Verlorener Kompass

#Querfront

Alle Versuche, zur Stärkung linker Politik eine »Querfront« mit der radikalen Rechten zu bilden, scheiterten. Und falsch ist der Versuch sowieso – in seiner Wirkung ebenso wie in der Begründung.

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Sahra Wagenknecht lud AfD-Mitglieder nicht von der Kundgebung aus, ihr Mann Oskar Lafontaine lud sie explizit ein. © Roland Geisheimer / attenzione

Querfront, der Begriff ist in diesen Wochen wieder in aller Munde. Er dient unter anderem zur Beschreibung der Demonstration »Aufstand für den Frieden« am 25. Februar 2023 in Berlin sowie zur Charakterisierung von Aufrufen, Kundgebungen oder medialen Kooperationen im Zusammenhang mit den kontroversen Debatten um den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Menschen, die sich als links verstehen oder in linken Organisationen und Parteien aktiv sind, finden sich mit ihren Argumenten, ihren Deutungen des Weltgeschehens oder ganz real auf Veranstaltungen neben explizit Rechten wieder. So vertreibt zum Beispiel die radikal rechte Zeitschrift »Compact« Plakate mit der Aufschrift »Wagenknecht, die beste Kanzlerin«, Oskar Lafontaine schwadroniert von gemeinsamen Protesten für den Frieden. Das von hunderttausenden Menschen unterzeichnete »Manifest für den Frieden« wurde auch von Politiker*innen der »Alternative für Deutschland« (AfD) unterstützt. Das häufigste Argument für die angestrebte Zusammenarbeit: Die Bedrohungen und Problemlagen – aktuell der Frieden und ein möglicher Atomkrieg – seien so groß, dass man keine Unterscheidungen mehr zwischen Rechts und Links machen dürfe. Der politische Feind – wahlweise die NATO oder »die Amis«, die Bundesregierung oder die Grünen – müsse gemeinsam bekämpft werden. Dabei ist die Verwirrung groß: Deutsche Neonazis beklagen sich über Neonazis in der Ukraine, braune Friedensfreund*innen bejubeln die früher als Feministin bekämpfte Alice Schwarzer, Antikapitalist*innen verteidigen russische Oligarchen und der rechte Waffenlobbyist Erich Vad wird zum Kronzeugen der Bewegung.

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Immer wieder bildeten sich in der Geschichte der Bundesrepublik gerade im Themenfeld des Friedens Querverbindungen zur radikalen Rechten. Die Idee eines neutralen Deutschlands zwischen Ost und West fand in der Friedensbewegung der 1950er und 1960er Jahre ihre Anhänger*innen sowohl rechts als auch links, die atomare Vernichtung der deutschen Heimat fürchteten auch Rechtsradikale und die Mobilisierung gegen die Bomben der »Amis« sorgte auch in den 1980er Jahren immer wieder für einzelne Überschneidungen der politischen Spektren. Beispielhaft sei dazu an den früheren Bundeswehroffizier Alfred Mechtersheimer erinnert, der von 1987 bis 1990 für die Grünen im Bundestag saß und dort neutralistische Positionen vertrat. Später fand man ihn mit den gleichen Argumenten in den Blättern und Vortragssälen der extremen Rechten wieder. Schnell wird klar: Ein verbindendes Element von Versuchen, konträre politische Spektren zusammenzubinden, ist ein gemeinsames Feindbild. In diesem Fall eben die USA und der liberale Westen, schon immer ein Hassobjekt weiter Teile der radikalen Rechten und als plakatives Abziehbild für eine scheinbare Kapitalismuskritik eben auch abrufbar für Teile einer Linken.

