Die Insel als Menetekel

Die Insel als Menetekel Blätter-Redaktion 24. Mai 2023 - 14:01
Franziska Grillmeier, Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas, Cover: C.H. Beck

Bild: Franziska Grillmeier, Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas, Cover: C.H. Beck

Die Debatte über eine Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems hat wieder an Fahrt aufgenommen. Doch die zugrundeliegenden Probleme sind seit vielen Jahren bekannt.

Quelle: https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/juni/die-insel-als-menetekel

Re-interpreting interpreting

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Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14781700.2023.2207567?ai=15d&mi=3fqos0&af=R

The conceptualisation of translation in translation studies: a response

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Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14781700.2023.2209576?ai=15d&mi=3fqos0&af=R

The Last White Victory: Aleksandr Guchkov and the Conradi-Polunin Process of 1923

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Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/09546545.2023.2210006?ai=z4&mi=3fqos0&af=R

Octonauts: national identity and attribution theory

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Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14608944.2023.2208039?ai=z4&mi=3fqos0&af=R

Observing political and societal changes in Finnish parliamentary speech data, 1980–2010, with topic modelling

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Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/02606755.2023.2213550?ai=2w6&mi=47tg1r&af=R

Max Weber’s typology of medieval cities and the origins of modern representation

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Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/02606755.2023.2213917?ai=2w6&mi=47tg1r&af=R

Recht an der Grenze – Grenzen des Rechts

#Frontex

Antifa Magazin der rechte rand
Demonstration des Bündnisses »Seebrücke« 2018

Im Juli 2022 versucht eine Gruppe hauptsächlich aus Syrien stammender Geflüchteter von der Türkei kommend über den Fluss Evros nach Griechenland und somit in die Europäische Union zu gelangen. Der Evros markiert nicht nur eine Grenze, sondern ist seit Jahren Schauplatz einer brutalen Abschottungspolitik – mit fatalen Folgen für Menschen, die ihn auf ihrer Flucht, in der Hoffnung auf Schutz, überqueren wollen. Da griechische Sicherheitskräfte den Weg zum Ufer versperren, landet die Gruppe erstmals auf einer Sandbank mitten im Fluss. Von dort werden die Menschen schließlich zurück auf türkisches Gebiet gedrängt. Dort wartende türkische Soldaten zwingen die Schutzsuchenden jedoch zurück in den Fluss. So strandet die Gruppe erneut, in einer Art Limbus gefangen, auf der Sandbank, wo sie wochenlang ungeschützt und ohne Versorgung bei extremer Hitze ausharren muss. Am 20. Juli fordert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die griechische Regierung auf, zu helfen. Am 8. August stirbt Maria A., ein fünfjähriges syrisches Mädchen, mutmaßlich an den Folgen eines Skorpionbisses auf der Sandbank. Obwohl Videos mit Hilferufen existieren, kommt niemand, um ihr zu helfen. Das alles geschieht vor den Augen der EU, den EU-Behörden wie Frontex und den griechischen Behörden. Maria hätte nicht sterben müssen. Sie ist nicht das erste Opfer der brutalen EU-Migra­tionspolitik. Ihr tragischer Tod ist einer von vielen Fällen, die den Alltag von Schutzsuchenden an der EU-Außengrenze zeigen. Gravierende Menschenrechtsverletzungen und ungeheuerliche Verbrechen sind an den EU-Außengrenzen zum Regelzustand geworden; mehr noch, sie sind elementarer Bestandteil der heutigen EU-Flüchtlingspolitik.

