April 11, 2022, 1:00 pm,
Éléonore Chanlat-Bernard,
Allgemein.
De nombreux travaux ont montré l’importance des pratiques d’énumération dans le contrôle social colonial. De la fin octobre 1873 à février 1875 le Bengale fait officiellement face à une situation de famine, dont l’ampleur est objet de controverses en Inde coloniale comme en métropole. Le bilan officiel fait état du chiffre dérisoire de vingt-quatre morts directement dues à la faim et qui auraient pu être évitées. Mais que recouvre ce chiffre ? Il semble paradoxal d’énumérer des cas individuels de mortalité dans le cadre d’un phénomène généralisé. En contrôlant la surmortalité par un bilan officiel à la représentativité statistique contestable, les autorités cherchent moins à rendre compte de la famine qu’à justifier les mesures prises et à rejeter la responsabilité de leur sort sur les affamés eux-mêmes.
La zone du Wag Hemra, au nord de l’Éthiopie, est historiquement marquée par la famine et par les conflits avec le pouvoir central. Dans cette région isolée, plusieurs épisodes de sécheresse récents rendent la vie des paysans agaws très précaire et dépendante des systèmes de sécurité alimentaire gouvernementaux ou des organisations humanitaires internationales. Cet article décrit différents appareils d’aide qui les supportent, mais qui ne proposent pas des solutions durables pour sortir les habitants de la pauvreté, ce qui les pousse à migrer. Le gouvernement fait-il le choix délibéré de ne pas aider la région au-delà d’un perpétuel temps de l’urgence ? Les organisations d’aide internationales doivent-elles quitter une zone où elles ne travaillent pas de manière indépendante ?
Der medialen Pathologisierung Putins als einen irren Herrscher im Kreml steht die Tatsache gegenüber, dass seine gegenwärtige Politik nur die Fortsetzung einer seit langem betriebenen autoritären, großrussischen Agenda darstellt. Sein offenkundiges Ziel, die Wiederherstellung eines russischen Imperiums, geht bis auf das Zarenreich zurück und speist sich ideengeschichtlich aus diversen reaktionären Quellen.
Nationalist Vladimir Putin
Nahezu perfekt passen Wandlung und Gedankenwelt des schillernden Ideologen Alexander Dugin und die aktuelle russische Außenpolitik zusammen – Dugin, der sich nach dem Ende der Sowjetunion vom rechten Nationalbolschewisten zum großrussischen Ideologen wandelte und in der extremen Rechten Westeuropas als großer geopolitischer Denker im Anschluss an Carl Schmitt gefeiert wird. Intensiv rezipierte Dugin die Autor*innen der »Konservativen Revolution« und wandte deren Theorien auf Russland an. Dugin propagiert eine eurasische Geopolitik, in der einem russischen Reich die Rolle einer Führungsmacht zukäme. Sein Hass auf die westliche, liberale Moderne dringt aus jeder seiner Zeilen. Er redet der Re-Sakralisierung der russischen Politik das Wort: »Es ist Zeit, zum Mythos zurückzukehren. Und das meint eine Rückkehr zu dem magischen, heiligen (…) Ort, dem leuchtenden Rus.« Solch sprachlicher Kitsch kann nicht verdecken, dass es Dugin um eine knallharte, »raumorientierte« Machtpolitik und autoritäre Formierung geht. Dugin ist einer der Stichwortgeber einer imperialen Ideologie Russlands.
Doch Dugin selbst stützt sich auch auf russische Autor*innen, die nachweisbar Putin direkt beeinflusst haben. Zu nennen wäre dabei zunächst der esoterische Geschichtsphilosoph Lev Gumilev, der auch in der europäischen »Neuen Rechten« populär ist. Er spricht von einem »ewigen Konflikt« zwischen Russland und dem Westen. In einer Rede zum tausendjährigen Bestehen von Kazan bezog sich Putin direkt auf Gumilev und erklärte, die Eroberungen der Goldenen Horde im 16. Jahrhundert hätten Russland zur Großmacht geformt. Bei dieser Gelegenheit wurde in Kazan ein Denkmal für Gumilev eingeweiht. Erwähnt werden sollte weiterhin der Schriftsteller Alexander Prochanow, der wegen seiner apologetischen Romane über den russischen Afghanistan-Krieg als »Nachtigall des Generalstabs« bezeichnet wird. Seine Position: »Es ist an der Zeit, die kläffenden, beißenden Nachbarn loszuwerden, sich aus ihrem knurrenden Rudel zu befreien und allein zu bleiben. Das ständige Bändigenmüssen des russischen Nationalgefühls, die russische Angst, das empfindliche Selbstwertgefühl anderer Völker treffen, verletzen und verwunden zu können, ist unerträglich.« Er leistete auch einen wichtigen Beitrag dazu, die russische KP in die nationalistische Front einzubinden.
Wer Putins Reden liest, findet auch immer wieder Anklänge an den russischen Philosophen Iwan Iljin, einen konservativen Monarchisten. Sein Plädoyer für eine erzieherische Diktatur ist an die antiwestliche, anti-emanzipatorische Tradition des Stalinismus ebenso anschlussfähig wie an die großrussische, antiwestliche und nationalistische Rhetorik unserer Tage. Ebenfalls anschlussfähig ist die Ideologie des Nationalbolschewismus. Zwar hat dessen ideologischer Einfluss gegenüber den 1990er Jahren abgenommen, doch im Amalgam extrem rechter Strömungen ist er Teil der Ideen- und Organisationsgeschichte.
