1950 und 1980 ändern sich die Definitionen sehr stark. Und es scheint auf dieser Ebene Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich zu geben. In Deutschland spricht man am Anfang eher von Gastarbeitern, in Frankreich eher von Immigranten. Und das schliesst an die zweite Bemerkung an: Deutschland definiert sich erst sehr spät als Einwanderungsgesellschaft, was erklären könnte, warum deutsche Psychiater Migration später als die französischen Mediziner “entdecken”. Im Rahmen eines anderen Vortrags von Stefanie Coché zur Psychiatrische Einweisungspraxis in Nationalsozialismus, BRD und DDR (1941–63) hat Eric Engstrom die Frage aufgeworfen, inwieweit Historiker immer noch in einer antipsychiatrischen Genealogie gefangen sind. Zu diesem Thema finde ich einen rezenten Artikel von Catherine Fussinger in History of Psychiatry sehr inspirierend. Anknüpfend daran müsste man nicht nur Arbeiten zur Einweisung anregen, sondern auch Studien zu Entlassungen in der Psychiatrie. Schlussendlich hat Dagmar Ellerbrock darauf hingewiesen, dass Körpergeschichte und science studies Möglichkeiten bieten, dem “Primat der Psychiatriekritik” (Eric Engstrom) zu entgehen. Die Illustration für diesen Post ist die Titelseite der “Urstudie” zur Psychopathologie der Migranten von Ornulv Odegaard aus dem Jahre 1932.

Quelle: http://majerus.hypotheses.org/24

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Psychiater als Experten der Migration

Gestern durfte ich in einem Workshop des Zentrums für Vergleichende Europäische Studien (ZEUS) vortragen. Titel des Workshops war Medizin im Kalten Krieg. Medizinische Expertise in der europäischen Zeitgeschichte. Ich sprach über Psychiater als Migrationsexperten. Ausgehend von einem Artikel (« L’invention » de l’immigré. La psychiatrie belge face à la migration maghrébine dans les années 1960 et 1970) der in Kürze im Le Mouvement Social erscheinen soll, wollte ich das Thema geographisch ausweiten, indem ich die Debatten in Deutschland und Frankreich miteinbezog. Ich beschränkte mich auf publizierte Fachdiskurse (Handbücher und Fachzeitschriften) für diese beiden Ländern. Fragestellung war wie Psychiater von den 1950er bis in die 1970er Jahre hinein zur Definition der Immigranten als “gesellschaftliches Problem” (Joseph Gusfield) beigetragen haben. Zwei Bemerkungen waren für mich besonders interessant. Einerseits muss ich begriffsgeschichtlich klarer werden: Gastarbeiter, Immigranten, transplantés, Flüchtlinge… Zwischen 1950 und 1980 ändern sich die Definitionen sehr stark. Und es scheint auf dieser Ebene Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich zu geben. In Deutschland spricht man am Anfang eher von Gastarbeitern, in Frankreich eher von Immigranten. Und das schliesst an die zweite Bemerkung an: Deutschland definiert sich erst sehr spät als Einwanderungsgesellschaft, was erklären könnte, warum deutsche Psychiater Migration später als die französischen Mediziner “entdecken”. Im Rahmen eines anderen Vortrags von Stefanie Coché zur Psychiatrische Einweisungspraxis in Nationalsozialismus, BRD und DDR (1941–63) hat Eric Engstrom die Frage aufgeworfen, inwieweit Historiker immer noch in einer antipsychiatrischen Genealogie gefangen sind. Zu diesem Thema finde ich einen rezenten Artikel von Catherine Fussinger in History of Psychiatry sehr inspirierend. Anknüpfend daran müsste man nicht nur Arbeiten zur Einweisung anregen, sondern auch Studien zu Entlassungen in der Psychiatrie. Schlussendlich hat Dagmar Ellerbrock darauf hingewiesen, dass Körpergeschichte und science studies Möglichkeiten bieten, dem “Primat der Psychiatriekritik” (Eric Engstrom) zu entgehen. Die Illustration für diesen Post ist die Titelseite der “Urstudie” zur Psychopathologie der Migranten von Ornulv Odegaard aus dem Jahre 1932.

Quelle: http://majerus.hypotheses.org/24

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