EU-Türkei-Deal
Die Situation am Evros im August 2022 steht beispielhaft für die Situation von Schutzsuchenden und ist Ergebnis einer längeren Entwicklung der Erosion des Menschenrechtsschutzes innerhalb der EU, dem der sogenannte Flüchtlingssommer 2015 und der für einen sehr kurzen Zeitraum weitgehende Zusammenbruch des EU-Grenzregimes voranging. Infolgedessen haben die europäischen Regierungen alles darangesetzt, Fluchtwege wieder abzuschneiden und die Grenzen mit Gewalt zu schließen und zu »schützen«. Für die EU stand die Abschottung und die Abwehr von Schutzsuchenden spätestens ab diesem Zeitpunkt an oberster Stelle, weshalb sie sogar einen Deal mit dem Despoten Erdo?an einging. Am 18. März 2016 wurde in Brüssel im Europäischen Rat einstimmig für eine Erklärung EU-Türkei gestimmt. Die türkische Regierung sollte sechs Milliarden Euro erhalten, wenn sie im Gegenzug Geflüchtete zurücknimmt, die »irregulär« in Griechenland ankommen, und wenn sie sich verpflichtet, Flüchtende aufzuhalten. Das Beschlossene wurde in eine Pressemitteilung gegossen. Dabei handelt es sich nicht um einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag oder Ähnliches, sondern nur um eine politische Absichtserklärung der Chef*innen von EU-Staaten mit der Türkei. Dennoch hatte diese Pressemitteilung eine sofortige Auswirkung auf tausende Flüchtende, die sich damals im Grenzgebiet zwischen Griechenland und der Türkei auf den Inseln in der Ost-Ägäis aufhielten. Von einem auf den anderen Tag wurden Menschen, die tausendfach mit Gummibooten von der Türkei kommend auf den griechischen Inseln landeten und zuvor ohne Hindernisse mit der Fähre auf das Festland Griechenlands reisen konnten, auf den griechischen Inseln festgehalten und in sogenannten EU-Hotspots inhaftiert.
Um das neue Abschottungskonzept der EU umzusetzen, wurde ein Grenzschnellverfahren etabliert, in dem im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung die Türkei faktisch als »sicherer Drittstaat« etabliert wurde. Während dieses Verfahrens ist es den Schutzsuchenden grundsätzlich verboten, die Inseln zu verlassen – was vorhersehbar zu einer Überfüllung der Lager und so zu einem Leben unter elendigsten und menschenunwürdigen Bedingungen geführt hat. Im Zuge dessen kam es zu zahlreichen Verletzungen von Grund- und Menschenrechten, was auch der UN Special Rapporteur on the Human Rights of Migrants feststellte.

Herrschaft des Unrechts
Weitere eklatante Verschärfungen folgten, als Griechenland im März 2020 die Aussetzung des geltenden Asylsystems etablierte. Die von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis verfolgte »neue Taktik« beinhaltete auch »präventive Maßnahmen« in Bezug auf Ankünfte an den See- und Landgrenzen. Diese bedeuteten einen massiven Einsatz von Polizei- und Militärkräften, die mit einer dramatischen Steigerung von rechtswidrigen Zurückweisungen an der Grenze, sogenannten Pushbacks, einhergingen. Bei seinem Versuch, nach Griechenland zu fliehen, wird in diesem Zusammenhang Muhammed Gulzar am 4. März 2020 am Evros erschossen. Zahlreiche Organisationen, darunter auch das Deutsche Institut für Menschenrechte, haben die dortigen gewalttätigen Zurückweisungen als klaren Verstoß gegen internationales und EU-Recht bezeichnet.

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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste im März 2020 zwar an die griechisch-türkische Grenze, aber nicht etwa, um die offensichtlichen Rechtsverstöße zu ahnden und Griechenland zur Einhaltung von EU-Recht zu ermahnen. Stattdessen lobte sie vielmehr den Einsatz Griechenlands. Wörtlich sagte sie: »Ich möchte Griechenland dafür danken, dass es unser europäischer Schutzschild ist.« Diese Äußerung war eine weitere Zäsur: Damit legitimierte die EU menschenrechtswidriges Handeln und machte deutlich, dass rechtswidrige Menschenrechtsverletzungen erwünscht sind, solange sie der effektiveren Abschottung der (Außen-)Grenzen dienen.

