Mannheim-Schönau 1992
#Pogrom
Nicht nur im Osten Deutschlands gab es zu Beginn der 1990er Jahre rassistische Gewalt. Neben heimlichen und von kleineren Gruppen verübten Taten waren auch offene, von größeren Menschenmengen getragene Angriffe wie in Hoyerswerda oder Rostock kein alleiniges Phänomen der neuen Bundesländer.

Die Schönau, ein Stadtteil von Mannheim, war zu Beginn der 1990er Jahre ein sozial benachteiligtes ArbeiterInnenviertel, das vom Strukturwandel der Industriestadt besonders betroffen war. Hohe Arbeitslosigkeit, geringe Bildung, soziale Probleme und eine von Migration geprägte Bevölkerung kennzeichneten damals den knapp 15.000 Menschen umfassenden Stadtteil.
Rassistische Diskurse
Als US-amerikanische Streitkräfte 1990 die Aufgabe ihrer Schönauer Kaserne bekannt gaben, erhofften sich viele im Viertel von der künftigen Nutzung eine Verbesserung der sozialen Infrastruktur. Groß war dagegen die Enttäuschung, als das Land bekannt gab, dass eine Sammelunterkunft für über 200 Flüchtlinge eingerichtet würde. Im Folgenden vermischten sich auf der Schönau kommunale und quartiersbezogene Probleme mit dem damaligen bundespolitischen Diskurs um Asyl, was schließlich in ein versuchtes Pogrom mündete.
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Bürgergewalt
In Mannheim-Schönau gingen nicht zugereiste Neonazis, sondern die »normale« Nachbarschaft gegen das Flüchtlingsheim vor. Abgesehen von dieser Besonderheit folgten die Ereignisse jedoch einem Muster, das typisch für den Ablauf von kollektiver Gewalt gegen Minderheiten ist: In einer ersten Phase artikulierte sich schriftlicher Protest gegenüber der Politik in Form von offenen Briefen und Unterschriftenlisten. Wichtige Personen und Institutionen der Schönau, etwa Schul- und Jugendhausleiter, Stadträte oder Elternbeiräte der Schulen, positionierten sich mit dem Verweis auf die sozialen Probleme des Viertels gegen das geplante Lager. Als dieses im Januar 1992 belegt wurde, verschob sich die Wahrnehmung rasch. Nicht mehr politische Entscheidungen, sondern die anwesenden Flüchtlinge galten als Problem. Sie standen zunehmend unter Beobachtung und Gerüchte über sie wurden intensiv im Viertel kommuniziert. In dieser zweiten Phase formierten sich breite Teile der lokalen Bevölkerung als eine gegen die Flüchtlinge gerichtete Gemeinschaft von Benachteiligten. Die dritte Phase der offenen Gewalt wurde – wie in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen auch – durch ein Gerücht eingeleitet, das tief verankerte rassistische Vorurteile mit einer akuten Bedrohungssituation verknüpfte: Aufgepeitscht von der Nachricht einer angeblichen Vergewaltigung eines Schönauer Mädchens durch einen schwarzen Bewohner der Unterkunft, zogen ab dem 26. Mai 1992 mit Stöcken bewaffnete Jugendliche vor die Kaserne. Am 28. Mai 1992 wurde diese unzutreffende Anschuldigung zum bestimmenden Thema auf einem Vatertagsfest in der Nähe der Unterkunft. Im Anschluss daran zogen zahlreiche BesucherInnen vor die Kaserne, warfen Scheiben ein, skandierten rassistische Parolen und bedrohten Flüchtlinge.
Tagelange Angriffe
Vermutlich hat nur die rasch anrückende Polizei damals eine Erstürmung des Heims verhindert. Trotzdem blieb die Kaserne in den folgenden Tagen Aufmarschort aggressiver FlüchtlingsgegnerInnen, von denen sich bis zu 400 allabendlich einfanden, um rassistische Parolen zu rufen. Begleitet waren die bierseligen Aufläufe von Versuchen auf das Gelände vorzudringen, Bedrohungen und einem versuchten Brandanschlag mit Molotow-Cocktails. Die Polizei schirmte das Gebäude zwar ab, ging aber insgesamt zurückhaltend vor. Trotz mitgeführter Bewaffnung und zahlreicher aus der Menge heraus begangener Straftaten, bei denen auch vereinzelt Beamte verletzt wurden, räumte sie nur vorsichtig den unmittelbaren Bereich vor der Kaserne. Ebenso nachsichtig zeigten sich Stadtverwaltung und Lokalpresse, die nur empörte und besorgte BürgerInnen sowie alkoholisierte Krakeeler am Werk sahen. Von rassistischen Übergriffen war dagegen kaum die Rede.
Protest von AntifaschistInnen