Zweifellos gehört zu den Quellen, aus denen die antiwestlichen Affekte der Rhetorik des russischen Nationalismus schöpfen, die sowjetische Geschichte. Der Kampf gegen angebliche »Spione«, »Diversanten«, »Westler«, »Saboteure« und »Kosmopoliten« und »Trotzkisten«, die im Auftrag der Nazis agierten oder selbst Nazis seien; all das war Teil der Propaganda der Rechtfertigung der Repressalien gegen die Bevölkerung unter Stalin. Kritiker*innen der sowjetischen Politik wurden umstandslos als »Nazis« diffamiert und in ein Arbeitslager (GULag) gesteckt. Putins Rhetorik von der »Entnazifizierung« der Ukraine lässt sich vor diesem Hintergrund als ideologische Finte entlarven. Putin ist kein Antifaschist. Den Antifaschismus nimmt er dann in den Dienst seiner politischen Agenda, wenn es der Legitimation seiner Politik dient. Dies war bei den nationalistisch aufgeladenen Feiern zum »Tag des Sieges« am 9. Mai in Moskau unübersehbar. Vor allem macht sich der Vorwurf der westlichen Dekadenz an der sexuellen Liberalisierung fest, und auch an den Repressionen gegen Feminist*innen, wie zum Beispiel die Band »Pussy Riot«, oder an Verboten und Verfolgung von Pride-Paraden – zum Schutze der traditionellen Familien.
Ein Blick in die Geschichte der Ukraine zeigt, dass auch dort nationalistische Ideologien Teil der politischen Tradition sind. Im zweiten Weltkrieg agierte der Milizenführer Stephan Bandera an der Seite der deutschen Besatzer. Banderas Miliz OUN-B war maßgeblich für die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung Galiziens verantwortlich. Bis heute gilt er nationalistischen Ukrainer*innen als Held. Das »Asow-Regiment«, welches sich bei europäischen Neonazis und extremen Rechten großer Beliebtheit erfreut, ist eine Truppe gewaltbereiter, antisemitischer Kämpfer, die gleichwohl Teil der ukrainischen Armee sind. Es steht zu erwarten, dass deutsche und europäische Neonazis versuchen, dem Aufruf des ukrainischen Präsidenten zu folgen, und sich den Freiwilligenverbänden anzuschließen.
Wer sich im gegenwärtigen Konflikt der Nationalismen politisch orientieren will, sollte auf die Stimmen russischer und ukrainischer Anarchist*innen, Liberaler und antimilitaristischer Aktivist*innen hören, deren Standpunkte nicht an die nationalistischen Narrative ihrer Länder gebunden sind, sondern an die Idee der Humanität.
Seit Anfang 2021 vollzieht sich ein Prozess der Kooperation zwischen Parteien der extremen Rechten in Europa. Nachdem rechtspopulistische und extrem rechte Parteien bei den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament gestärkt in dieses eingezogen sind, soll nun offenkundig die gemeinsame Schlagkraft erhöht werden.
Matteo Salvini, Jörg Meuthen und Marine Le Pen im Mai 2019 in Mailand
Anfangs waren die Parteien der extremen Rechten, wenn sie einer Fraktion im Europaparlament angehörten, in drei Gruppen vertreten: in der Fraktion »Identität und Demokratie« (ID), bei den »Europäischen Konservativen und Reformern« (EKR) und in der »Europäischen Volkspartei« (EVP). Nachdem die ungarische Fidesz im März 2021 auf Druck anderer christdemokratischer Parteien die Fraktion der EVP verlassen hatte, suchte sie neue Bündnisse innerhalb und außerhalb des Parlaments: Im Frühjahr 2021 lud Ungarns Regierungschef und Fidesz-Vorsitzender Viktor Orbán andere europäische Rechtsparteien zu Sondierungstreffen ein. Ein erstes Zusammenkommen fand in Budapest mit Matteo Salvini von der italienischen »Lega« und dem polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki von der Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) statt. Auch Marine Le Pen vom französischen »Rassemblement National« (RN) wurde kontaktiert, wobei diese aufgrund des Präsidentschaftswahlkampfs in Frankreich internationale Kontakte zurückstellte. In diese Lücke sprangen kurzfristig der extrem rechte französische Kandidat Éric Zemmour und die spanische Rechtspartei »Vox«.
