Von den Mühen der Regionalisierung

 

Das Bildungswesen ist bekanntlich eine beliebte Spielwiese der Politik. “Bologna” und “G 8″ lauten die Chiffren für die beiden jüngsten großen Reformvorhaben; selten, vielleicht überhaupt noch nie in der deutschen Bildungsgeschichte sind derart ambitionierte und tiefgreifende Veränderungen so unvorbereitet und dilettantisch angegangen worden. Eine deutsche Spezialität stellt die Kultushoheit der Bundesländer dar. Sie hat im Laufe der Zeit dazu geführt, dass sich in Deutschland höchst unterschiedliche Schulsysteme entwickelt haben.

 

 

Regionalisierung im Schulbuch

Aber nicht nur die Strukturen, auch die inhaltlichen Vorgaben für den Unterricht unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland erheblich. Geschichte zählt zu jenen Fächern, in denen die Abweichungen zwischen den jeweiligen Curricula besonders gravierend sind. Schon seit den achtziger Jahren können deshalb die Schulbuchverlage nicht mehr in ganz Deutschland ein und dasselbe Buch verkaufen. Sie müssen „regionalisieren“, also spezielle Ausgaben für die einzelnen Bundesländer anbieten.1 Das ist nicht nur konzeptionell aufwändig, sondern auch ökonomisch schwierig, weil mit kleineren Auflagen kalkuliert werden muss. Eine Folge davon ist, dass für Bundesländer wie das Saarland oder Mecklenburg-Vorpommern kaum noch spezielle Bücher angeboten werden. Gewiss gibt es inhaltliche Unterschiede, die sinnvoll und nachvollziehbar sind, nämlich dann, wenn es tatsächlich um regionale Aspekte von Geschichte geht: Die “Römer am Rhein” sind für Rheinland-Pfalz bedeutsamer als für Brandenburg, umgekehrt steht es mit der slawischen Siedlungsgeschichte. Beim Thema Industrialisierung liegt in Nordrhein-Westfalen das Beispiel Krupp nahe, in Berlin eher Borsig. Davon abgesehen gibt es aber eine Vielzahl von unterschiedlichen Akzentuierungen, die eher beliebig anmuten und im Einzelfall vielleicht besonderen Interessen und Neigungen innerhalb von Lehrplankommissionen geschuldet sind.

Nützliche Standardisierung?

Neben die divergierenden inhaltlichen Vorgaben sind in jüngerer Zeit noch andere Abweichungen getreten. Alle neuen Curricula verstehen sich als kompetenzorientiert. Sie weisen Kompetenzmodelle mit einzelnen Kompetenzbereichen aus, wobei sie sich mal mehr, mal weniger auf geschichtsdidaktische Vorarbeiten beziehen. Ein zweiter Punkt sind die Operatoren. Ausgehend von den durch die KMK definierten EPA2 enthalten die meisten neueren Curricula auch für die Sekundarstufe I Listen von Operatoren, die den Lehrkräften zur Orientierung dienen sollen – und natürlich zugleich eine Vorgabe für die Verlage darstellen.3 Beides, Kompetenzorientierung und Operatorenvorgaben, ist prinzipiell eigentlich eine positive Entwicklung. Freilich fallen auch hier erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern ins Auge. Sie führen dazu, dass Verlage Regionalisierungen jetzt nicht nur in Bezug auf Inhalte, sondern auch auf die Bezeichnung von Kompetenzen und die Verwendung von Operatoren vornehmen müssen. So finden wir beispielsweise im aktuellen Curriculumentwurf für das Gymnasium in Baden-Württemberg die Kompetenzbereiche Fragekompetenz, Methodenkompetenz, Orientierungskompetenz, Reflexionskompetenz und Sachkompetenz aufgeführt.4 Im niedersächsischen Entwurf gibt es zunächst eine übergeordnete narrative Kompetenz, darunter dann die Bereiche Sachkompetenz, Methodenkompetenz und Urteilskompetenz, ergänzt durch Fachwissen.5 In Rheinland-Pfalz sind vorgesehen Fachkompetenz, Methodenkompetenz, Kommunikationskompetenz und Urteilskompetenz.6