Rechtsverschärfungen und Menschenrechtsverletzungen
Seit Sommer 2021 haben tausende Schutzsuchende versucht, über Belarus nach Polen in die EU einzureisen. Die polnische Regierung riegelte daraufhin die Grenze mit einem großen Polizei- und Militäraufgebot ab, ließ Zäune errichten und verhängte entlang des Grenzgebiets einen Ausnahmezustand. Zu dem entsprechenden Bereich hatten weder Journalist*innen noch Hilfsorganisationen oder Rechtsanwält*innen Zugang. Selbst der Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, wurde der Zutritt versagt. Polen hat bereits Ende Oktober 2021, also nur wenige Monate nachdem die Zahl der Schutzsuchenden rasant gestiegen war, ein Gesetz eingeführt, das Pushbacks auf nationaler Ebene legalisiert. Mindestens 21 Menschen sind in wenigen Monaten in den Wäldern des polnisch-belarussischen Grenzgebiets gestorben. Wenn Geflüchtete es doch über die Grenze geschafft haben, ohne von polnischen Grenzbeamt*innen zurückgeschoben oder im Wald festgehalten zu werden, wurden sie unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern inhaftiert.

Erosion der Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte
Griechenland und Polen sind zwei Beispiele von vielen. Auch an anderen europäischen Grenzen stehen rechtswidrige und mit äußerster Brutalität durchgeführte Pushbacks auf der Tagesordnung: Diesen Juni starben 23 Menschen bei dem Versuch, die spanische Exklave Melilla zu erreichen. Anfang 2022 haben kroatische Grenzbeamt*innen Geflüchtete buchstäblich aus der EU rausgeprügelt, allein an der Grenze von Kroatien zu Bosnien-Herzegowina wurden von Menschenrechtsorganisationen zwischen Juni 2019 und September 2021 30.309 Pushbacks durch die kroatische Grenzpolizei dokumentiert. Menschenrechte werden gebrochen und staatliche Akteure, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, werden nicht verfolgt. Stattdessen werden Gesetze verschärft, um Rechtsbrüche nachträglich zu legalisieren und noch weiter zu verallgemeinern. Alle Appelle, die EU-Kommission möge ein funktio­nsfähiges Monitoring für Menschenrechtsverletzungen etablieren oder Vertragsverletzungsverfahren einleiten, weil Mitgliedsstaaten gegen EU-Recht verstoßen, sind deshalb zum Scheitern verurteilt. Im Gegenteil, es ist gerade die EU-Kommission, die die Mitgliedstaaten in ihrem Handeln bestärkt, wenn sie offensichtliche Menschenrechtsverletzungen begehen – und sie dabei zum Beispiel von den EU-Agenturen unterstützt werden.

Menschenrechtsverletzungen mit Unterstützung von Frontex?
Die Verwicklung der sogenannten Grenzschutzagentur Frontex in systematische Pushbacks der griechischen Küstenwache ist durch journalistische Recherchen schon seit Längerem bekannt, wie zahlreiche Recherchen unter anderem von Der Spiegel und Lighthouse Reports zeigen. Letzte Zweifel daran. dass Frontex in massenhafte Rechtsbrüche involviert war, räumte im Februar 2022 der vorgelegten Bericht der EU-Antikorruptionsbehörde OLAF aus, der über die Transparenzplattform FragDenStaat veröffentlicht wurde. Pushbacks wurden durch die Mitgliedstaaten entweder vertuscht oder sie hatten bewusst weggesehen, auch bei mit EU-Mitteln co-finanzierten Aktionen. Dass die EU als Ganzes, geschweige denn die Mitgliedstaaten, daraus Konsequenzen ziehen, ist bisher alles andere als absehbar. Das europäische Recht ermöglicht den Betroffenen einer menschenrechtswidrigen Grenzpolitik kaum einen Zugang zu effektivem Rechtsschutz. Eine umfassende Reform des Rechtsschutzes und ein Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention sind nötig, um Agenturen wie Frontex zur Verantwortung zu ziehen.

