Abschied vom Geschichtsbewusstsein?

 

In der Geschichtsdidaktik gibt es offenbar wieder ein verstärktes Interesse an Fragen der Theorie. Das zeigt nicht nur die Gründung eines neuen Arbeitskreises in der Konferenz für Geschichtsdidaktik, das zeigen vor allem auch die Publikationen, die in den vergangenen Wochen und Monaten in diesem Blog-Journal erschienen sind. Christian Heuer fordert in einem provokativen und zugleich äußerst anregenden Beitrag, tradierte Begriffe und Konzepte infrage zu stellen. Diese Forderung beziehen einige Geschichtsdidaktiker offenbar auch auf die Zentralkategorie Geschichtsbewusstsein. Steht sie damit grundsätzlich zur Disposition?

 

„Was ist denn Geschichtsbewusstsein?“

Wirft man einen Blick auf die Argumente der Kritiker, dann gibt es scheinbar drei Gründe, die die Kategorie des Geschichtsbewusstseins in Misskredit bringen. Das erste Argument ist ein pragmatisches. „Was ist denn“, so fragt Christoph Pallaske hier in diesem BlogJournal „– kurz und knapp auf den Punkt gebracht – Geschichtsbewusstsein?“ Einerseits sind diese Frage und der mit ihr verbundene Wunsch nach praxisrelevanten „verbindlichen Antworten“ nachvollziehbar. Andererseits lebt Wissenschaft nun einmal von Kontroversen, nicht von endgültigen Antworten. Und zentrale Kategorien lassen sich wohl auch deshalb nicht kurz und knapp auf den Punkt bringen, weil sie dazu einfach zu komplex sind. Unabhängig davon wäre es allerdings zielführend, wenn sich die Geschichtsdidaktik stärker um die Synthese unterschiedlicher Geschichtsbewusstseinstheorien bemühen würde. Zugleich gibt es einen Bedarf an weiterer Differenzierung und psychologischer bzw. neurowissenschaftlicher Fundierung. Und nicht zuletzt müsste die Geschichtsdidaktik über die Systematik ihres Kategoriengefüges insgesamt neu nachdenken.1 Das zweite Argument ist ein empirisches und trotz bemerkenswerter Fortschritte in den vergangenen Jahren nach wie vor relevant. Immer noch sind einschlägige Geschichtsbewusstseinstheorien nicht oder nur teilweise empirisch validiert; immer noch mangelt es an plausiblen Operationalisierungen; immer noch sind Studien zur Entwicklung und Graduierung von Geschichtsbewusstsein rar gesät bzw. in ihren Befunden widersprüchlich; immer noch wissen wir viel zu wenig darüber, wie Lehrerinnen und Lehrer reflektiertes Geschichtsbewusstsein erfolgreich fördern können. Für die geschichtsdidaktische Empirie bleibt also auch in Zukunft viel zu tun.2 Das dritte Argument schließlich betrifft die theoretischen Prämissen. Bärbel Völkel hat hier vor Kurzem die These aufgestellt, die Kategorie des Geschichtsbewusstseins (und im Zusammenhang damit die der Geschichtskultur) sei unzeitgemäß, denn sie bedeute „stets auch, ethnozentrisch zu denken“.

Eine nach wie vor aktuelle Kategorie

Dieses Argument mag diskursstrategisch effektiv sein, überzeugend ist es nicht. Jörn Rüsen, auf den Bärbel Völkel Bezug nimmt, hat sich in seiner Historik erneut für Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur als zentrale Kategorien der Geschichtsdidaktik ausgesprochen.3 Er sieht zwar das Problem des Ethnozentrismus, plädiert aber dafür, „an der Menschheitsdimension der Geschichtskultur [und damit zugleich des Geschichtsbewusstseins, H.T.] festzuhalten“ und auf diese Weise „die monozentrische Perspektivierung des ethnozentrischen Denkens“ aufzubrechen. Ganz ausdrücklich spricht Rüsen sogar vom „Polyzentrismus der einen Welt“.4 Und Karl-Ernst Jeismann, dessen Beiträge an Relevanz nichts verloren haben, aber zum Teil überraschenderweise nicht rezipiert werden,5 schrieb bereits 1988: „Geschichtsbewußtsein [...] macht die Kommunikation verschiedener Personen oder Gruppen, Völker oder Religionen möglich, ja, erforderlich und erweist sich […] als ein tendenziell ,weltbürgerliches‘ Bewußtsein“.6 Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob die Kategorie des Geschichtsbewusstseins nicht weitaus zeitgemäßer ist als ihre teilweise unzeitgemäße Rezeption.

