Der Telegraph als Synonym für Fortschritt und Modernisierung?

De rebus sinicis notiert in Ein Telefon im Kaiserpalast, dass ein landesweites Telefonnetz erst in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts eingerichtet wurde und kurz vor dem Ende der Qing-Dynastie auch den Kaiserpalast erreichte. Schon lange vorher war der Telegraph in China eingeführt worden. [1] Der Telegraph, der als ein Element der Modernisierung gesehen wurde, war auch Thema im Zusammenhang mit der Reise, die Li Hongzhang 李鴻章 1896 durch mehrere europäische Staaten und die USA führte. Li hatte zwar nach der Niederlage Chinas im Chinesisch-Japanischen Krieg 1894/1895 vorübergehend seinen Einfluss bei Hof verloren (was seine Reise kaschieren sollte), galt aber im Westen als verlässlicher Ansprechpartner und als Befürworter der Modernisierung, worunter weniger eine Modernisierung des politischen Systems als die Öffnung Chinas für westliche Technologien geehen wurde. Dies zeigt sich im Reiseprogramm: Li Hongzhang traf nicht nur mit Staatsmännern und Herrschern zusammen, sondern besuchte auch zahlreiche Industriebetriebe und Infrastruktureinrichtungen: Fabriken, Werften, Rüstungsbetriebe und Telegraphenämter.

"Früchte von Li Hung-Tschang's Reise" (Kikeriki 23.7.1896)

Kikeriki 23.7.1896, S. 2. Quelle: ANNO

Eine kleine Karikatur im Kikeriki [2] vom 23.7.1896, S. 2 greift das Thema auf: “Früchte von Li-Hung-Tschang’s Reise” – “Li-Hung-Tschang: Ganz Europa ist mit einem Netz von Telegraphen überzogen. Gut, das wollen wir auch bald haben, und besser als die Barbaren.”

Das Bild zeigt einen durch Bart und Zopf als ‘chinesisch’ markierten Mann (durch die Überschrift als Li Hongzhang identifiziert), der in einem Pavillon mit Glaswänden sitzt. Von dem Pavillon führen in alle Himmelsrichtungen Reihen von (durch Zopf und Kleidung) als ‘chinesisch’ markierten Figuren weg. Jeweils zwei Personen stehen Nase, sie sind durch einen breiten Gürtel aneinandergebunden. Über die verknoteten Enden der Zöpfe sind die Paare jeweils mit den banchbarten Paaren verbunden. Der Zopf der Figur, die dem Pavillon jeweils am nächsten steht, hängt durch ein Loch im Fenster in den Pavillon. Die Figur in der Mitte ‘telegraphiert’, indem an einem der Zöpfe gezogen wird und so das Signal bis in die fernsten Ecken Chinas geleitet wird …

Die Karikatur erweckt den Eindruck, der Telegraph wäre in China in den 1890ern weitgehend unbekannt gewesen. Die Great Northern Telegraph Company (大北電報公司 Dabei Dianbao Gongsi), eine dänisch-chinesische Initiative,  hatte Anfang der 1870er Jahre die Telegraphie in China eingeführt. [3], die neue Technologie verbreitete sich rasch und wurde an das Sprachumfeld angepasst. Um die Schrifzeichen via Telegraph zu übernmitteln, entwickelte der däänische Astronom Hans Carl Frederik Christian Schjellerup den ersten Telegraphencode, der bald  von einer verbesserten Version von S. A. Viguier abgelöst wurde. [4] /und später kontinuierlich erweitert/verbessert wurde. Eine chinesische Telegraphenveraltung gab es seit 1882 – zunächst als guandu shangban-Unternehmen [ein Unternehmen, das von Kaufleuten geführt, aber von Beamten kontrolliert wurde], das 1908 vom Verkehrsministerium übernommen wurde …

[1] Zum Telegraphen in China (und zur Rolle Dänemarks) im 19. Jahrhundert: Erik Baark: Lightning Wires: The Telegraph and China’s Technological Modernization, 1860–1890. (Westport, CT: Greenwood Press 1997). Erik Baark: Catalogue of Chinese Manuscripts in Danish Archives (= Studies on Asian Topics No. 2, London/Malmö: Curzon Press 1980) verzeichnet eine Reihe von Korrespondenzen zwischen den chinesischen Behöreden und den Vertretern Dänemarks im Zusammenhang mit der Great Northern Telegraph Company.