Clara Bünger ist Rechtsanwältin und sitzt für die Partei Die Linke im Bundestag.

Der Beitrag Recht an der Grenze – Grenzen des Rechts erschien zuerst auf der rechte rand.

Quelle: https://www.der-rechte-rand.de/archive/9441/recht-an-der-grenze-grenzen-des-rechts/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=recht-an-der-grenze-grenzen-des-rechts

Elevating the significance of military service: Knesset members and republican values

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Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14608944.2023.2214094?ai=z4&mi=3fqos0&af=R

»Was kümmert mich die Unabhängigkeit der Richter, solange ich über ihre Beförderung entscheide.«

#System

Einige Bemerkungen aus dem Maschinenraum der deutschen Justiz zu deren Struktur im historischen und europäischen Vergleich.

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Die Idee von Justiz lebt sehr wesentlich von Unabhängigkeit. Ohne tief in Staatstheorie einsteigen zu wollen, ist das ohne Zweifel ein ganz wesentlicher Teil von Rechtsprechung. Wie kann die Unabhängigkeit derjenigen, die Rechtsstreite zu entscheiden haben, abgesichert werden? Hierauf finden sich sehr verschiedene Antworten. Vielleicht lohnt auch ein Blick über die Grenzen.
Nach dem Ende des Faschismus standen sowohl Deutschland als auch Italien vor der Frage, was aus dem totalen Versagen der jeweiligen Justizsysteme im Faschismus mit Blick auf den Aufbau einer neuen, demokratischen Justiz zu lernen sei. Beide Länder haben durchaus unterschiedliche Konsequenzen gezogen: Während die BRD einfach an dem aus Kaiserzeiten überlieferten System festhielt, hat Italien eine völlig neue Struktur geschaffen. Diese neue (italienische) Struktur haben auch die iberischen Länder nach dem Ende der dortigen Diktaturen in jeweils eigenen Ausprägungen übernommen. Nach dem Zusammenbruch des sogenannten Ostblocks sind die osteuropäischen Länder beim Neuaufbau ihrer Justiz allerdings nicht dem Beispiel Deutschlands, sondern eher – mit vielen Unterschieden im Einzelnen – den Modellen Italiens, Spaniens und Portugals gefolgt. Sowohl die Richter*innen in der Gewerkschaft ver.di, in der Neuen Richtervereinigung als auch zuletzt im Deutschen Richterbund haben das deutsche System kritisiert und eigene Modelle vorgestellt, die sich am italienischen/iberischen System orientieren.

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Ganz kurz – wie unterscheiden sich die Systeme und warum könnte so etwas politisch wichtig sein?
In Deutschland ist die Unabhängigkeit der Richter*innen verfassungsrechtlich garantiert (Art. 97 Absatz 1 Grundgesetz). Mir ist auch nach über 30 Jahren in der Justiz noch kein Fall bekannt geworden, in dem etwa eine Richter*in von der Regierung angewiesen worden ist, wie ein Fall zu entscheiden sei. Dagegen würden sich auch konservative Kolleg*innen strikt verwahren. Anrufe in der Verwaltung eines Gerichts, wie ein bestimmter Spruchkörper so entscheidet, sind mir indessen schon bekannt geworden. Eine andere Frage und ausdrücklich nicht Gegenstand dieses Textes ist es, wie sich gesellschaftliche Erwartungshaltungen und schichtspezifische Präformierungen auf das Justizpersonal auswirken.
Warum ist das dennoch bemerkenswert? Unabhängige Richter*innen sind dazu berufen, zu überprüfen, ob Entscheidungen der Exekutive, zum Beispiel Versammlungsbehörde oder Jobcenter, rechtmäßig sind. Eben diese Exekutive entscheidet aber auch darüber, wer in der Justiz aufsteigt oder wer überhaupt eingestellt wird. Da könnte sich ein Webfehler verbergen. Daher auch die Überschrift dieses Beitrags, die auf einen Ausspruch des preußischen Justizministers Gerhard Adolph Wilhelm Leonhardt (*1815, †1880) zurückzuführen ist.