Emanzipation als Alternative?

Unabhängig davon kann man natürlich über Alternativen nachdenken. Bärbel Völkel erinnert in diesem Zusammenhang an Annette Kuhns emanzipatorische Geschichtsdidaktik. Man muss die scharfsinnige Kritik, die die Protagonisten anderer Konzepte an Kuhns anspruchsvollem Ansatz geübt haben,7 nicht unbedingt teilen. Man kann aber die Frage stellen, ob es sich bei der Emanzipations-Kategorie um eine echte Alternative handelt. Zum einen hat Peter Schulz-Hageleit bereits vor 15 Jahren den Vorschlag gemacht, das Verhältnis zwischen Geschichtsbewusstsein und Emanzipation nicht als Gegensatz zu beschreiben, sondern komplementär zu fassen.8 Wäre es im Anschluss an diese Überlegung nicht naheliegend, Emanzipation – verstanden als eine Form kritischer Sinnbildung – als einen bestimmten Modus historischen Denkens in Rüsens und Jeismanns Konzept des Geschichtsbewusstseins zu integrieren? Zum anderen sollte man darüber nachdenken, ob es disziplinpolitisch überzeugend ist, Geschichtsbewusstsein als Zentralkategorie der Geschichtsdidaktik nicht nur zur Diskussion (das ist zweifelsohne sinnvoll, dazu regen Christian Heuer und andere zu Recht an), sondern grundsätzlich zur Disposition zu stellen. Denn immerhin hat die Kategorie Geschichtsbewusstsein nicht nur den entscheidenden Vorteil, dass sie fachspezifisch ist,9 sie ist auch international anschlussfähig,10 und sie ist nach der Irritation, die die geschichtsdidaktische Kompetenzdebatte nicht nur bei vielen Lehrerinnen und Lehrern ausgelöst hat, vielleicht die einzige tragfähige kategoriale Brücke zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Unterricht. In Deutschland jedenfalls gibt es im Moment kaum ein Bundesland, das in seinen Lehrplänen für das Fach Geschichte ohne die Kategorie Geschichtsbewusstsein auskommt. Ganz im Gegenteil – in den meisten Lehrplänen spielt sie eine zentrale Rolle.

 

Literatur

  • Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. In: Gerhard Schneider (Hrsg.): Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen, Pfaffenweiler 1988 (= Jahrbuch für Geschichtsdidaktik, Bd. 1), S. 1-24.
  • Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln 2013.
  • Schulz-Hageleit, Peter: Emanzipation und Geschichtsbewußtsein. Anregungen für die Wiederaufnahme und Fortsetzung einer Diskussion. In: Arnold, Udo u. a. (Hrsg.): Stationen einer Hochschullaufbahn. Festschrift für Annette Kuhn zum 65. Geburtstag, Dortmund 1999, S. 52-61.

Externe Links

 


Abbildungsnachweis
© Coyau, Wikimedia Commons. Versailles, salon de la guerre, Clio écrivant l’histoire du Roi, von Antoine Coysevox.

Empfohlene Zitierweise
Thünemann, Holger: Abschied vom Geschichtsbewusstsein? In: Public History Weekly 2 (2014) 5, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1266.

Copyright (c) 2014 by Oldenbourg Verlag and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com

The post Abschied vom Geschichtsbewusstsein? appeared first on Public History Weekly.

Quelle: http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/2-2014-5/abschied-vom-geschichtsbewusstsein/

Weiterlesen