Ergebnis dieser Zusammenkünfte ist eine Anfang Juli 2021 veröffentlichte Erklärung für eine extrem rechte Orientierung in Europa. Diese wurde von Parteien aus 16 EU-Ländern unterzeichnet, neben Viktor Orbán von dem Vorsitzenden der polnischen PiS Jaroslaw Kaczynski, Italiens »Lega«-Chef Matteo Salvini, der französischen RN-Präsidentin Marine Le Pen, Spaniens »Vox«-Vorsitzendem Santiago Abascal Conde und der »Fratelli d’Italia«-Chefin Giorgia Meloni. Weitere Unterstützerinnen waren die FPÖ (Österreich), JA21 (Niederlande), EL (Griechenland), PNT-CD (Rumänien), LLRA (Litauen), VMRO (Bulgarien), »Vlaams Belang« (Belgien), »Dansk Folkeparti« (Dänemark), EKRE (Estland) und PS (Finnland) – allesamt Parteien, die für ihren extremen Nationalismus und Rassismus bekannt sind. Die Zusammenarbeit der europäischen Nationen müsse auf Tradition, dem Respekt vor der Kultur und der Geschichte der europäischen Staaten, dem Respekt vor dem jüdisch-christlichen Erbe Europas und den gemeinsamen Werten, die diese Nationen vereinen, beruhen – und nicht auf deren Zerstörung, hieß es vollmundig und in blumiger Sprache in diesem Papier. Gemeint sind de facto Nationalismus, rechtskonservative Vorstellungen von Familie, die Diskriminierung von Menschen, die nicht der hetereosexuellen Norm entsprechen, und insbesondere die Ablehnung jeglicher Unterstützung für Geflüchtete in Europa. Auffällig war das Fehlen der »Alternative für Deutschland«, die sich mit ihrer Forderung nach einem EU-Austritt im Programm zur Bundestagswahl selbst in dieser Runde isoliert hatte.
Später als geplant fand Anfang Dezember 2021 ein »Warschauer Gipfel« statt. Er litt darunter, dass neben den polnischen Gastgebern an Prominenz nur Viktor Orbán und Marine Le Pen vertreten waren. Andere Parteien waren mit der »zweiten Garde« anwesend, Matteo Salvini von der »Lega« schickte eine Grußbotschaft. Die Presseberichterstattung zeigte, dass dieses Treffen vor allem PR-Charakter hatte. Es ging dabei auch um die anstehenden Wahlkämpfe in den jeweiligen Ländern. Fidesz und PiS bestätigten sich gegenseitig, dass sie trotz der angekündigten EU-Sanktionen nicht alleine seien. Und Marine Le Pen zeigte mit den Fotos ihres Treffens mit dem polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki, dass sie staatsmännisch die »Nummer 1« der extremen Rechten in Frankreich sei und nicht Éric Zemmour. Polens Ministerpräsident Morawiecki verkündete, Aufgabe dieser Zusammenarbeit sei es, »der Usurpation, die die Macht in den Händen der europäischen Eliten konzentriert, einen Riegel vorzuschieben« und für ein Europa »souveräner EU-Mitgliedsstaaten« einzutreten. Doch die einzige Gemeinsamkeit auf dem »Warschauer Gipfel« blieb die Ablehnung der Aufnahme von nichteuropäischen Geflüchteten, die in der Kälte an der Grenze zwischen Belarus und Polen unter menschenunwürdigen Verhältnissen ausharren mussten.
Auch andere Parteien erkannten den propagandistischen Wert solcher Begegnungen. So lud Spaniens Rechtspartei »Vox« Ende Januar 2022 unter dem wohlklingenden Titel »Europa verteidigen« die Parteien des »Warschauer Gipfels« nach Madrid ein. Aber auch diesmal wurden lediglich Absichtserklärungen formuliert. Der Schritt zu einer gemeinsamen Fraktion im Europaparlament oder für weitere politische Signale ist weiterhin völlig offen.
Haltung zu Russland als Konflikt
Ein Streitpunkt ist neben den jeweiligen Nationalismen die Haltung zum Konflikt Russland-Ukraine. Während Viktor Orbán sich eindeutig auf die Seite Russlands stellt und die ukrainische Regierung wegen »Verletzung der Rechte der ungarischen Minderheit« kritisiert, ist die polnische Regierung – trotz Auseinandersetzungen um die geschichtsrevisionistische Bandera-Verherrlichung – an der Seite der USA ein starker Unterstützer der Ukraine. Auch Marine Le Pen gehört zu den Unterstützer*innen der russischen Position. »Vox« und »Fratelli d’Italia« stehen vor dem Dilemma, dass ihre inhaltliche Unterstützung der ukrainischen Haltung in diesem Konflikt sie an die Seite der jeweiligen Regierungsparteien bringen würde, was sie tunlichst vermeiden wollen.
Im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden die »Karten jedoch noch einmal neu gemischt«. Orbán und Morawiecki beteiligten sich – als Teil der Regierungen der Europäischen Union – an den Sanktionsmaßnahmen der EU. Orbán versuchte zwar noch eine eigenständige Rolle als »neutraler Vermittler« zwischen den Kriegsparteien zu spielen. Das wurde aber von der Ukraine mit Hinweis auf die ungarischen Interessen zurückgewiesen. In Italien unterstützen Matteo Salvini und Giorgia Meloni die italienische Regierung in ihrer Politik gegenüber Russland. Parallel dazu warnte Salvini vor zu scharfen Sanktionen, weil möglicherweise dann Italien ohne Gas dastehen werde. Meloni ging noch einen Schritt weiter und kündigte einen Antrag zur »Verteidigung der italienischen nationalen Interessen« an, bei dem es um die Beendigung der Aggression Russlands gegen Kiew gehe – die Einrichtung eines zeitlich befristeten Fonds im EU-Rat zur Entschädigung der europäischen Länder, die durch die Sanktionen gegen Russland am meisten benachteiligt werden, und die Gewährung des Flüchtlingsstatus für ukrainische Bürger*innen.