Zuletzt wurde die Nähe 2014 bei den »Friedensmahnwachen« deutlich, bei denen auch extrem rechte und antisemitische Redner*innen auftraten und Verschwörungsglaube die Analysen ersetzte. Fake-News waren hier ein Rückgrat der Mobilisierung. Rund um Personen wie Ken Jebsen oder Lars Mährholz gab es Kundgebungen und gemeinsame YouTube-Videos. Linke und rechte Demonstrant*innen standen nebeneinander. Bereits damals diskutierten Linke und die Friedensbewegung über dieses Phänomen, zerstritten und differenzierten sich. Während zum Beispiel die Tageszeitung junge Welt damals scharf die rechte Vereinnahmung kritisierte und sich darüber auch von langjährigen Bündnispartner*innen distanzierte, fehlt heute in dem Blatt die kritische Sicht auf die Parallelen manch linker und rechter Friedensfreund*innen. Die Verteidigung des autoritären Systems Russlands und der Hass auf den liberalen Westen – beides auch klassische Motive im rechten Denken – scheinen für Teile der Linken einende Klammer mit Teilen der radikalen Rechten geworden zu sein. Der naiv-ahistorische Glaube, das heutige Russland sei noch immer in irgendeiner Form mit der Sowjetunion vergleichbar, verwirrt den Blick zudem. Allerdings – und auch das muss in die Gesamtbetrachtung einbezogen werden – verstellen der tiefsitzende Antikommunismus der Bundesrepublik und tradierte antirussische Einstellungen auch Anderen den Blick auf den Konflikt und befeuern jene Positionen, denen es nicht nur um die legitime Selbstverteidigung der Ukraine geht.

Links und Rechts
Grundlage für die Klärung, was denn eine Querfront ist, muss die Antwort auf die Frage sein: Was ist links und was ist rechts? Der italie­nische Philosoph Norberto Bobbio beschrieb in seinem 1994 veröffentlichten Buch »Rechts und Links: Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung« die beiden politischen Richtungen als grundverschieden. Die Scheidung verlaufe entlang des Verhältnisses zur Idee der politischen Gleichheit. Während der rechte Grundgedanke auf Ungleichheit basiert, definiert sich die Linke über einen egalitären Anspruch. Dass die politische Praxis dem nicht immer und in jeder Frage entspricht und die jeweiligen Deutungen von Ungleichheit einerseits und Gleichheit andererseits auch in den jeweiligen politischen Spektren nicht deckungsgleich sind, ist selbstverständlich. Aber Bobbios Grundgedanke und das für die Unterscheidung notwendige Merkmal ist die Verortung zwischen diesen, sich konträr gegenüberstehenden Menschenbildern. Legt man diese Definition an Demonstrationen, Bündnisse oder gemeinsame Aufrufe an, dann relativiert sich die ein oder andere Einordnung als Querfront schnell wieder. Denn links ist daran meist kaum etwas. Querfrontversuche bilden sich meist entlang von gesellschaftlichen Konflikten, die rechts gedeutet und bearbeitet werden.

Weimarer Republik
Historisch gab es im Deutschland der Weimarer Republik immer wieder Versuche, anti-demokratische und antiemanzipatorische Politik durch eine Verbindung von Nationalismus und Sozialismus zu begründen und so wirkmächtig zu werden. Hier waren es vor allem Vertreter der »Konservativen Revolution«, die auf diese Taktik setzten. Das immer wieder als angeblicher Beleg für die »Totalitarismustheorie« angeführte Beispiel einer Querfront-Strategie ist der Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben im Herbst 1932. Damals waren zwischen der Arbeitgeberseite und der im Betrieb dominierenden sozialdemokratischen Gewerkschaft Lohnkürzungen ausgehandelt worden, gegen die sich Proteste der KPD und der mit ihr verbundenen, im Betrieb vergleichsweise starken Revolutio­nären Gewerkschafts-Opposition (RGO) richteten. Auch die dort ähnlich starke »Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation« mobilisierte gegen die Lohnkürzung. Die Masse der an den folgenden Streiks beteiligten Arbeiter*innen waren jedoch Mitglieder der sozialdemokratisch orientierten Mehrheitsgewerkschaft und die öffentlich dominierende Kraft war die RGO. Dennoch wird bis heute das Beispiel als explizite Zusammenarbeit von KPD und NSDAP – also eine Querfront – in Geschichtsbüchern und historischen Dokumentationen angeführt. In einem Interview mit der Zeitung Neues Deutschland wies der Historiker Ralf Hoffrogge im November 2022 diese Deutung zurück und stellte klar, dass der Streik auch ohne die NS-Organisation stattgefunden hätte. Aber es habe eine falsche und nutzlose Duldung von Nazis im Streikkomitee, jedoch kein organisatorisches Bündnis gegeben. Auch die zeitweise angewendete Taktik der KPD, die »Nazi-Proleten zu ihren eigentlichen Interessen zurückzuführen« sei »grandios schiefgegangen«.