Wird auf die Füße getreten, wenn man aufstiegswillig ist?
Befördert die Exekutive Leute, die ihr auf die Füße treten?
Wie wirkt dieses System auf das Personal ein?

Die deutsche Justiz ist hierarchisch tief gestaffelt. Zwischen Richter*innen im Eingangs­amt, etwa am Amtsgericht, Arbeitsgericht, Sozialgericht oder Verwaltungsgericht, und Vorsitzenden Richter*innen an einem Bundesgericht liegen zehn Besoldungsstufen. Das macht nicht nur im Geld, sondern auch im Sozialprestige und in der Arbeitsweise/Arbeitsbelastung ganz erhebliche Unterschiede aus.
Wie ist der Zugang zu den »besseren« Stellen geregelt? Die Entscheidungen darüber, wer befördert wird, werden im zuständigen Ministerium getroffen. Grundlage der Beförderungsentscheidung sind Beurteilungen der jeweiligen Präsident*innen. Diese haben sich verfassungsrechtlich bei ihrer Beurteilung an Eignung, Leistung und Befähigung zu orientieren (Artikel 33 Absatz 2 Grundgesetz).
Dazu vielleicht zwei Anekdoten: Ein Kollege bei einem Oberlandesgericht bewirbt sich auf eine Stelle als Vorsitzender Richter, die öffentlich ausgeschrieben worden ist. Daraufhin erhält er einen erstaunten Anruf von dem Kollegen, der als Präsidialrichter dem Präsidenten zuarbeitet, wieso er sich denn bewerbe – er sei dazu doch gar nicht aufgefordert worden. Ein anderer Kollege wird von einer Bundestagsabgeordneten, die Mitglied des Richterwahlausschusses nach Artikel 95 Absatz 2 Grundgesetz ist, zur Wahl als Bundesrichter vorgeschlagen. Daraufhin wird der Kollege von seinem Präsidenten als ungeeignet beurteilt. Der Kollege sucht das Gespräch mit dem Präsidenten, der ihm mitteilt, er habe jemand anderen für die dem Bundesland zustehende Position vorgesehen. Er sei gern bereit, die Beurteilung zurückzunehmen, wenn der Kollege zusichere, seine »Bewerbung« zurückzunehmen und weiter zusichere, sich nicht wieder ohne Aufforderung seines Präsidenten auf eine derartige Stelle zu bewerben.


Dieses System ist einmal mit folgenden Worten zusammengefasst worden: In der Justiz wird nicht derjenige befördert, der am besten beurteilt worden ist, sondern es wird derjenige am besten beurteilt, der befördert werden soll.


Deutlich wird: Zentrale Schaltstelle sind die Präsident*innen und ihre Beurteilungen. Das hat das politische System durchaus verstanden und seine Konsequenzen gezogen: In einem großen norddeutschen Bundesland ist es zum Beispiel so, dass alle Oberlandesgerichts­präsident*innen, der Präsident des Oberverwaltungsgerichts und die Präsidentin des Landessozialgerichts zuvor lange an herausragender Stelle im Landesjustizministerium gearbeitet haben. Wie kommt man dahin? In vielen Fällen, indem man in einer politischen Partei ist oder ihr zumindest »nahesteht« und dann bei der Arbeit im Ministerium nachweist, verstanden zu haben, wie »Justizverwaltung« funktioniert.
Zusammenfassend: Das deutsche System ist tief hierarchisch und seit Kaiserzeiten wie eine Behörde konstruiert; Aufstieg hängt vom Wohlwollen der Exekutive ab. Menschen sind geneigt, für solche Versuchungen anfällig zu sein.