Auch die französische Rechte hat Sorge, dass das russische Vorgehen ihren politischen Chancen im Präsidentschaftswahlkampf schaden könne. So erklärte Le Pen Russlands Vorgehen als ungerechtfertigt und forderte, es müsse »ohne jede Zweideutigkeit« verurteilt werden. Zemmour hob hervor, dass Russland von der Ukraine weder angegriffen noch direkt bedroht worden sei. Anders als Salvini, Meloni oder Le Pen kritisierte er gleichzeitig die NATO-Osterweiterung.
Ob unter den gegenwärtigen Bedingungen das geplante Treffen im März 2022 in Budapest stattfinden wird, ist ungewiss. Viktor Orbán möchte im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfes zeigen, dass er mit seiner Partei trotz der Kritik der Europäischen Union international anerkannt ist. Mit einer »Conservative Political Action Conference« (CPAC) in Budapest will er dies unter Beweis stellen. Möglicherweise kommt dann auch die portugiesische Rechtspartei »Chega!« (dt.: Es reicht!), deren Chef Andre Ventura mit seiner Hetze gegen »Zigeuner, Abtreibung, Einwanderung und Subventionen« vollständig in dieses ideologische Konzept passt. Presseberichten zufolge soll sogar der brasilianische Staatspräsident Jair Bolsonaro aus diesem Anlass anreisen. Es würde nicht überraschen, auch Steve Bannon dort zu treffen, der immer noch nicht aufgegeben hat, sich als Stichwortgeber der europäischen Rechtsparteien zu profilieren.
Die allermeisten Menschen in Deutschland werden dieses Wort nicht kennen. Kaum jemand weiß, was dieser Begriff mit dem »Abschnitt B II e« zu tun hat oder warum Menschen in eben jenem Abschnitt als »Z« gekennzeichnet wurden. Die Tatsache, dass wir im Jahr 2020 noch immer den Porajmos nicht kennen, ihn nicht einordnen oder unseren Kindern erklären können, ist eine Tragödie, eine bodenlose Frechheit. Und doch ist eben jenes gesamtgesellschaftliche Versagen auch ein glasklares Spiegelbild für unseren Umgang mit den Opfern, deren Täter*innen wir sind. Deren Täter*innen wir waren. Deren Familien unsere Familien auf dem Gewissen haben. Der Porajmos bezeichnet den Versuch der vollständigen Vernichtung aller europäischen Sinti und Roma. Der »Abschnitt B II e« ist jener Abschnitt im KZ Auschwitz-Birkenau, der als »Zigeunerlager« errichtet und zur Ermordung der Sinti und Roma in Betrieb genommen wurde. Das »Z« stand für die Zugehörigkeit zu dieser einen Volksgruppe, die im »Dritten Reich« den Tod und in der Bundesrepublik Deutschland noch immer Ungerechtigkeit, Rassismus und Diskriminierung bedeutet, nämlich zu den »Zigeunern«. Der Zentralrat Deutscher Sinti & Roma schreibt über dieses Wort: »›Zigeuner‹ ist eine von Klischees überlagerte Fremdbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft, die von den meisten Angehörigen der Minderheit als diskriminierend abgelehnt wird. Die Bezeichnung ›Zigeuner‹ ist untrennbar verbunden mit rassistischen Zuschreibungen, die sich, über Jahrhunderte reproduziert, zu einem geschlossenen und aggressiven Feindbild verdichtet haben, das tief im kollektiven Bewusstsein verwurzelt ist.«
Fußballfans besingen die gegnerische Mannschaft als »Zigeunerpack«, Staatsanwaltschaften verschicken offizielle Briefe an Personen, die sie im Adressfeld als »Zigeuner« bezeichnen – und dann ist da noch dieses Schnitzel. Als das »Forum Sinti und Roma« mehrere Lebensmittelhersteller darum bat, ihre Saucen, die sie als »Zigeunersauce« verkauften, umzubenennen, weil dieser Begriff rassistisch und diskriminierend sei, antworteten die Hersteller, »dass sie jede Form von Diskriminierung ablehnten, eine Umbenennung aufgrund der langen Tradition aber nicht in Frage käme«. Die lange Tradition der »Zigeunersauce«. Wer kennt sie nicht? Das »Zigeunerschnitzel« steht mittlerweile gar für einen offenen Kulturkampf zwischen jenen, die nicht fassen können, dass wir noch immer eine zutiefst rassistische Sprache im öffentlichen Raum kultivieren und jenen, die sich gegen den Verlust ihrer jahrzehntelangen Deutungshoheit dadurch wehren, dass sie wirre Gedanken in wütende Worte gießen und Wutbücher an Wutbürger verkaufen. So lautet der Titel eines Buchs des ehemaligen ZDF-Moderators Peter Hahne: »Rettet das Zigeuner-Schnitzel! Empörung gegen den täglichen Schwachsinn. Werte, die wichtig sind.« Die Rettung des »Zigeuner-Schnitzels« als ein »Wert, der wichtig ist«. Wer kennt das nicht?