Die Beteiligung von Nazis sei bereits damals von sozialdemokratischer Seite überhöht dargestellt worden, um »die politischen Feinde zu diskreditieren«. Die Mehrheit der streikenden Arbeiter*innen seien parteilos oder Mitglieder der sozialdemokratischen Gewerkschaft gewesen, die im Widerstreit zum Kurs ihrer Organisation standen. Hoffrogge macht rückblickend zweierlei klar: Erstens geht die Interpretation des Streiks als reale Querfront fehl und wurde vor allem zur Diskreditierung der KPD gebraucht. Doch zweitens sei die Tolerierung von Nazis im Streik grundsätzlich falsch, wie auch nutzlos gewesen. Diesen »Fehler sollten Linke nie wieder machen«, schloss der Historiker das Interview.

Ähnliche Auseinandersetzungen auf dem Feld der sozialpolitischen Fragen wurden bei den »Montagsdemonstrationen« ab 2004 gegen das Verarmungsprogramm (»Hartz IV«) von SPD und Grünen wie auch bei den Protesten gegen die Folgen der Inflation im Herbst 2022 geführt. Kooperation oder klare Kante gegen Rechts, das sind die Konfliktlinien. Die Erfahrungen aus den Protesten gegen »Hartz IV« zeigten dabei eines deutlich, was leider zu schnell in Vergessenheit geraten ist: Die Duldung von Rechten auf den Veranstaltungen nutzte nur deren Normalisierung in der Gesellschaft und spaltete die Bündnisse. Eine inhaltliche und organisatorische Abgrenzung dagegen sorgten für Stabilität und eine progressive Orientierung der Aktionen.

Links oder rechts?
Gerade mit Blick auf die aktuellen Debatten in der Linkspartei über politische Bündnisse in der Friedensfrage war der kritische Twitter-Kommentar vom Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Die Linke) zum Aufruf von Oskar Lafontaine zur Demonstration am 25. Februar 2023 in Berlin wichtig und wies auf einen zentralen Aspekt der Debatte hin. »Wenn der Kompass endgültig kaputt ist, und Querfront zur Normalität werden soll«, so lautete seine lakonische Kritik an Lafontaines Aufruf. Wichtig war diese Zurückweisung vor allem wegen der Fokussierung im Sinne des Kerngedankens Bobbios: Liegt den geäußerten Positionen – auch trotz möglicher Differenzen im Detail des jeweiligen Debattengegenstandes – ein politischer Kompass zugrunde, der sich entlang der Frage »Links oder rechts?« orientiert?



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The Greek Civil War and Genocide by Forcible Transfer of Children

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Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14623528.2023.2203924?ai=z4&mi=3fqos0&af=R

Reaktionäres in der Mitte der Gesellschaft

#Österreich

In Österreich erweisen sich konservative Traditionslinien bis heute als robust. Gleichzeitig zeigten gerade die letzten Jahre einen Aufschwung reaktionärer Politiken, die sich wiederum keineswegs auf einen vermeintlich rechten Rand beschränken, sondern sowohl ihren Ursprung als auch ihr Ziel in der »Mitte« der Gesellschaft haben.

