Frühe Stimmen über die chinesische Schrift (I)

Kaum etwas hat die Phantasie der Europäer so nachhaltig beflügelt wie Überlegungen zur chinesischen Schrift: Mutmaßungen zu ihrem Ursprung und zur  Anzahl der Schriftzeichen finden sich dabei ebenso wie die Frage, ob die ‘Charaktere’ nun ‘Bilder’ im Wortsinn oder ‘Symbole’ wären.[1]  Das Thema taucht in den meisten Texten auf, die sich mit China beschäftigen, die Erklärungen sind zum Teil faszinierend bis abstrus, zum Teil aber auch sehr (zu)treffend. In loser Folge hält die Serie ‘Frühe Stimmen’ Notizen bei der Lektüre von Texten über China aus dem 16.-18. Jh. fest.

In der ersten deutschen Übersetzung von  González de Mendozas Historia, die Johann Kellner 1589 unter dem Titel Ein Neuwe/ Kurtze/ doch warhafftige Beschreibung deß gar Großmächtigen weitbegriffenen/ bißhero vnbekandten Königreichs China, seiner fünffzehen gewaltigen Prouincien, vnsäglicher grosser vnd vieler Stätt, Fruchtbarkeit, … grossen Reichthumbs … Kriegsmacht … dergleichen in keiner Histoiren … in der weiten Welt jemals befunden veröffentlichte[2] heißt es im Kapitel “Von den Buchstaben vnd Charactern / welche die in China gebrauchen [...]” (p. 125-129):

Zukommen nun auff den ersten Puncten / sage ich / wiewol jhrer wenig seind / die nicht schreiben vnd lesen vnter jhnen können / so haben sie doch kein A b c oder Alphabet von Buchstaben / wie wir haben / sondern schreiben alle Ding mit Figuren / die sie in langer Zeit lernen mit grosser M[ue]he / dann es hat ein jedes Wort sein eygen Zeichen. [...] (p. 125)


Ein Neuwe/ Kurtze/ doch warhafftige Beschreibung deß gar Großmächtigen weitbegriffenen/ bißhero vnbekandten Königreichs China (1589) [Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, urn:nbn:de:hbz:061:1-8774]

Hier wird der sogenannte ‘Monosyllabismus’ des Chinesischen beschrieben, dessen Ursprung Gustav Ineichen auf die Schriften der Jesuiten im 16. Jahrhundert zurückgeführt hat.[3]. Tatsächlich gilt im Chinesischen die Regel ein Schriftzeichen = eine Silbe, aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass es nur einsilbige Wörter gibt …

Zur Anzahl der Schriftzeichen heißt es:

[...] Figuren / deren seind mehr dann sechstausend alle vnterschiedlich / vnd k[oe]nnen sie aber behende schreiben / wie man auß der Erfahrung gesehen hat / bey vielen dieser Nation / die t[ae]glich in dei Insuln Philippinas kommen / vnnd sich daselbst verhalten. (p. 125)

Wie der Verfasser auf die Zahl 6000 kommt ist, bleibt offen – denn schon das älteste Zeichenwörterbuch, das Shuōwén jiězì 說文解字 (um 1)00 n. Chr.)[4] enthält 9.353 Schriftzeichen (plus 1163 Varianten), das Kāngxī zìdiǎn 康熙字典 (1716)[5] – das zweite große Zeichenlexikon – enthält insgesamt rund 47.000 Schriftzeichen, das derzeit umfangreichste gedruckte Zeichenlexikon, das Zhōnghuá zìhǎi 中华字海 (1994), enthält rund 87.000 verschiedene Schriftzeichen und Varianten.[6]

Zur Schreibrichtung heißt es:

Sie schreiben anders / da[nn] wir im Brauch hab[en]/ dann sie schreiben die Zeilen von oben herab vnter sich sehr gleich vnd strack / vnd heben widerwertig an / nemlich von der Rechten zur Linken. (p. 126)

Bis ins frühe 20. Jahrhundert -war die Schreibrichtung in der Regel senkrecht von oben nach unten, die Zeilen (oder eher Spalten)  waren von rechts nach links angeordnet.

Zu Beschreibstoffen und Schreibwerkzeug heißt es:

Sie hab[en] grosse Meng Papier / welches leichtlich gemacht ist auß Tuch von Rohrn / das ist wolfeiles Kauffs / gleich wie auch die getruckten B[ue]cher / man kan aber nur auff einer Seit[en] darauff schreiben / da[nn] es gar d[uenn]e und rein ist. Sie brauch[en] der Federn zum schreib[en] nit wie wir thun / sonder etlich Rohr mit einem klein[en] Federlein an der Spitzen. (p.127)

Chinesische (Schreib-)Papiere waren überwiegend leicht (verglichen mit den in Europa verbreiteten Büttenpapieren. Da bei dem dünnen Papier Tusche und Druckerschwärze durchschlugen, wurden die Blätter einseitig beschrieben und bedruckt. Für Bücher wurden die bedruckten Blätter so gefaltet, dass die unbeschriebene Seite innen liegt, die gefalteten Blätter wurden gestapelt und auf der offenen Seite zusammengenäht.[7]

Chinesische Schreibpinsel (máobǐ 毛笔) haben meist einen Griff aus Bambus und einen kleinen Pinselkopf. Diese Pinsel sind sind deutlich elastischer als die im Westen gebräuchlichen Malerpinsel. Damit der Pinsel in einer haarfeinen Spitze ausläuft, die sich bei jedem Anheben neu bildet,  wird Haar von Ziege oder Hase um einen Kern aus Wieselhaar gebunden. Über die Art, wie der Pinsel geführt wird, äußert sich der Verfasser nicht[8] …

BTW: Georg Lehner hat auf De rebus sinicis hat eine Serie zu den Vier Schätze des Studierzimmers (I) begonnen – dort findet sich auch ein Bild dieser ‘vier Schätze’.))

  1. Zu satirischen Auswüchsen vgl. das Beispiel im Beitrag Fachchinesisch.
  2. Digitalisate → Bibliotheca Sinica 2.0.
  3. Gustav Ineichen: “Historisches Zum Begriff des Monosyllabismus im Chinesischen”. In: Historiographia Linguistica, Vol. 14, Number 3 (1987), pp. 265-282.
  4. Chinese Text Project: 《說文解字 – Shuo Wen Jie Zi》.
  5. Online-Version: http://www.kangxizidian.com/.
  6. Vgl. Endymion Wilkinson: Chinese History. A Manual. Revised and Enlarged. (Harvard-Yenching Institute Monograph Series, 52; Cambridge, Mass/London: Harvard University Asia Center 2000 p. 46.
  7. In europäischen Bibliotheken wurden Bücher oft neu gebunden, wobei die traditonelle Bindung abgeschnitten wurde – und mitunter die Falze geöffnet wurden.
  8. Vgl. dazu die Bemerkungen zum Porträt des Alvaro Semedo.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/716

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