Germanen willkommen! Von Barbaren und dem Mittelalter

 

Germanen oder die Beschäftigung mit ihnen ist nichts, was man unmittelbar mit zeitgenössischen Anforderungen an Lehre in Verbindung bringt. Im Gegenteil scheint der Weg in unaufgeklärte Mythenbildung, okkulten Romantizismus und Antimodernismus vorprogrammiert. Zeit für einen Epochenwandel. 

 

Alltagspräsenz und Unterrichtsabwesenheit

Irgendwie scheinen sie unsterblich zu sein, diese Germanen. Kaum ein Jahr vergeht, ohne dass sie nicht den Titel einer Zeitschrift zieren. Ein eigenartiger Kult scheint zu bestehen um die über 2000 Jahre alte Hermanns- oder Varus-Schlacht – man begeht Jubiläen und sucht noch immer das Schlachtfeld. Eine Art trotziger Stellungnahme gegen die Moderne scheint auch hinter den von Jugendlichen immer wieder getragenen (pseudo-)germanischen Schmuckstücken zu stecken, deren Träger keinesfalls auf einen rechtsradikalen Kreis einzugrenzen sind. Nur an einer Stelle sind die Germanen auf dem Rückzug: In den Schulbüchern finden sich nicht mehr die detaillierten Karten mit schwierig auszusprechenden Stammesnamen; es bleiben Randnotizen, die das früher so dramatisierte “Ende Roms” nur antippen. Die Plünderung Roms im Jahre 410 ist ebensowenig Thema wie Alarich, Odoaker und Totila. Auch die Rezeptionsgeschichte bleibt blass: Platens “Grab im Busento” rezitiert niemand mehr, und wo ist noch der Sagenkreis um Dietrich von Bern präsent? Über das Germanenbild der Nationalsozialisten erfährt man auch nichts Genaues – aber die Germanen werden schon düster und unmenschlich gewesen sein, wenn die Nazis sie mochten.,1 Eigenartig undifferenziert bleiben unsere anscheinend unausrottbaren Vorstellungen von geistig wenig beweglichen, Lendenschurz tragenden Biertrinkern mit Hang zu Brutalität und obskuren Ritualen.

Perspektivenwandel der Forschung

Ja, geraten sie denn nicht zu Recht in Vergessenheit? Warum einem historischen Intermezzo hinterher jagen, das zwar im Mittelalter Spuren hinterlassen hat, heute aber exotisch scheint? Das Thema “Germanen” zu ignorieren wäre natürlich der bequeme Ausweg, durch den die Tendenz befördert würde, “Geschichte” auf Sachverhalte zu reduzieren, die ohne großen Denkaufwand dem Menschen der Moderne einleuchten. Zudem wäre es verschenktes Lernpotential, denn mit ein wenig Mühe lässt sich gerade hier eine Vielzahl von Beobachtungen machen, die wesentliche historische Zusammenhänge verdeutlichen. Dazu ist ein Blick auf die Forschungslage hilfreich – das mag im vorliegenden Fall noch ein wenig beschwerlicher sein als sonst. Viele alte Gewissheiten sind ins Wanken geraten. War man sich früher noch sicher, dass man mit den Germanen einen einheitlichen, schriftlich wie archäologisch sicher fassbaren Gegenstand vor sich hatte, so streitet die Forschung heute schlichtweg ab, dass es ein Volk der Germanen gab.2 Dementsprechend fordert man jüngst gar einen Verzicht auf den Begriff “germanisch” außerhalb der Sprachwissenschaft. Die von uns so genannte Sprachwurzel bestand zwar, aber soziale, politische oder gar “ethnische” Zusammenhänge lassen sich daraus nicht ableiten.3