In Italien hingegen wählen alle Richter*innen den obersten Rat der Gerichtsbarkeit. Dieser oberste Rat entscheidet darüber, wer wo Dienst tut. Besoldung ist nicht zwingend damit verknüpft, an welchem Gericht oder in welcher Instanz Dienst getan wird. Nicht zwingend ist es zum Beispiel, Personen, die von ihrer Anlage her gern tief über Probleme nachdenken, an einem Gericht der ersten Instanz einzusetzen, in dem hohe Fallzahlen zu bewältigen sind. Dafür sind möglicherweise andere Qualitäten gefragt – etwa die Fähigkeit in einer mündlichen Verhandlung die Interessen der Beteiligten zu erkennen, auf sie einzugehen und nach einvernehmlichen Lösungen zu suchen. Die Verhandlungen des obersten Richterrates in Italien sind öffentlich, werden beispielsweise im Radio übertragen. Anders als in Deutschland ist in Italien auch die Staatsanwaltschaft unabhängig und unterliegt nicht den Weisungen des Justizministers. Das hat immerhin dazu geführt, dass im Rahmen von »mani pulite« (»saubere Hände«) das ganze etablierte politische System in Italien in die Luft geflogen ist. Ob das, was da jetzt entstanden ist, viel besser ist, kann man sich zwar fragen. Schuld daran ist aber sicherlich nicht die Unabhängigkeit der italienischen Justiz. Die Kolleg*innen in Italien wählen ihre Vertreter*innen im obersten Richterrat nach politischen Listen der verschiedenen Verbände. Damit kommt das eminent Politische dieser Dinge auch öffentlich zum Ausdruck.


Dieses System haben sowohl Spanien als auch Portugal im Großen und Ganzen übernommen – jeweils mit nationalen Besonderheiten. Das ist im Einzelnen oft sehr spannend. In Spanien ist es beispielsweise so, dass Leitungsfunktionen in Gerichten auf Zeit gewählt werden und die Möglichkeit der Wiederwahl eingeschränkt ist. Dort hat man nach dem Ende der Franco-Zeit die Erfahrung gemacht, dass das konservative Richterkorps sich immer wieder gleichgesinnte junge Kolleg*innen kooptiert und damit auch die Mehrheiten im obersten Richterrat dominiert hat. So ist die Wahl der Vertreter*innen auf das Parlament übertragen worden, das nach den dortigen Mehrheiten über Listenvorschläge aus der Richter*innenschaft entscheidet. Das Besoldungssystem kennt nur ganz geringe Differenzierungen.
Auch in der polnischen Justiz etwa, wie sie nach den dortigen Umbrüchen entstanden ist, gab es einen solchen gewählten obersten Richterrat, der für Einflussnahmen der Exekutive so gut wie gar nicht zugänglich war. Das hat die PiS-Partei in den letzten Jahren gründlich geändert – warum wohl? Auch in anderen osteuropäischen Ländern nagt die Exekutive immer weiter an derartigen Systemen – immer wieder gern unter Verweis auf das deutsche System.


Nun soll nicht verschwiegen werden, dass auch in anderen Ländern nicht alles Gold ist, was glänzt: Die Verfahrenslaufzeiten in Italien sind für unsere Verhältnisse unglaublich lang. Das Problem, dem System Justiz die finanziellen Mittel zu verschaffen, die es braucht, um seiner Aufgabe, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, nachzukommen, ist nicht gelöst. Auch dort und in anderen Ländern finden sich im Justizpersonal vergleichsweise oft Angehörige bestimmter gesellschaftlicher Schichten. Die Ausgestaltung des Systems Justiz ist ein enorm politisches Problem.

Klaus Thommes ist Richter in Niedersachsen.


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