Deutsche Kolonialgeschichte? Unbekannt.
Doch nicht nur Sinti und Roma sind betroffen, auch Schwarze und überhaupt People of Color, die Zeit ihres Lebens Diskriminierung erfahren haben und in der Bundesrepublik Deutschland als Bürger*innen zweiter Klasse behandelt werden. Ebenso wie der Porajmos ist vielen Deutschen auch die deutsche Kolonialgeschichte unbekannt. Wer in Deutschland weiß von dem Maji-Maji-Aufstand, dem Völkermord an den Herero und Nama, der Sklaverei und den hierzulande äußerst beliebten »Völkerschauen«, wo Menschen wie Tiere in Käfigen ausgestellt wurden. Wer weiß von der Tradition der Entmenschlichung Schwarzer Männer, Frauen und Kinder, die im Nationalsozialismus fortgeführt wurde, wo Schwarze entrechtet, ermordet und zwangssterilisiert wurden, um der »zwangsläufig eintretenden Bastardisierung« entgegenzutreten. Das alles wiederum ist nur ein Ausschnitt aus der kolonialen Unterdrückung Schwarzer Menschen – ein kleiner Teil einer Jahrhunderte währenden Erniedrigung und Entwürdigung als »Neger« und »Mohren». Und doch finden sich beide Worte selbstverständlich im öffentlichen Sprachgebrauch wieder. Als Eigennamen oder zur Beschreibung einer zuckerigen Schokopampe. Auf den rassistischen Begriff hinter dem Namen »Mohren-Apotheke« angesprochen, meinte ihr Leiter, er finde die Diskussion um den »vermeintlich rassistischen Namen« unnötig: »Ich finde, es gibt in unserer Gesellschaft größere Probleme, über die man diskutieren sollte.« Die Umbenennung rassistischer Orts- und Eigennamen scheitert also an Tradition und Relevanz. Wir hätten doch größere Probleme, über die wir diskutieren sollten.
»Welche denn?«, möchte man fragen angesichts wiederholter und endloser rassistischer Übergriffe. Angesichts der Tatsache, dass ein veritabler Teil unserer Gesellschaft ihre gefestigte rechtsextreme Einstellung mittlerweile offen und öffentlich zur Schau stellt. Angesichts der Tatsache, dass eine im Kern faschistische Partei in allen Parlamenten dieses Landes sitzt und sich fleißig um die Abschaffung der Demokratie bemüht. Den Ton und die gesellschaftliche Reife im öffentlichen Umgang mit dem Rassismus in unserer Mitte erkennt man auch daran, dass der MDR im Jahr 2018 eine Sendung ausstrahlen wollte, die folgenden Titel trug: »Darf man heute noch ›Neger‹ sagen? Warum ist politische Korrektheit zur Kampfzone geworden?« Die Vermeidung des N-Wortes als »politisch korrekte Kampfzone«. Diskutieren sollten vier weiße Menschen, darunter Peter »Zigeuner-Schnitzel« Hahne und die ehemalige Vorsitzende der AfD, Frauke Petry. Ein Format, finanziert durch die Rundfunkgebühren, produziert vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Irgendjemand war ernsthaft der Meinung, das sei eine gute Idee.
Der eigenen Geschichte stellen
Wie unmenschlich mutet unser Umgang mit Schwarzen Bürger*innen an, wenn diese Tag für Tag an der U-Bahnhaltestelle »Mohrenstraße« aussteigen oder im Supermarkt an »Negerküssen« vorbeilaufen müssen, wo sie jedes Mal an die Sklaverei erinnert werden, an die eigenen Ururgroßeltern, die mit einer Nilpferdpeitsche halbtot geschlagen wurden und deren Kindern man Hände und Füße abgehackt hat, weil sie ihr Tagessoll an Kautschuk nicht eingesammelt hatten. Wie hirnverbrannt muss eine gesamte Gesellschaft sein, wenn man Überlebenden und Angehörigen der in Auschwitz Ermordeten sagt, dass man den rassistisch-faschistischen Begriff des »Zigeuners« nicht von der Speisekarte tilgen könne, weil das gottverdammte Paprikaschnitzel eine lange und nicht mehr zu ändernde Tradition darstelle. Alte weiße Männer, die in den vergangenen 1.000 Jahren in keiner Epoche hätten leben können, in der nicht wiederum alte weiße Männer die Macht, den Wohlstand und das Sagen hatten, möchten nicht verstehen, dass Menschen, die sich tagtäglich als »Kümmeltürken«, »Ziegenficker«, »Kanaken», »Zigeuner« und »Neger« bezeichnen lassen müssen, es nun endgültig leid sind, ausgerechnet in einer »Mohrenapotheke« ihre Medikamente zu kaufen.
Und nein, die Tilgung dieser Namen, dieser Begriffe, dieser Statuen bedeutet nicht, dass wir dadurch unsere unrühmliche Vergangenheit ungeschehen machen, dass wir irgendetwas an unserer Geschichte ändern würden. Es bedeutet erst einmal nur, dass wir nicht mit stolzgeschwellter Brust unseren öffentlichen Raum nach Rassisten, Faschisten und Antisemiten benennen. Es geht auch darum, uns mit unserer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, diese einzuordnen und von ihr zu lernen. Indem wir über sie reden, sie lehren und das, was geschehen ist, zum Anlass nehmen, um voller Demut um Vergebung zu bitten.