Dies änderte sich mit dem Eintreffen von antifaschistischen AktivistInnen, die sich mit den Flüchtlingen solidarisierten und den Ansammlungen entgegenstellten. Fortan galt die öffentliche Sicherheit und Ordnung als bedroht. Stadtverwaltung und Polizei reagierten mit Versammlungsverboten und die Presse warnte vor reisenden Chaoten. Der Versuch einer antirassistischen Demonstration endete schließlich am 6. Juni 1992 darin, dass die Polizei sie gewaltsam auflöste und zahlreiche DemonstrantInnen verletzte oder vorübergehend festnahm. In der Folge überlagerte eine Debatte um Polizeigewalt und Demonstrationsfreiheit die rassistischen Mobilisierungen auf der Schönau.
Unpolitische Ereignisse?
Die damaligen Ereignisse wurden im lokalen Kontext häufig zu unpolitischer Randale beziehungsweise spontanen Protesten gegen soziale Missstände erklärt. Dahinter steckte auch das Bestreben der Stadtverwaltung, die Stadt nicht mit rassistischer Gewalt in Verbindung zu bringen. Dass auf der Schönau keine organisierten Neonazis auftraten, kam dem entgegen. Der pogromartige Ablauf trat schließlich soweit in den Hintergrund, dass Mannheim-Schönau – anders als Hoyerswerda oder Rostock – weitgehend in Vergessenheit geriet. Dabei zeigte sich dort nicht nur wie sich Anfang der 1990er Jahre eine Pogromstimmung auch im Westen formieren konnte. Ein ebenfalls oft vergessener Aspekt ist die damalige Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den Angriffen auf Unterkünfte von MigrantInnen.
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Bausteine zu einer Oral History der Wissenschaftsgeschichte Wissenschaft als Arbeitsprozess. Interview mit Wolfgang Lefèvre
Abstract
Wie kann man einen historischen Blick auf das eigene Fach werfen? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten – will man einerseits nicht in einer Nabelschau und Hagiographie enden, andererseits aber auch keinen umfassenden Entwurf einer zukünftigen Historiographie vorlegen. Die hier als Bausteine zu einer Oral History der Wissenschaftsgeschichte in loser Folge publizierten Interviews mit bekannten Protagonisten der Berliner Wissenschaftsgeschichte von ca. 1970–1990 in West und Ost rücken die Geschichte des Faches deshalb in einem bestimmten Milieu in den Fokus und versuchen, die Historiographie jenseits einer Institutionen- oder Theoriegeschichte voranzutreiben. Welche Motivationen oder Probleme bewegten einzelne Wissenschaftler:innen, sich der Geschichte ihres Faches zu widmen oder sich etwa aus der Soziologie oder Philosophie in die Wissenschaftsgeschichte zu bewegen? Welche Ausbildungspraxen existierten in diesem heterogenen, zwischen den Disziplinen angesiedelten Feld, welche Anregungen bezog man aus welchen Kontexten? Wie war Lehre strukturiert und welche Netzwerke bildeten sich mit der Zeit? Kurz: Mit welchem Interesse kam man zur Wissenschaftsgeschichte und was wurde daraus? Die Auswahl der Interviewees erfolgt ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Proporz; der Fragenkatalog der Interviews richtet sich individuell nach den Biographien und dem Werk und entfaltet sich oft spontan im Gespräch. Die Interviews wurden digital aufgezeichnet, transkribiert, der Schriftsprache angepasst, gegebenenfalls gekürzt, annotiert und von den Interviewees authentifiziert. Wir beabsichtigen mit dieser Serie von Interviews zunächst die Dokumentation rezenter Geschichte durch eine Oral History, die subjektive Wahrnehmungen und persönliche Erlebnisse einschließt. Auf diese Weise werden Segmente einer größtenteils ungeschriebenen Geschichte anhand von Biographien erfahrbar und damit auch einer weiteren kritischen Bearbeitung und Integration in ein Gesamtbild zugänglich. Da uns im Zuge der jeweiligen Vorbereitung und Durchführung, Transkription und Abstimmung der Interviews daran gelegen war, aus Sicht der Akteure wichtige Sammelbände und Aufsätze, Graue Literatur oder Monographien zu erfassen, wird nebenbei eine kommentierte Bibliographie zur Geschichte der Wissenschaftsgeschichte entstehen. Unsere Hoffnung besteht darin, mittels dieser Sammlung mit Berlin einen fruchtbaren Raum und mit den 1970er und 1980er Jahren eine produktive Zeit des Faches jenseits von Reminiszenz oder Nostalgie zu erkunden nicht zuletzt auch, um den Blick für gegenwärtige Herausforderungen des Faches zu schärfen.
Mathias Grote, Anke te Heesen
Quelle: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.202200013?af=R
Kiew, Kiel, Düsseldorf: Der getriebene Kanzler