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… zu reaktionären Erneuerungen

Im parteipolitischen Konservatismus zeigt sich somit gegenwärtig ein weitaus offensiverer reaktionärer Richtungswechsel – nicht zuletzt, um von rechts gewinnen zu können. Mit der Modernisierung durch den, mittlerweile ehemaligen, Bundeskanzler Sebastian Kurz ab 2017 wurde der Volkspartei nicht nur ein neues, verjüngtes Image verpasst, sondern ermöglichte ebenfalls einen gewissen Bruch mit manchen verstaubten Traditionslinien.

In ihrer relativ kurzen Amtszeit schafften es die beiden Parteien, auf unterschiedlichen politischen Ebenen Erreichtes schrittweise abzubauen. So wurde mit der Begründung, dass »2015 sich nicht wiederholen dürfe«, vor allem die Asyl- und Migrationspolitik verschärft. Im Zuge der Reform der »Sozialhilfe Neu« wurden etwa der Unterstützungsbetrag für anerkannte Flüchtlinge sowie Asylbeantragende herabgesetzt sowie zusätzlich an die jeweiligen Deutschkenntnisse als Voraussetzung geknüpft. »Pushbacks« und Abschiebungen stehen ebenso nach wie vor auf der Tagesordnung. Die Rechte von Arbeitnehmer*innen erfuhren Einschnitte, so wurde 2018 der 12-Stunden-Arbeitstag wieder eingeführt – 100 Jahre nach seiner Abschaffung. Die Wirtschaft erhielt im Gegenzug unter anderem eine Senkung der Unternehmenssteuer. Das Mietrecht wurde zugunsten von Investor*innen reformiert, im Sozialversicherungssystem kam es zu finanziellen Kürzungen.

 

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Das Geschichtsverständnis zurückdrehen

Die COVID-19-Pandemie beziehungsweise die »Corona-Proteste« offenbarten in Österreich zusätzlich die standhafte Resilienz gegen die Lernfähigkeit über die eigene Geschichte. Tiefsitzender Antisemitismus sowie Relativierungen des Nationalsozialismus wurden nicht nur wieder in breiten Massen sag- und tragbar, sondern eröffneten manchen Politiker*innen und ihren Parteien die rhetorische Basis, nach der man sich schon länger zu sehnen schien.

Der derzeitige Obmann der FPÖ, Herbert Kickl, setzte beispielsweise unlängst in einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk Impfgegner*innen mit Verfolgten des Holocausts gleich, um im Nachhinein zu betonen, dass es ihm damit eigentlich »um eine Kritik am Nationalsozialismus« ginge. Kickls Rhetorik ist dabei zum einen Teil der gegenwärtigen Strategie der FPÖ geschuldet, durch die Pandemie, also vor allem im Kampf gegen die Maßnahmen sowie die mittlerweile umgesetzte, landesweite Impfpflicht, wieder Wähler*innenstimmen generieren zu können. Und das scheinbar auch erfolgreich: Nach aktuellen Umfragen liegt die FPÖ derzeit wieder bei 20 Prozent, nachdem sie nach der »Ibiza-Affäre« und darauffolgenden Neuwahlen fast 10 Prozent verloren hatte und dadurch zurück in die Opposition fiel. Zum anderen ist die Forderung nach einem »Zurück zur Freiheit« dabei nicht nur der Ruf nach einer Zeit vor Corona, sondern verspricht nicht zuletzt im Subtext den freiheitlichen Grundkonsens des Reaktionären. Wenngleich sich Teile der Partei mittlerweile vom offenkundigen Bekenntnis zum Deutschnationalismus trennten und auf die Beschwörung eines »österreichischen Patriotismus« setzen, so eint sie in ihren »Einzelfällen« eine beständige Verharmlosung der NS-Geschichte.