[2] Der Kikeriki, der sich als “humoristisches Volksblatt” sah, erschien zwischen 1861 und 1933 war eine der einflussreichsten satirisch-humoristischen Zeitungen Wiens.

[3] Zur Great Northern Telegraph Compnay: Erik Baark: “Wires, codes, and people: The Great Northern Telegraph Company in China.” In: China and Denmark: Relations Since 1674, edited by Kjeld Erik Brødsgaard and Mads Kirkebæk (Nordic Institute of Asian Studies 2001) pp. 119–152. 

[4] S. A. Viguier((威基謁 Waijiye): Dianbao xinshu 電報新書 [New numbercode for the telegraph in Chinese made by S. A. Viguier in 1871 based on the first invented code made by the Dane H.C.F.C Schjellerup from 1871] (Published in Shanghai in theTongzhi shiyi year = 1872) [→ Digital version]. 

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/330

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Imaginationen des Anderen: Dr. Fu Manchu, ein chinesischer (?) Gangster

Chinesische Gangster waren ‘die Bösen’ in zahllosen Groschenromanen und Dime Novels [1] im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In diesen Geschichten wie Hop Lee, The Chinese Slave Dealer; or, Old and Young King Brady and the Opium Fiends. A story of San Francisco (1899) oder The Bradys and Hi-Lo-Jak; or, Dark Deeds in Chinatown (1903) oder The Bradys and the Yellow Crooks(1910) erscheinen Chinesen als betrügerische Händler, Betreiber von Opiumhöhlen und sonstigen zwielichtigen Etablissements und Chinesinnen als ihre besonders listige Gehilfinnen in Verbrechersyndikaten. Die Verbrecher werden von (in der Regel weißen) Polizisten oder Privatdetektiven gejagt und letzhin dingfest gemacht.

The Adventures of Dr. Fu Manchu S1E1

Glen Gordon (Fu Manchu) in “Prisoner of Fu Manchu” (air date: Sept 3 1956) -

Eine neue Dimension erreicht der Topos vom chinesische Gangster mit der Figur des Dr. Fu Manchu aus den Romanen des Briten Sax Rohmer (egentlich Arthur Henry Sarsfield Ward, 1883-1959). Der erste Fu-Manchu-Roman, The Mystery of Dr. Fu-Manchu [2] erschien zwischen Oktober 1912 und Juni 1913 als Fortsetzungsroman, bis 1917 folgten zwei weitere Roman. Ab 1931 nahme Rohmer die Serie mit The Daughter of Fu Manchu wieder auf. Insgesamt gibt es dreizehn Fu Manchu-Romane von Sax Rohmer, dazu eine posthum veröffentlichte Sammlung von kürzeren Geschichten, The Wrath of Fu Manchu.

Die Romane erzählen in Varianten eine immer gleiche Geschichte: Der chinesische Super-Gangster Dr. Fu Manchu will die Weltherrschaft an sich reißen. Dies wird von (Sir) Denis Nayland Smith und dessen Assistent Dr. Petrie (der – ähnlich wie bei Sherlock Holmes und Dr. Watson – die Geschichte erzählt) im allerletzten Moment vereitelt. Die Ideen Fu Manchus werden immer abstruser, die Verbrechen monströser, die Foltermethoden immer perfider – speziell in den zahlreichen Filmen und TV-Produktionen, die mit Stummfilmen in den 1920ern begann.

Das Bild, das der Name Fu Manchu evoziert, ist das eines Mannes in ‘chinesischen’ Gewändern, mit einer schwarzen Kappe auf dem Kopf – und mit dem typischen Fu-Manchu-Bart, einem dünnen Schnurrbart, der das Philtrum freilässt, aber außen bis unter Kinnhöhe reicht (ein Attribut, das in den Romanen nicht auftaucht). In den Filmen wurde Fu Manchu von eine Reihe von Schauspielern verkörpert, u.a. Harry Agar Lyons (1878-1944), Warner Oland (1879-1938,  auch bekannt als Darsteller des chinesischen Meisterdetektivs Charlie Chan), Boris Karloff (1887-1969) und Christopher Lee (*1922). Keiner der Darsteller ist Asiate, ihr ‘chinesisches’ Aussehen verdanken sie der Maske. Hollywood hielt es lange Zeit für unmöglich, asiatischen Darstellerinnen und Darstellern Hauptrollen zu überlassen [3].

