“Sinnbildung über Zeiterfahrung” – eine Leerformel?

 

“Auch in der Geschichtsdidaktik gibt es Formeln, die immer wiederholt werden – Topoi des didaktischen Denkens. Sie finden sich in Aufsätzen akademischer Didaktiker und in Lehrplänen der Bildungsverwaltungen ebenso wie in Arbeiten von Studierenden und in Unterrichtsentwürfen.” So beginnt ein Eintrag vom Oktober 2009 auf der Website von Andreas Körber.1 Zu den angesprochenen Formeln oder Topoi zählt gewiss Jörn Rüsens Wendung von der “Sinnbildung über Zeiterfahrung”. Sie wird – über die eigene Lektüre hinaus vermittelt Google davon einen schnellen Eindruck – an allen möglichen Orten und in allen möglichen Kontexten aufgegriffen, zumeist ohne Nachweis und ohne genauere argumentative Einbettung.

 

Was heißt “Sinnbildung über Zeiterfahrung”?

Wie wird eine Leserin (oder Leser) diese Formel wahrnehmen, die ihr zuvor noch nicht begegnet ist? Sie wird vielleicht darüber nachdenken, dass die deutsche Sprache die schöne, aber auch gefährliche Eigenart besitzt, vielfältige Zusammensetzungen von Substantiven zu erlauben. Üblicherweise bestehen diese Substantivkomposita aus einem Grund- und einem Bestimmungswort. Das Grundwort steht hinten, es legt in der Regel den Sinn des Kompositums fest und steuert den grammatischen Kontext. Grundwort von “Sinnbildung” ist “Bildung”. Es bestimmt den Bezug zum nachfolgenden “über Zeiterfahrung”: also “Bildung über Zeiterfahrung”. Nein, das kann nicht gemeint sein, so lässt sich das Kompositum nicht auflösen. Gemeint ist vielmehr “Bildung von Sinn über Zeiterfahrung”. Allerdings kann man das eigentlich nicht in der Kurzform des Kompositums ausdrücken, weil es nicht den genannten Regeln entspricht. Das irritiert unseren vorgestellten Leser (oder Leserin).

Sinn, Erfahrung, Zeit

Was wird er weiter denken? Was heißt eigentlich “über Zeiterfahrung”? Es gibt den “Sinn von”, aber gibt es “Sinn über”?2 Was soll die Präposition bedeuten? Ist vielleicht gemeint “Sinn in Bezug auf” oder “Sinn mithilfe von”? Das wäre nicht unbedingt dasselbe. “Sinn mithilfe von Zeiterfahrung” würde wohl heißen, dass es sich um die persönliche Zeiterfahrung desjenigen handeln muss, der sich dann “darüber” seinen Sinn bildet. Bei der Variante “Sinn in Bezug auf Zeiterfahrung” könnte vielleicht auch “Zeiterfahrung” anderer Menschen gemeint sein. Aber was heißt denn überhaupt “Zeiterfahrung”? Ist es ganz allgemein die Wahrnehmung von Zeitabläufen? Die Unterscheidung verschiedener Zeitebenen? Oder geht es um Erfahrungen, die irgendjemand in der Zeit, also in zeitlichen Abläufen, die in der Vergangenheit liegen, gemacht hat? Erfahrungen brauchen allerdings immer ein Subjekt, das sie macht. Also noch einmal die Frage: Wessen Erfahrung ist gemeint – die eigene oder (auch) die anderer Menschen? Und wer sind gegebenenfalls diese anderen: Zeitgenossen oder auch Menschen aus früheren Zeiten? Wie können wir überhaupt etwas über die Erfahrung anderer wissen? Sie müsste ja in irgendeiner Form überliefert sein, und mit dieser Überlieferung müsste man sich in spezifischer Weise beschäftigen.

Was es heißt, bleibt unklar

Hier hilft unserer vorgestellten Leserin (oder Leser) die Formel nicht weiter, sie muss einen Blick auf den Kontext werfen. Sie liest also beispielsweise: “Was heißt Erzählen als Fundamentaloperation des Geschichtsbewusstseins? Gemeint ist etwas sehr Elementares und Grundsätzliches: ein sinnbildender Umgang mit der Erfahrung von Zeit, der notwendig ist, um die Zeitlichkeit des eigenen Lebens deutend verarbeiten und handelnd bewältigen zu können. Erzählen ist Sinnbildung über Zeiterfahrung, es macht aus Zeit Sinn.”3 Aha, es geht also um die “Zeitlichkeit des eigenen Lebens”. Doch nein, das ist gewissermaßen nur die Anwendungsebene. Zuvor ist ganz allgemein die Rede von “der Erfahrung von Zeit”. Das hilft nicht weiter, denn es stellen sich erneut die eben schon aufgeworfenen Fragen nach der Art dieser Erfahrung, nach ihrem Subjekt und den Quellen unserer Kenntnis über sie. Welche Tätigkeit nun eigentlich hinter der Formulierung “sinnbildender Umgang mit der Erfahrung von Zeit” steckt, bleibt unklar.

Nur eine formelhafte Chiffre?

Es gibt also eine ganze Menge Fragen, die sich aus der Formel von der Sinnbildung ergeben können. Ob alle, die sie verwenden, diese für sich bedacht und beantwortet haben? Wohl eher nicht. Die Formel fungiert gewissermaßen als Chiffre dafür, dass man im didaktischen Diskurs steht und eine irgendwie moderne, kulturwissenschaftlich und erzähltheoretisch fundierte Auffassung von Geschichtsbewusstsein hat. Eigentlich weiß doch ohnehin jeder, was gemeint ist – Nachfragen und Erläuterungen erübrigen sich. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es steht außer Zweifel, dass Rüsen unser geschichtsdidaktisches Denken auf vielfältige Weise befruchtet hat. Aber muss es immerzu diese Formel sein? Ist sie nicht, isoliert verwendet, wahlweise banal oder unverständlich, eigentlich eine Leerformel? Freilich: Vielleicht macht gerade diese gewisse Unbestimmtheit und Dunkelheit den Charme und die Beliebtheit – sozusagen die “Formelfähigkeit” – einer solchen “narrativen Abbreviatur” (Rüsen)4 aus.

 

 

Literatur

  • Rüsen, Jörn: Historische Orientierung. Über die Art des Geschichtsbewusstseins, sich in der Zeit zurechtzufinden, Köln 1994.
  • ders.: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983.
  • Pandel, Hans-Jürgen: Geschichtsbewusstsein. In: Ulrich Mayer u.a. (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts., 1. Aufl. 2006, 2. Aufl. 2009, S. 69f.

Externe Links


Abbildungsnachweis
© Karin Jung: Wie schnell doch die Zeit vergeht / Pixelio.de

Empfohlene Zitierweise
Sauer, Michael: “Sinnbildung über Zeiterfahrung”. In: Public History Weekly 2 (2014) 4, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1203.

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