Und auch hier beschränkt sich die Verharmlosung der eigenen Täter*innenschaft nicht auf die rechtsradikale Partei, sondern findet sich durchaus in der ÖVP wieder: Der derzeitige Außenminister verglich unlängst die Situation in der Ukraine mit der Österreichs von 1938 mit den Worten: »Wir haben doch 1938 am eigenen Leib erlebt, wie es ist, wenn man allein gelassen wird.« Der mittlerweile wieder abbestellte Leiter des Kärntner Verfassungsschutzes war mit Begrüßungsreden auf einer geschichtsrevisionistischen »Gedenkveranstaltung« zu Gefallenen der Waffen-SS vertreten und in der Gemeinde, wo der amtierende Innenminister zuletzt Bürgermeister war, steht bis heute ein Museum zu Ehren des Austrofaschisten Engelbert Dollfuß.

 

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Reaktionäres aus der Mitte

Und wenn der damalige ÖVP-Obmann und Bundeskanzler Kurz zuweilen in Interviews feststellte, dass seine Forderungen »vor 3 Jahren noch als rechtsradikal abgetan wurden«, dann implizierte er damit nicht nur die Salonfähigkeit von rechten bis extrem rechten Politiken in die Mitte hinein. Es ist ebenso bezeichnend für die Verschärfungen innerhalb eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses und des politischen Alltags, nicht länger nur das Bestehende bewahren und »verteidigen« zu wollen, sondern schrittweise das Rad zurückzudrehen. Das passiert nicht zuletzt mit der (nationalistischen) Argumentation, einem »Wir« – also den Privilegierten – die Privilegien zurückzuholen, die ihnen vermeintlich durch »die Anderen« genommen wurden. Mittels strategischer Verdrehungen und der Anrufung von Affekten werden also einerseits spezifische Menschenfeindlichkeiten wieder artikulierbar und schließlich politisch umsetzbar gemacht, andererseits ermöglichen sie insbesondere in Zeiten von akuten Krisen die Nutzung jener sozialen und ökonomischen Unsicherheiten, die in Teilen den Boden für reaktionäre Politiken und ihre gesellschaftliche Akzeptanz darstellen. Dementsprechend ist es notwendig, das reaktionäre Potenzial nicht nur im Rechtsradikalismus zu erkennen, sondern in der Fortsetzung seines Ursprungs – also der gesellschaftlichen »Mitte« und ihrem inhärenten Konservatismus.

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Mai 2023

Mai 2023
»Blätter«-Ausgabe 5/2023
Blätter-Redaktion 19. April 2023 - 11:25

In der Mai-Ausgabe beschreibt Richard C. Schneider zum 75. Jahrestag der Staatsgründung das unlösbare Dilemma Israels. Katajun Amirpur kritisiert die Geschichtsvergessenheit der iranischen Proteste. Susanne Kaiser warnt vor einem brutalen Backlash gegen die Emanzipation der Frauen. Cédric Wermuth erklärt, warum die Linke bei aller Kritik am Westen die Ukraine unterstützen muss. Frauke Banse analysiert, wie die westliche Entwicklungspolitik den Globalen Süden in eine neue Schuldenspirale treibt.

Quelle: https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/mai

Electoral Competition and Policy-Making Under the Fourth Merkel Government. Driven by ‘Fridays for Future’ and the Pandemic?

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Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/09644008.2023.2198213?ai=z4&mi=3fqos0&af=R

Translation and the political: antagonism and hegemony

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Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14781700.2023.2186944?ai=15d&mi=3fqos0&af=R

Before T.H. Marshall: the conceptualization of industrial citizenship in the United States, 1900–1920

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Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/0023656X.2023.2201697?ai=z4&mi=3fqos0&af=R

Shaping Public Perception: Polish Illustrated Press and the Image of Polish Naturalists Working in Latin America, 1844–1885