Ein geändertes Narrativ

Was es gab, waren verschiedene Siedlungsgemeinschaften nordöstlich der Grenzen des römischen Imperiums, die von den Römern pauschal die Bezeichnung “Germanen” erhielten. Die unbeständige Entwicklung des Imperiums in der Kaiserzeit führte nun zu einer äußerst wechselhaften Politik gegenüber diesen zugleich als kulturlose “Barbaren” diffamierten Anwohnern: Bei Bedarf importierte und integrierte man Fachkräfte (ins Militär), ansonsten grenzte man aus oder betrieb Politik im Umfeld, sei es durch die Förderung genehmer Parteiungen oder aber durch direkte “friedensstiftende” Intervention. So erzählt sind die Parallelen zu politischen Konstellationen anderer Zeiten sehr deutlich. Auf die Dauer führte dieses römische Verhalten zu verstärkter Migration und Konfliktbereitschaft, die durch weiter entfernte, sich aber rasant nähernde Konflikte noch zunahm. Die einsetzende “Völkerwanderung” mit ihren Konflikten um Ressourcen machte die Siedlungsgruppen zu Wanderungsgemeinschaften und formte so erst die “ethnischen” Einheiten, als die sie die Römer (aus mangelndem Interesse) immer schon betrachtet hatten. Als “selbsterfüllende Prophezeiung” wird die Geschichte der Zeitenwende so zu einer Parabel für die Macht des Wortes und der Vorstellungen, zugleich aber auch zu einem Lehrstück in Sachen Wahrnehmung des Fremden, Migration und Integration.

Volk, “Rasse”, Mythos

Zugegeben: Auch diese Perspektive beruht auf Forschung, deren Sichtweise zeitgebunden ist, und dies in einem Maße, dass die Parallelen zur Gegenwart mit Händen zu greifen sind. Gerade in diesem Überschwang aber bietet sich eine weitere Möglichkeit der Reflexion, nämlich hinsichtlich der Perspektivgebundenheit historischer Betrachtung. Auch das “Germanenbild” kann dazu dienen, das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu verdeutlichen.4 Auch SchülerInnen sollten begreifen, warum “die Germanen” dem romantischen, nach nationaler Selbstbestimmung strebendem Deutschland als “Volk” galten, den Nationalsozialisten für ihre “Volksgemeinschaft” hingegen als “Rasse”5 – und warum wir heute deutlich andere Perspektiven einnehmen.

Germanen und Mittelalter

Bekanntlich, dies zum Schluss, läutete ja der “Germanensturm” die düstere Epoche des Mittelalters ein, das sich gemäß einer alten Formel als Mischung von germanischen und römischen Elementen unter christlichen Vorzeichen verstehen lässt. Unter solchen Voraussetzungen entstand das Mittelalter nicht schlagartig als dunkle Zeit, sondern als Epoche von Krisen, bestimmt durch permanente und kontingente Veränderungen, was pragmatische Lösungen für aktuelle Probleme erforderte und wenig Raum ließ für längerfristige Orientierungen. In diesem Sinne rückt es uns wieder näher, dieses Mittelalter. Und vielleicht kommt so doch einmal eine Diskussion in fachdidaktischer Hinsicht zustande, und in der Folge dann auch wieder einmal das eine oder andere Element in den Lehrplan. Also: Germanen willkommen – dann klappt’s auch mit dem Mittelalter.

 

 

Literatur 

  • Geary, Patrick J.: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2002.
  • Jarnut, Jörg: Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung. In: Pohl, Walter (Hrsg.): Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, Wien 2004, S. 107-113.
  • Pohl, Walter: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration. 2. Aufl., Stuttgart u.a. 2005.

Externe Links

 


Abbildungsnachweis
Ausschnitt aus Friedrich Tüshaus: Die Schlacht zwischen Germanen und Römern am Rhein (1876). Quelle: Wikimedia Commons.

Empfohlene Zitierweise
Lubich, Gerhard: Germanen willkommen! Von Barbaren und dem Mittelalter. In: Public History Weekly 2 (2014) 18, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1809.

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Subjektorientierung. Können Lernende selbstständig historisch denken?

 

Betrachtet man die Lehrpläne oder auch die dafür entwickelten Schulbücher für den Geschichtsunterricht, so gewinnt man schnell den Eindruck, dass in schulischen Lernprozessen die thematischen Zuschnitte sowie die fachspezifischen Methoden den Kern des historischen Lernens ausmachen würden. Es verwundert dabei nicht sonderlich, dass auch die wenigen pragmatisch gehaltenen Publikationen der GeschichtsdidaktikerInnen ein besonderes Augenmerk auf die Ausgestaltung der Quellenarbeit oder das Hinterfragen von Geschichte legen. Was dabei meist nur implizit mitgedacht wird, sind das fachspezifische Vorwissen und die eingefahrenen Denkakte der Lernenden selbst.

 

 

Wen interessiert das Vorwissen der SchülerInnen?