Nach dem Ende des Holocausts, dem Ende des »Dritten Reiches«, dem Ende der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten haben wir genau das getan. Oder besser gesagt: Wir wurden genau dazu gezwungen. An keiner offiziellen Stelle, auf keinem öffentlichen Gebäude, auf keinem Platz und an keiner Straße steht mehr der Name Adolf Hitler. Nirgendwo ist im öffentlichen Raum ein Hakenkreuz denkbar. Selbst wer das »Horst-Wessel-Lied« singt, wird strafrechtlich verfolgt. Doch dabei blieb es nicht, es wurden Stolpersteine verlegt, ein Mahnmal gebaut, ein Antisemitismusbeauftragter eingesetzt. Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist anerkannter Gesprächspartner in Politik und Gesellschaft, wir haben die osteuropäischen Jüdinnen und Juden eingeladen nach Deutschland zu kommen und den Staat Israel, alle Jüdinnen und Juden auf der Welt auf Knien um Vergebung gebeten und haben Versöhnung und Wiedergutmachung geschworen.
Das alles hat weh getan. Das alles musste weh tun. Und dennoch ist nicht alles gut. Der Antisemitismus grassiert in Deutschland, jeder fünfte Mensch hierzulande erklärt unverhohlen, er wolle keine Jüdin, keinen Juden in der Familie haben, das Blutbad in einer jüdischen Synagoge wurde nicht von der Polizei, sondern von einer Holztür verhindert und die Geschichte des »Dritten Reiches« und des Holocausts wird auch von Geschichtslehrern wie Björn Höcke unterrichtet. Und doch haben wir nicht aufgehört mit dem Gedenken, haben versucht wenigstens den sichtbaren Antisemitismus aus dem öffentlichen Raum zu tilgen. Warum soll das nicht auch im Falle des Antiziganismus und des Rassismus möglich sein? Warum müssen ausgerechnet die Insignien der Menschenvernichtung und der Sklaverei Aushängeschilder in der deutschen Öffentlichkeit sein? Wenn wir auch nur einen Bruchteil des Schmerzes lindern können, den wir durch unsere wiederholten Völkermorde zugefügt haben, dann sollten wir jede Statue zu Feinstaub verarbeiten und jedes Straßenschild öffentlich zermalmen, das diesen Menschenhass in stolzer Erinnerung hält.
Und dann tilgen wir schnellstmöglich das N-Wort, das Z-Wort und all die anderen Beleidigungen aus unserem Sprachschatz, während wir gleichzeitig beginnen, die Kolonialgeschichte an unseren Schulen zu lehren und über den Porajmos zu reden. Damit wenigstens unsere Kinder eines Tages wissen werden, was dieses Wort bedeutet.
Im Dezember 2016 verkündete der gescheiterte sozialdemokratische Staatschef François Hollande seinen Verzicht auf eine erneute Bewerbung. Zuvor hatten im November desselben Jahres fast viereinhalb Millionen Personen an der »primaire de droite« (»Vorwahl der Rechten«) teilgenommen, der für Sympathisierende und nicht nur für Mitglieder offen stehenden Urabstimmung über die Präsidentschaftskandidatur der Partei »Les Républicains« (»Die Republikaner«, LR), des Pendants der deutschen CDU/CSU. Als Sieger aus dieser »primaire«, mit zwei Dritteln der Stimmen in der Stichwahlrunde am 27. November jenes Jahres, ging damals der frühere Premierminister, Rechtskatholik, Wirtschaftsliberale und zugleich von Wladimir Putin begeisterte François Fillon hervor. Sein Name, es schien festzustehen, würde der des künftigen Präsidenten sein. Doch dann folgten ab Ende Januar 2017 Presseenthüllungen über sein Finanz- und Geschäftsgebaren. Jahrzehntelang hatte Fillon das französische Parlament um Millionenbeträge betrogen. Aus dem vorab feststehende Wahlsieger wurde eine lahme Ente. Fillon lehnte Forderungen aus den eigenen Reihen nach Rücktritt von der Kandidatur ab und zog seine Wahlkampagne durch, gestützt vor allem durch ein Netzwerk, das zuvor von 2012 bis 2014 gegen die im Mai 2013 beschlossene Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare mit mehreren Großdemonstrationen mobil machte. Aber statt Fillon, er erhielt mit 20,1 Prozent trotz allem ein relativ stattliches Ergebnis, zog der junge Wirtschaftsliberale Emmanuel Macron als Gewinner in den Elyséepalast ein. Macron hatte zuvor einen Wahlkampf betrieben, der, auf deutsche Verhältnisse übertragen, eher Inhalte der FDP und der Grünen zusammenmixte; einmal an die Staatsspitze gekommen, verfolgte er eine Politik, die im deutschen Kontext auf einer Mixtur aus FDP und CDU beruhen würde, was wiederum den Spielraum für die bürgerliche Rechte in Gestalt der Partei LR weiter einengte und einen Teil ihres Spitzenpersonals zu Macron herüberzog.