Abstract

This article will investigate the ways in which Polish illustrated press contributed to communicating and reporting the work of Polish émigré naturalists working in Latin America to the Polish general public living in the Prussian, Russian and Austrian partitions of the Polish-Lithuanian Commonwealth 1844–1885. It examines the ways in which illustrations were used to shape the public's opinion about the significance of these migrants’ scientific achievements. The Polish illustrated press, its authors and editors were instrumental in shaping the public's perceptions of the reach of Polish scientists, and exploring their impact on broader scientific debates, thereby situating Polish people and their work in a global context. The didactic and opinion-making role of the illustrated press was highly influential among Polish audiences during this period, at a time when the survival of Polish identity, culture, language, and education was uncertain. Illustrated weeklies were one of the vectors through which high science was made accessible to the Polish public. A study of pictures in Polish illustrated press will help to explain how they contributed towards shaping the images in the public eye of naturalists’ scientific work, and discourses about science and its actors more broadly.

Quelle: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.202200047?af=R

Ultraminor world literatures

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Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14781700.2023.2186476?ai=15d&mi=3fqos0&af=R

Was ist Faschismus?

#Theorie

Faschismus ist einer jener Begriffe, die gleichzeitig zu oft und zu sparsam benutzt werden. Dabei droht nicht nur eine Beliebigkeit des Begriffes, sondern sogar seine Verkehrung ins Gegenteil. Der Versuch einer Annäherung.

Vor kurzem saß ich in einer politischen Talkshow eines privaten Fernsehsenders. Mein Gegenüber war einer der renommiertesten Meinungsforscher Österreichs. Es ging um alles und nichts und vor allem um das Kuriositätenkabinett der österreichischen Innenpolitik. Meine Rolle war es, auf den wachsenden Faschismus aufmerksam zu machen. Plötzlich wirft dieser Meinungsforscher ein, es gebe ja auch einen »Faschismus von links«. Ich verlor die Fassung (was ich nicht hätte tun sollen). Diese unhaltbaren Thesen kannte ich sonst nur von der extremen Rechten, die diese Verwischungen bewusst einsetzt, um den Faschismusbegriff unbrauchbar zu machen.

Faschismus
Zitat: Natascha Strobl

Die Sicht auf die faschistische Ideologie
Dabei ist es so wichtig wie nie, einen praktikablen Faschismusbegriff zu besitzen und mit ihm zu operieren. Es ist 100 Jahre her, dass Benito Mussolini mit den Schwarzhemden den Marsch auf Rom inszenierte. Der Aufstieg des italienischen Faschismus lehrt viel über allgemeine, auch in anderen historischen Kontexten zu beobachtende Dynamiken. Dabei ist es selbstverständlich wichtig, nicht zu abstrakt und beliebig zu werden. Die Kunst besteht also darin, keine zu restriktive Definition zu finden, die Faschismus exklusiv als spezifisch historisches Phänomen betrachtet.

Auch in konservativen Kreisen finden sich diese Narrative, die Faschismus spezifisch oder synonym mit dem Nationalsozialismus (NS) oder gar nur mit dem italienischen Faschismus sehen. Das ist ein Irrtum. Der einzigartige Zivilisationsbruch der Shoah und des Holocausts ist unvergleichlich. Der Aufstieg des Nationalsozialismus ist es nicht. Es ist auch kein historischer Zufall, dass es in Europa zu dieser Zeit viele autoritäre bis (proto)faschistische Versuche gab, von Rumänien bis England und von Schweden bis Italien. Nicht überall kamen sie an die Macht und nicht überall hatten sie an der Macht große staatliche Ressourcen. Dazu kamen nationale Spezifika wie der rabiate, jahrhundertelang tradierte und institutionell geförderte Antisemitismus.