Wie werden bei der Unterrichtsplanung die Kinder und Jugendlichen als Individuen mitgedacht, die sich mit diesen Anregungen und Materialien beschäftigen? Sind die Probleme der kritischen Aneignung von historischen Inhalten, der Gang durch vorkonzipierte Lernwege ohne Umwege und ohne einen subjektorientierten Zugang meisterbar? Wie kann man Vorwissen für das historische Lernen sinnvoll aktivieren? Es hat nahezu den Anschein, dass das Vorverständnis, die Weltinterpretation, die (Vor-)Konzepte der einzelnen SchülerInnen, die sie sich über Jahre hinweg – meist ohne fremde Hilfe – aufgebaut haben, unbeachtet bleiben und statt dessen neue, unbekannte Konzepte und Denkwege im Unterricht seitens der Lehrperson gesetzt werden.

Chance für Conceptual-Change-Forschung

Wohlkonzipierte Schulbücher, beratende Handbücher und grundlegende Lehrbücher übergehen in der Regel ebenfalls diesen subjektiven Aspekt, der in der Auseinandersetzung mit historischem Lernen als Ausgangspunkt so zentral erscheint. Ein Anknüpfen an bestehende Wissens- und Vorstellungsstrukturen, um diese zu reflektieren, zu bestärken, zu verändern oder zu erweitern, erscheint aber als unerlässlich. Conceptual-Change-Forschung sollte deshalb nicht nur wissenschaftlich beobachten, sondern der Intention nach auch als Aktionsforschung im konkreten Geschichtsunterricht zur Anwendung kommen, so wie es Monika Fenn in ihrem Beitrag jüngst angeregt hat. Davon würden nicht nur die Lernenden profitieren; auch die Lehrperson würde über ein verstärktes Aufgreifen individueller Momente im Sinn einer fachspezifischen Diagnostik evidenzbasierte Hinweise für die Ausgestaltung des Geschichtsunterrichts erhalten.1

Subjekte historischen Denkens nicht übergehen

Eine subjektorientierte Geschichtsdidaktik versucht daher derartige Momente des historischen Lernens zu fokussieren. Sie will die einzelnen SchülerInnen als denkende Subjekte in geschichtsdidaktischen Konzeptionen und im konkreten Unterricht verstärkt wahrnehmen und die im Subjekt angelegten Voraussetzungen nicht unterdrücken. Vorstellungen, Vorerfahrungen, Gefühle, Interessen, gesellschaftliche Prägungen etc. dienen dabei als echte Anknüpfungspunkte für historische Lernprozesse, anstatt als subjektive Prägungen des historischen Denkens übergangen oder ignoriert zu werden. Persönliche, also biografische und identitätskonkrete, sowie lebensweltliche Bedeutsamkeiten werden demnach als initiierende Momente und motivationale Beförderer eines eigenständigen historischen Denkens gelesen und genutzt. Differenz und Heterogenität werden dabei als konstituierende Merkmale der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Geschichte zugelassen, aber auch hinsichtlich der individuellen Lernvoraussetzungen verarbeitet. Inklusion und Individualisierung können auf diese Weise in heterogenen Lernsettings produktiv verarbeitet werden, das Subjekt mit seinen Voraussetzungen stets berücksichtigend.2

Mehr Konsequenz

Aus meiner Sicht lässt sich dies oftmals relativ einfach bewerkstelligen, da sich Facetten einer fachspezifisch gewendeten Subjektorientierung in vielen Ansätzen der im deutschsprachigen Raum vertretenen Geschichtsdidaktik wiederfinden. Es gilt deshalb vorrangig darum, die lernerseitige Perspektive öfter in den Vordergrund zu rücken, um das Verhältnis von Objekt und Subjekt in Lernprozessen und in der wissenschaftlichen Beschäftigung nicht einseitig zu bedienen. Es liegt an den VertreterInnen der unterschiedlichen geschichtsdidaktischen “Schulen”, dies zu leisten!

 

 

Literatur

  • Ammerer, Heinrich u.a. (Hrsg.): Subjektorientierte Geschichtsdidaktik, Schwalbach/ Ts. 2014 (in Druckvorbereitung).
  • Hellmuth, Thomas / Christoph Kühberger (Hrsg.): Geschichtsdidaktik aus subjektorientierter Perspektive (= Historische Sozialkunde 42, 2/2012), Wien 2013.
  • Holzkamp, Klaus: Lernen, Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt/Main 1995.

Externe Links

 


Abbildungsnachweis
© Silke Kaiser: Ich spiegel mich / Pixelio.de

Empfohlene Zitierweise
Kühberger, Christoph: Subjektorientierung: Can subaltern pupil think historically? In: Public History Weekly 2 (2014) 16, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1823.

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