Vor einigen Wochen habe ich ein interessantes Telefonat mit einer Frau geführt, die mir von ihren Erfahrungen berichtete, nachdem Sie von diesem Forschungsprojekt erfahren hat. Eine der Forschungshypothesen ist die Frage, welche psychischen Wirkungen der Zweite Weltkrieg für die heutigen Generationen noch haben kann. Natürlich kann man im Nachhinein vieles erklären und ein solcher Einzelfall kann nur helfen Forschungshypothesen zu generieren, die überprüft werden müssen. Weil auf viele dieser Fragen Antworten fehlen, ist es ja so dringend nötig Forschung zu diesem Thema zu betreiben, eben um zu sehen, ob die Ursachen tatsächlich in der Kindheit zu finden sind. Vielleicht lässt es sich auch gar nicht nachweisen? Doch die Geschichte, die mir diese Frau später mit einer Email schickte und viele andere Erfahrungsberichte deuten darauf hin, dass es transgenerationelle Effekte gibt und dass sie ein interessantes Forschungsthema sein können.
Die folgende Email wurde anonymisiert und stilistisch korrigiert. Inhaltlich ist die Email nicht bearbeitet worden.
„Ich habe nicht nur das sogenannte „Kriegsenkelsyndrom“ diagnostiziert bekommen, sondern auch einige andere gravierende Erkrankungen im psychischen und körperlichen Bereich, die mich vor einigen Jahren dazu brachten, dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Inzwischen kann ich einigermaßen bei meinen Diagnosen Zusammenhänge mit den Erkrankungen meiner Vorfahren herstellen. Das Kriegsenkelsyndrom ist bei mir auf die Erlebnisse meines Großvaters (geboren um 1910) zurückzuverfolgen, der unter anderem in russischer Kriegsgefangenschaft war. Diese Erlebnisse versuchte er mit Alkoholmissbrauch und Gewalt zu kompensieren, was für meinen Vater (geboren um 1940) bedeutete, dass er immer wieder massiv Prügel, auch mit Gegenständen, bekam. Diese Gewalterfahrung gab mein Vater dann eins zu eins an mich (geboren um 1970) weiter. Ich habe vor vielen Jahren lernen müssen, dass ich einen sehr hohen Risikofaktor für Suchterkrankungen (speziell Alkohol) habe. So habe ich mich vor über 15 Jahren bewusst entschieden keinen Alkohol mehr anzurühren, da ich nicht in diesen Teufelskreis von Alkohol und Gewalt geraten wollte. Es steht auch in Frage, ob mir der väterliche Zweig mein ADHS adult vererbt hat. Meine psychische Labilität kann ich auf einen anderen Familienzweig zurückverfolgen, da dort ich dort vermehrt Vorfahren gefunden habe, die mit psychischen Problemen zu kämpfen hatten. Ich selbst habe im Alter von 10 Jahren mit Psychotherapien angefangen, die nie wirklich etwas brachten, auch weil mein Vater an diesen niemals teilnahm. Aktuell bin ich seit 5 Jahren in intensiver Dauertherapie, die wohl nie beendet werden darf. Ich habe gerade diese Woche wieder festgestellt, dass die ganzen Themen wie tradierende Erkrankungen nicht ernst genommen werden oder auch frühere Erfahrungen oft totgeschwiegen werden und, wie bei mir, durch charakterliche Verhaltensweisen von anderen Familienmitgliedern negativ de-kompensiert werden.”
Ergänzend muss ich sagen, dass es denn Begriff „Kriegsenkelsyndrom“ nicht in der offiziellen psychotherapeutischen Diagnostik gibt. Er ist mehr ein Arbeitsbegriff, um die Zusammenhänge von Geschichte und Psyche zu erfassen. Die Email stammt nicht von einer Teilnehmerin der damaligen Nachkriegskinder-Studie. Trotzdem glaube ich, dass es eine mögliche Perspektive auf diese Generation darstellt und zur Diskussion anregen kann.