 

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Faschismus ist also, auch historisch betrachtet, ein Phänomen, das zu einem spezifischen historischen Moment hegemonial beziehungsweise einflussreich wird und kein Spezifikum einer nationalen Geschichte. Seine Ausgestaltung ist es jedoch. Faschismus ist eine autoritäre Krisenbearbeitungsstrategie, sein Ordnungsversprechen wird in Krisenzeiten wirksam. Aber was ist Faschismus eigentlich? Darüber zerbrechen sich seit 100 Jahren viele kluge Geister den Kopf. Ich halte es nicht für sinnvoll, hier die gesamte Geschichte der Faschismustheorie aufzurollen. Zwei Definitionen möchte ich aber als Ausgangspunkt für gegenwärtige Betrachtungen heranziehen. Zum einen die bekannte Kurzformel von Roger Griffin von Faschismus als »palingenetischen Ultranationalismus«. Diese kondensierte Sicht auf die faschistische Ideologie macht deutlich, worin der entscheidende Unterschied zu konservativer Ideologie besteht. Palingenese meint die Idee der Wiederauferstehung beziehungsweise Wiedergeburt eines »Volkes«, einer »Nation«, einer »Kultur«. Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und so weiter finden sich auch in anderen Ideologien. Der Unterschied besteht in der zentralen Position der Palingenese für den Faschismus, wohingegen der traditionelle Konservatismus in der Reaktion verharrt – und damit historisch auch mit monarchistischen Bestrebungen kompatibel ist. Diese Definition erlaubt einen engen und spezifischen Blick auf eine eigenständige faschistische Ideologie, die sonst diffus bleibt.

Der Ultranationalismus ist ebenfalls spezifisch, weil er verdeutlicht, dass Volk und Nation im Mittelpunkt faschistischen Denkens stehen (und nicht etwa Monarchie, Religion oder Dynastie wie in reaktionären Ideologien). Das große Aber ist allerdings, dass die Abgrenzungen in der Praxis nie so klar sind. Zum einen, weil faschistische Parteien und Bewegungen ein Amalgam aus vielen Gruppen waren. Zum anderen, weil die konkrete faschistische Herrschaft nicht aus reiner Ideologie, sondern manchmal aus Machterhalt oder pragmatischen Überlegungen heraus gehandelt hat. Und dann gibt es auch jene historischen Phänomene, die von den faschistischen Idealtypen Italien und Deutschland abweichen wie etwa der Austrofaschismus mit seinen ständischen Ordnungsidealen. Ist das noch radikaler Konservatismus oder schon Faschismus? Eine scharfe Abgrenzung zwischen Konservatismus und Faschismus ist ideologisch und phänomenologisch nicht möglich. Denn in Krisenzeiten formieren sich auch im Konservatismus Kräfte, die nicht mehr bewahren, sondern die Gegenwart überwinden wollen. Das ist eine Faschisierung des Konservatismus, ein radikalisierter Konservatismus, der auch gegenwärtig zu beobachten ist, etwa bei den Republikaner*innen in den USA, aber vor allem in Ungarn bei Viktor Orbán und der FIDESZ. Trotzdem sollte der palingenetische Ultranationalismus für die Beurteilung faschistischer Ideologie eine wichtige Richtschnur sein.

Faschismus als politisches Verhalten
Die zweite Definition, die ich nur zur Diskussion stellen möchte, ist jene von Robert Paxton aus »Anatomie des Faschismus«: »Fascism may be defined as a form of political behavior marked by obsessive preoccupation with community decline, humiliation, or victim-hood and by compensatory cults of unity, energy, and purity, in which a mass-based party of committed nationalist militants, working in uneasy but effective collaboration with traditional elites, abandons democratic liberties and pursues with redemptive violence and without ethical or legal restraints goals of internal cleansing and external expansion.«