Babylonische Verhältnisse

Am ehesten Übereinstimmung gibt es bei der Methodenkompetenz, bei der es in allen Fällen gewissermaßen klassisch um den adäquaten Umgang mit Quellen und Darstellungen geht. Ansonsten finden sich nicht nur unterschiedliche Benennungen, sondern auch abweichende Beschreibungen der einzelnen Bereiche.Was in Baden-Württemberg unter die Fragekompetenz gehört, würde in Rheinland-Pfalz wohl zur Methodenkompetenz zählen. Was in Niedersachsen und in Rheinland-Pfalz eher knapp unter der Urteilskompetenz angedeutet wird, entfaltet das baden-württembergische Curriculum breiter unter Orientierungskompetenz. Ähnlich steht es mit der baden-württembergischen Reflexionskompetenz. Keine Entsprechung in den anderen Ländern hat die Kommunikationskompetenz aus Rheinland-Pfalz. Ähnliche Verwerfungen gibt es bei den Operatoren. Ein Vergleich zwischen Baden-Württemberg und Niedersachsen zeigt, dass zum Teil ganz unterschiedliche Operatoren vorgesehen sind: “Bezeichnen”, “schildern”, “skizzieren”, “gliedern”, “wiedergeben”, “zusammenfassen”, “untersuchen”, “nachweisen”, “gegenüberstellen”, “in Beziehung setzen”, “widerlegen”, “diskutieren” und “interpretieren” gibt es nur in Niedersachsen, dafür bietet Baden-Württemberg “erstellen” und “gestalten” an. Einige Operatoren werden unterschiedlichen Anforderungsbereichen zugeordnet: “Herausarbeiten” und “charakterisieren” gehören in Baden-Württemberg in AFB I, in Niedersachsen in AFB II. “Darstellen” ist in Niedersachsen übergreifend von AFB I bis III gedacht, in Baden-Württemberg steht es in AFB II.

Bildungspluralismus als Herausforderung

Nun mag man – insbesondere im Hinblick auf die Kompetenzmodelle – einwenden, dass es ja schließlich auch die Geschichtsdidaktik nicht geschafft hat, sich auf ein einheitliches Konzept zu verständigen. Warum sollte man dies dann von den LehrplanmacherInnen erwarten und verlangen? Dieser Einwand ist sicherlich berechtigt. Allerdings haben Curricula eine unmittelbare Regelungswirksamkeit – oder sollen sie zumindest haben. Deshalb gilt es auch sehr sorgfältig darüber nachzudenken, wie verständlich, akzeptabel, orientierend und handlungsleitend sie für Lehrkräfte sein können – und vielleicht eben auch für SchulbuchmacherInnen, die Dienstleistungen für Lehrkräfte erbringen sollen. Weniger Varianzen zwischen den Bundesländern wären dabei hilfreich und könnten zu einer intensiveren Verständigung über Ländergrenzen hinweg (etwa auch im Bereich der Lehrerbildung) beitragen. Zugestanden: Eine genauere Abstimmung untereinander ist nicht leicht zu bewerkstelligen – ein erster Schritt immerhin wäre eine systematische wechselseitige Kenntnisnahme, die im Moment noch gar nicht stattzufinden scheint.

 


Literatur

  • Bredol, Martin: Regionalisierung – Zauberformel oder Fluch? Die Entwicklung von Geschichtslehrwerken aus der Sicht eines Schulbuchverlages. In: Geschichte lernen H. 28 (1992), S. 4–7.
  • Landesinstitut für Schulentwicklung Baden-Württemberg: Geschichte Orientierungsstufe, Arbeitsfassung zur Erprobung, Stuttgart 2013 (online, zuletzt am 28.4.2014).

Externe Links

 



Abbildungsnachweis
© Marco Zerwas
Empfohlene Zitierweise
Sauer, Michael: Von den Mühen der Regionalisierung. In: Public History Weekly 2 (2014) 18, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1990.
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