Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Fotografie als historische Quelle ernst nehmen, steigern die Ansprüche an das Wissen über die einzelne Bildvorlage. Es geht nicht mehr nur um das abgebildete Objekt oder Geschehen, sondern zunehmend rücken der Entstehungshintergrund und die mögliche Rezeption einer Fotografie ins Zentrum des Interesses.
Fotografien sind faszinierende Quellen, sie können uns einen Eindruck von materiellen Dingen, aber auch Ereignissen vermitteln, wie dies kein Text vermag. Fotografien wirken auf die Betrachtenden in vielschichtiger Weise, sie wirken emotional, und sie verführen allzu leicht, das Abgebildete als wahr und authentisch zu betrachten – schließlich war die fotografierende Person anwesend, also Augenzeuge des auf dem Foto Gezeigten. Fotografien halten einen äußert kurzen Augenblick, einen kleinen Ausschnitt des Geschehenen und des vom Fotografen bzw. der Fotografin Gesehenen für die Nachwelt fest. Dieser kurze mehr oder minder zufällig festgehaltene Moment und Ausschnitt kann nun immer wieder betrachtet sowie verglichen werden und bekommt so eine ungeahnte Bedeutung. Fotografien benötigen häufig begleitende Texte, die uns erst den Zugang zum Bildinhalt ermöglichen. Doch auch diese Texte sind oft problematisch, sie bedürfen einer quellenkritischen Betrachtung wie die Bilder selbst. Fotografien zu betrachten ist zudem ein komplexer Vorgang, bei dem wir zugleich die Bildvorlage und deren Bildinhalt wahrnehmen.
In Zeiten, in denen von der Wissenschaft eine stärkere Kontextualisierung der Bilder eingefordert wird, müssen nicht nur die Auswahlkriterien für die Digitalisierung kritisch reflektiert werden, sondern auch die Modalitäten der Bereitstellung von Bildern im Netz. Wissenschaftliche Bildarchive müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, wie die Informationen, die ein herkömmlicher Archivbesuch bietet (Originale mit Beschriftungen und ursprünglichen Hüllen, fachliche Beratung, Verweise auf weitere Bestände), im Onlinearchiv kompensiert bzw. zu neuen Informationsangeboten ausgebaut werden können.
Viele Fragen mussten in den Archiven geklärt werden bzw. sind einem laufenden Klärungsprozess unterworfen: In welcher Qualität wird digitalisiert? Welche Bestände werden digitalisiert? Wird die Sicherheitsverfilmung mit analogem Fotomaterial weitergeführt? Wie gehen wir mit digital entstandenen Fotografien um? Wie sieht die Langzeitarchivierung in Zukunft aus? Wie soll sich die Bilddatenbank entwickeln?
Seit der Onlineschaltung des Bildkatalogs im Jahr 2005 sind die schriftlichen Anfragen an das Herder-Institut rapide angestiegen, während die Nutzungszahlen im Archiv selbst leicht zurückgehen. Diese Entwicklung sehe ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Selbstverständlich ist es sehr erfreulich, dass unsere Sammlungen von mehr Menschen wahrgenommen werden, gleichzeitig ist das eigene Wissen über die Bestände nicht mehr so gefragt – im Zeitalter des „visual turn“ eine vielleicht bedenkliche Entwicklung.
Institution: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft (Projekt: „Visual History. Institutionen und Medien des Bildgedächtnisses“)
Thema: Das historische Bildarchiv im digitalen Zeitalter: Überlieferung, Sammlung und digitale Re-Kontextualisierung
Betreuer: Prof. Dr. Peter Haslinger
Laufzeit: 2012-2015