Das Spannende bei Paxton ist, dass er Faschismus nicht als Ideologie, sondern als politisches Verhalten kategorisiert und viele wichtige Punkte wie Dekadenz, Reinheit und die Massenbasis anspricht. Sein wichtigster Punkt ist meines Erachtens die Feststellung, Faschismus sei erlösende Gewalt ohne ethische oder rechtliche Begrenzung. Gewalt ist ein Wert an sich im Faschismus. Das ist ein Unterschied zu anderen politischen Ideologien, die Gewalt rationalisieren und beschönigen, sie gesellschaftlich ritualisieren und mit strengen Codes belegen. Hannah Arendts »Mob« ist der Akteur dieser unbändigen Gewalt. Diese Definitionen erfassen den volatilen, spontanen und rauschhaften Charakter faschistischer Praxis, der im Kontrast, aber nicht im Widerspruch zu den religiös-steifen Ritualen faschistischer Herrschaft oder seinem Totenkult steht.

Faschismus ist ein Phänomen, das als Reaktion auf eine krisenhafte und als dekadent empfundene Gegenwart entsteht und ein autoritäres Ordnungsversprechen mit unbändiger Gewalt durchsetzt, um so eine ideelle Wiedergeburt von Volk, Nation oder Kultur voranzutreiben. Um so eine neue »reine« Gemeinschaft zu erschaffen, müssen jene ausgeschlossen werden, die als Verursacher*innen der Dekadenz und als Störelemente einer neu herzustellenden Ordnung identifiziert werden.

Faschismus ist also vieles: eine Ideologie, eine Herrschaftsform, eine Bewegungsform. Entgegen der eigenen Intuition ist er dabei aber wandlungs- und anpassungsfähig, sowohl was nationale Spezifika, materielle und historische Umstände sowie zeitgenössische »Moden« angeht. Es ist mir wichtig, die Volatilität und die Dynamik des Faschismus zu beschreiben, ohne dabei in Beliebigkeit zu verfallen. Nicht alles, was man nicht mag, ist Faschismus. Nicht jeder Antisemit und Rassist ist gleichzeitig Faschist. Faschismus ist nicht der sprachliche Maximalismus für alles, was doof ist. Das öffnet der gezielten Verwischungstaktik Tür und Tor. Dann ist jedes autoritäre Projekt oder jede Form der politischen Gewaltanwendung gleich faschistisch, so wie es dieser Meinungsforscher (aus Ignoranz, Geltungsdrang oder Kalkül) in der Talkshow behauptet hat.

Das klassenübergreifende Projekt
Faschismus ist aber nicht nur politischer Nihilismus, sondern hat spezifische definitorische Elemente, die nicht wegdiskutierbar sind. Die wichtigsten Richtschnüre sind hier meines Erachtens die Palingenese und die Gewalt um der Gewalt Willen, wie oben ausgeführt. Über vieles ließe sich noch diskutieren, etwa die soziale Basis des Faschismus. Die soziale Genese des Faschismus liegt im Kleinbürger*innentum und in der Beamt*innenschaft. Ohne die Allianz mit Teilen des Großbürger*innentums und (ehemaligen) Teilen der bewaffneten Verbände wäre ein Aufstieg unmöglich. Die Massenbasis erreicht Faschismus aber erst, wenn er Teile der arbeitenden Klassen für sich gewinnt. Faschismus ist an seinem Höhepunkt also ein klassenübergreifendes Projekt mit (teilweisen) Zugeständnissen an alle Klassen, ohne die bestehende Klassenhierarchie und Besitzverhältnisse zu stören. Daher ist Faschismus auch keine Form des Sozialismus, wie Liberale und Rechte gerne behaupten. Die rassistischen, sozialen und antisemitischen Ausschlüsse gelten selbstverständlich auch innerhalb der jeweiligen Klassen. So etwa bei der Unterscheidung zwischen »schaffendem« (= nationalem) versus »raffendem« (= jüdischem) Kapital. Es ist also gar nicht so leicht, Faschismus so zu begreifen, dass er weder zu restriktiv noch zu weit gefasst wird. Umso wichtiger ist es, sich dem Phänomen gerade im Jahr 2023 anzunähern und es zu fassen zu bekommen.

 

 

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