Bild: Bundeskanzler Olaf Scholz, 13.5.2022 (IMAGO / NurPhoto)
Außenpolitik ist immer auch Innenpolitik – das gilt besonders in Kriegszeiten. Inzwischen befindet sich der russische Angriffskrieg in der Ukraine in seinem vierten Monat und ein Ende des Mordens ist nicht in Sicht. Umso fataler ist es, wenn die ukrainische Tragödie in die Untiefen der deutschen Landespolitik gerät.
Quelle: https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/juni/kiew-kiel-duesseldorf-der-getriebene-kanzler
Putins Netz: Russische Geldwäsche in Londongrad

Bild: Der russische Oligarch und Besitzer des FC Chelsea, Roman Abramowitsch (links), 2.3.2022 (IMAGO / PA Images)
Sechs Sanktionspakete hat die EU seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine inzwischen verabschiedet. Ein nicht unerheblicher Teil davon betrifft Oligarchen, Parteigänger und Profiteure des Systems Putin. Denn diese Zeitgenossen verfügen über märchenhafte Reichtümer im Ausland, in den Metropolen und Steueroasen im Westen.
Quelle: https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/juni/putins-netz-russische-geldwaesche-in-londongrad
Ampel-Entlastungspaket: Das Prinzip Gießkanne

Bild: IMAGO / Future Image
Noch nie, dieser Superlativ ist durchaus angebracht, war die Bundesrepublik so unter Druck wie derzeit – wirtschaftlich, politisch, moralisch und sozial: Corona, ein brutaler Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine, eine dadurch ohnehin angstvolle Bevölkerung, die nun auch noch durch zum Teil kometenhaft ansteigende Preise, vor allem für Energie und Lebensmittel, gebeutelt wird.
Quelle: https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/juni/ampel-entlastungspaket-das-prinzip-giesskanne
9-Euro-Ticket: In vollen Zügen zur Verkehrswende?

Bild: U-Bahn-Station in Stuttgart (IMAGO / Lichtgut)
Die Tourismus-Verantwortlichen der Nordseeinsel Sylt blicken schon jetzt mit Sorge auf die nächsten drei Monate: Weil im Juni, Juli und August der öffentliche Nahverkehr einschließlich der Regionalzüge bundesweit für monatlich nur 9 Euro genutzt werden kann, fürchten sie einen Ansturm auf die Insel.
Quelle: https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/juni/9-euro-ticket-in-vollen-zuegen-zur-verkehrswende
USA: Kulturkampf vor der Kongresswahl

Bild: Demonstrierende vor dem US-Kapitol in Washington D.C., 8.5.2022 (IMAGO / NurPhoto)
In schneller Folge haben jüngst drei Ereignisse dazu geführt, dass die heiße Phase des US-Kongresswahlkampfs früher begonnen hat als gewöhnlich: Tesla-Milliardär Elon Musk will (vielleicht) Twitter kaufen; der Kapitalmanager und Schriftsteller J.D. Vance wird in Ohio Kandidat der Republikaner für einen Senatssitz; und ein kürzlich geleakter Entwurf des Obersten Gerichtshofs lässt darauf schließen, dass das bundesweite Recht auf Abtreibung schon bald fallen könnte.
Quelle: https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/juni/usa-kulturkampf-vor-der-kongresswahl