Aus der Vorwahl der 140.000 Mitglieder im Dezember 2021 bei den »Les Républicains« ging die jetzige Regionalpräsidentin der Hauptstadtregion Ile-de-France und frühere Ministerin unter dem ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy (2007 bis 2021) Valérie Pécresse, hervor. Ganz kurzfristig schien die konservative Präsidentschaftskandidatin durch die Dynamik dieser Vorwahl nach oben gespült zu werden: Vorwahlumfragen schienen ihr im Dezember 2021 zeitweilig einen Einzug in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl vom kommenden April gegen Amtsinhaber Macron, ja einen Sieg in der Stichwahl zu versprechen. Diese Hochphase hielt ein paar kurze Wochen hindurch an. Dann erfolgte der Absturz. Anfang März dieses Jahres stand Pécresse nur noch auf dem fünften Platz unter allen Präsidentschaftskandidatinnen und -kandidaten, hinter Amtsinhaber Macron, den beiden Rechtsradikalen Marine Le Pen und Eric Zemmour sowie erstmals auch hinter dem Linkssozialdemokraten und Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon. Die Konservative vereinigte dabei gut 11 Prozent der Stimmabsichten hinter sich, und damit deutlich weniger als der erheblich stärker polarisierende François Fillon im gleichen Zeitraum fünf Jahre zuvor.
Stolperfallen
Drei Faktoren wirkten dabei zu ihren Ungunsten: Erstens die teilweise Beschlagnahmung des Mitte-Rechts-Spektrums durch Emmanuel Macron, dessen politische Gefolgschaft aus dem rechtssozialdemokratischen und dem moderat konservativen Spektrum eine neue politische Kraft im Zentrum aus Versatzstücken früher dominierender Parteien aufzubauen versucht. Zweitens ihre eigene Persönlichkeit: Pécresse, die auf eine allzu glatte und steile Karriere zurückblickt, ist keine besonders gute Rednerin – ihr Versuch, menschelnd und nahbar rüberzukommen ist im Februar schiefgegangen. Erfolgreicher dabei war eine andere Kandidatin: Marine Le Pen beendete ihre Veranstaltung in Reims am 5. Februar 2022 mit zehnminütigen, sehr persönlichen Ausführungen, in denen sie auch auf ihre Verletzlichkeiten einging. Dies war Teil ihrer Humanisierungsoffensive, die darauf antwortete, dass seit Herbstanfang 2021 ein ideologisch radikaler auftretender Kandidat, Eric Zemmour, ihr Konkurrenz zu machen anfing. Marine Le Pen reagierte darauf mit dem Bemühen um ein betont geschliffenes und humanes Image, um sich von ihm abzusetzen. Ihr Auftritt hing aber nicht nur damit zusammen. Der »Verrat« ihrer Nichte, der früheren Abgeordneten Marion Maréchal, die jetzt Zemmour unterstützt, hatte sie tatsächlich auch persönlich getroffen. Zusätzlich konnte Marine Le Pen den Bombenanschlag auf das Domizil ihres prominenten Vaters, Jean-Marie Le Pen, im November 1976 publikumswirksam in die Waagschale werfen. Das Bemühen von Valérie Pécresse bei ihrer eigenen Wahlveranstaltung acht Tage später – am 13. Februar in der Pariser Konzerthalle Zénith – diese persönliche Einlage von Marine Le Pen nachzuahmen, ging gründlich schief. Da war einfach nichts tragisch Wirkendes zu erzählen. Ihr Versuch wirkte schlicht unehrlich. Dass Pécresse überdies ihre Rede vom Blatt las, kam auch nicht sonderlich gut an.
Drittens wirkt der Krieg zwischen Russland und der Ukraine gegen die Kandidatur von Pécresse. Zwar griff dieser internationale kriegerische Konflikt die Kandidaturen von Le Pen und Zemmour potenziell noch stärker an – beide versuchen nun bemüht, ihre frühere erklärte Bewunderung für Wladimir Putin vergessen zu machen, im Fall von Marine Le Pen auch frühere Finanzflüsse aus Russland – doch auch Pécresse muss sich Sorgen machen. Nicht nur aufgrund der Putinophilie eines Segments innerhalb ihrer Partei rund um den früheren Kandidaten Fillon. Generell sorgt die Dramatik der internationalen Krise dafür, dass ein Gutteil der öffentlichen Meinung – auch viele Konservative – nach Sicherheit und Orientierung sucht und diese eher beim Amtsinhaber verortet. Selbst dessen Vor-Vorgänger im Amt, Nicolas Sarkozy, zögert mit einer Unterstützung für die Kandidatin Pécresse – dafür traf er Macron.
Präferenzen
Eine wichtige Frage wird lauten, wohin es größere Teile der verbleibenden Erbmasse von LR ziehen könnte, falls ihre Kandidatur erneut scheitert. Nicht auszuschließen ist, dass sich dann die bürgerlich-konservative Rechte spaltet, in einen Teil, den es zu Macron hin bewegt, und in den Flügel, der klar in Richtung extreme Rechte abdriftet. Dort steht Eric Zemmour bereit, um Bündnisangebote zu unterbreiten. Im Unterschied zu Marine Le Pen und dem Führungspersonal des »Rassemblement National« (»Nationale Sammlung«, RN), die in konservativen Kreisen – insbesondere aufgrund ihrer wirtschaftspolitischen »Verantwortungslosigkeit« – als weitgehend bündnisunfähig gelten. Ausschlaggebend dafür ist die starke soziale Demagogie gegen den beim LR verbreiteten Wirtschaftsliberalismus. Zemmour erklärte von Anfang an, er wolle die »künstliche« Spaltung überwinden und den RN – freilich ohne seinen derzeitigen Führungskurs – einerseits und die Konservativen andererseits zu einem Block zusammenschweißen, um die politische Rechte wieder mehrheitsfähig werden zu lassen.