Unter den Filmen, deren (mitunter zweifelhafte) künstlerische Bedeutung hier nicht thematisiert werden soll, erscheint einer besonders bemerkenswert: The Mask of Fu Manchu [4], ein Pre-Code-Film aus dem Jahr 1932 (Uraufführung: 5.11.1932) mit Boris Karloff als Fu Manchu und Myrna Loy (1905-1993) als Fah Lo See. Der Film, gegen den China bei seinem Erscheinen heftig protestierte, geriet bald in Vergessenheit, wurde aber seit den 1970ern quasi ‘wiederentdeckt’ und kritisch neu betrachtet. Die Fu-Manchu-Filme, die auf den Romanen von Sax Rohmer basierten, arbeiteten mit dem Bild des geheimnisvollen Orientalen, dessen rätselhaftes Tun mit ‘westlichen’ Moralvorstellungen nur schwer in Einklang zu bringen ist.

Das in Fu Manchu manifestierte Stereotpy vom bösen asiatischen Genie, das nach der Weltherrschaft strebt, kann eine Variante, der seit dem späten 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA latentem Angst vor der Gelben Gefahr Ausdruck zu verleihen, gesehen werden [5]. Als diese ihren Schrecken verlor, wurde die Figur des Fu Manchu in Filmen etc. mehr und mehr zur Karikatur und mithin Parodie ihrer selbst [6] Während Dr. Fu Manchu nun zunehmend als eher lächerliche Figur erschien, wurde der von Rohmer kreierte Typ ‘chinesischer’ Super-Gangster zum Vorbild für zahlreiche ‘orientalische’/'asiatische’ Bösewichte in Romanen, Graphic Novels/Comics und Filmen. [7]

 

[1] Zu Dime Novels allgemein vgl. die Informationen der Dime Novel and Story Paper Collection der Stanford University Library.

[2] US-Ausgabe unter dem Titel The Insidious Dr. Fu Manchu (Volltext: Project Gutenberg)

[3] Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für diese Praxis ist The Good Earth (USA 1937), ein Film nach einem Drama, das auf dem gleichnamigen Roman von Pearl S. Buck aus dem Jahr 1931 basiert. Im Film spielte Paul Muni den Bauern Wang Lung, seine Frau O-Lan wurde von Luise Rainer dargestellt, die dafür den Oscar (beste Schauspielerin) erhielt. – Ähnlich auch The Inn of the Sixth Happiness (USA 1958), ein ‘biopic’, das das Leben der Gladys Aylward beschreibt: Hier spielte Curt Jrgens den chinesischen Offizier Lin Nan und Robert Donat den Mandarin/Ortsvorsteher des Dorfes, in dem sich die Missionarin niederließ.

[4] Zum Plot vgl. The Mask of Fu Manchu in der IMDb 

[5] Dazu ua. Urmila Seshagiri: “Modernity’s (Yellow) Perils: Dr. Fu-Manchu and English Race Paranoia.” In: Cultural Critique, No. 62 (Winter, 2006), pp. 162-194; John Seed: “Limehouse Blues: Looking for Chinatown in the London Docks, 1900-40.” In: History Workshop Journal, No. 62 (Autumn, 2006), pp. 58-85; David Shih: The Color of Fu-Manchu: “Orientalist Method in the Novels of Sax Rohmer.” In: The Journal of Popular Culture, Volume 42, Issue 2, April 2009, Pages: 304–317.

[6] Vgl. dazu u.a. die TV-Serie The Adventures of Dr. Fu Manchu  aus den 1950ern (einige Episoden im Internet Archive: S1E1: The Prisoer of Fu Manchu (1956), The Aventures of Dr. Fu Manchu S1E9: The Death Ships of Fu Manchu (1956), The Adventures of Dr. Fu Manchu S1E11: The Masterplan of Fu Manchu (1956)) oder Pieter Sellars’ The Fiendish Plot of Dr. Fu Manchu (USA/GB 1980)

[7]U.a.: Pao Tcheou, der Meister des Unsichtbaren, Ming the Merciless [dt. 'Ming der Grausame'] aus den Flash Gordon-Comics,  oder Lo Pan in “Big Trouble in Little China”.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/254

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