Zwar ist es Zemmour gelungen, politisches Personal sowohl vom RN als auch von LR in seine Kampagnen herüberzuziehen. Allerdings konnte er bis jetzt den derzeit größten Widerspruch zwischen beiden Rechtskräften – RN und Konservative – nicht auflösen, das heißt ihre jedenfalls auf verbaler Ebene stark auseinander strebenden Positionierungen bei der Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammenführen. Es ist fraglich, ob er den wirtschaftsliberalen und elitären Diskurs von erheblichen Teilen der konservativ-wirtschaftsliberalen Rechten bei LR mit dem sozial-nationalistisch argumentierenden Teil des RN versöhnen kann. An Teilen von LR dagegen würde ein Bündnisversuch nicht scheitern. Indikator dafür ist das Stichwahlergebnis der Vorwahl vom Dezember 2021. Auf dem zweiten Platz hinter Pécresse mit 60,5 Prozent landete mit knapp 40 Prozent der Abgeordnete Eric Ciotti aus Nizza. Ciotti, ein Duzfreund von Zemmour, erklärte Anfang Oktober 2021 – ungefragt und ohne konkreten Anlass –, im Falle einer Stichwahlrunde um die Präsidentschaft zwischen Macron und Zemmour würde er für den Rechtsradikalen stimmen, und bezeichnete wiederholt ganz unumwunden Rechtsstaatlichkeit als sträflichen Luxus im erforderlichen umfassenden »Krieg gegen den Islamismus«. Der Einfluss von Ciotti ist vor allem in Süd- und Südostfrankreich erheblich. Bei Pécresse spiegelte er sich darin wider, dass sie in ihrer Pariser Rede vom 13. Februar 2022 einen Passus zum »großen Austausch (der Bevölkerung)« dem »grand remplacement« einbaute, wenn auch mit dem Zusatz versehen, dieser sei nicht unvermeidlich, da man ihm durch entschlossenes politisches Handeln gegensteuern könne. Ciotti und Zemmour benutzen den von dem Schriftsteller Renaud Camus stammenden Begriff als angebliche Zustandsbeschreibung im Hinblick auf Vorgänge rund um die Einwanderung. Marine Le Pen lehnte ihn dagegen in einem Interview von 2014 als zu verschwörungstheoretisch geprägt ab, da der Begriff suggeriere, Eliten wollten bewusst »das Volk austauschen«.
Diese Konstellation zeugt von einer erheblichen ideologischen Radikalisierung bei Teilen der französischen Konservativen – ein Prozess, der vor nunmehr gut fünfzehn Jahren eingeleitet wurde. Unter dem Einfluss seines damaligen Beraters Patrick Buisson, welcher heute Eric Zemmour berät, erhöhte der damalige Präsident Sarkozy über mehrere Jahre hinweg die Dosis an Sprüchen, Symbolen und Ideen, die er erkennbar vom Front National (»Nationale Front«, FN) übernommen hatte. Buisson drängte 2020/21 letztendlich Zemmour zur Kandidatur. Auch wenn Sarkozy dabei eher aus Strategie und Machttrieb, denn aus tiefen ideologischen Überzeugungen heraus handelte, trug er maßgeblich dazu bei, eine Saat auszustreuen, die noch Früchte tragen sollte. Die Kandidatur seines früheren Premierministers Fillon löste 2017 einen weiteren Radikalisierungsschub aus, da er viele Kader der oben zitierten Anti-Homosexuellenehe-Vereinigung »Sens commun« (»Gemeinsinn«) in seinen Wahlkampfstab aufnahm. »Sens commun« hat sich inzwischen in »Mouvement conservateur« (»konservative Bewegung«) umbenannt und unterstützt offiziell die Kandidatur von Zemmour.
Ideologisch wäre bei einem nicht geringen Teil der französischen Konservativen die Situation für eine Rechts-Rechts-Kooperation gereift. Ungelöst bleibt dabei jedoch bislang die strategisch bedeutende Frage nach dem Verhältnis zur Wirtschaftspolitik: Primat der Ideologie oder Unterordnung unter die Imperative des Kapitals, die eben auch für den Warenverkehr offene Grenzen und eine Akzeptanz der EU-Integration beinhalten können? Vorzug für eine soziale Demagogie, die der (extremen) Rechten Zutritt zu den sozialen Unterklassen verschafft – Ciotti etwa graust es vor dieser Vorstellung, anders als Le Pen – oder für »Augenmaß« im Sinne des Kapitals? Sollten die Wege getrennt bleiben, gilt es als ausgemacht, dass Macron weiterhin Frankreichs Präsident bleibt.