Es gibt einige gute Kompendien zur Aktenkunde, aber nur ein echtes Lehrbuch. In der Hand hatte ich es zum ersten Mal in meinem Ausbildungsarchiv, dem Hauptstaatsarchiv Dresden. Dort, in den Dienstbibliotheken ostdeutscher Archive, findet man es, meist unerfasst von Verbundkatalogen. Denn leider ist Gerhard Schmids “Aktenkunde des Staates” (1959) “graue” Literatur, die bislang auch niemand digitalisiert hat. Weite Verbreitung hat nur der in die “Archivalischen Quellen” aufgenommene Extrakt gefunden (Schmid 1994). Dabei ist es ein ganz hervorragendes Werk. Grund genug, es näher vorzustellen.
Es handelt sich um einen “als Manuskript gedruckten” (hektographierten) “Lehrbrief für das Fachschulfernstudium für Archivare” an der Fachschule für Archivwesen “Franz Mehring” in Potsdam. Die dort im Fern- oder Direktstudium ausgebildeten Staatlich geprüften Archivare waren im Archivwesen der DDR das Äquivalent zum Marburger Diplom-Archivar. Das Fernstudium diente vor allem dazu, Seiteneinsteiger eine Fachausbildung nachholen zu lassen. Es ist klar, dass Lehrmaterial für das Selbststudium didaktisch besonders gut aufbereitet sein muss. Schmid hat diese Aufgabe für die Aktenkunde hervorragend gelöst.
Der darstellende Teil umfasst 336 Seiten in zwei durchlaufend paginierten Teilen: Urkundenlehre und neuzeitliche Aktenkunde des 16. bis 18. Jhs. in Teil 1, 19. und 20. Jh. in Teil 2. Daran schließt sich eine Sammlung von 80 gut ausgewählten Übungsbeispielen an, die jeweils nach Schriftstückart und Überlieferungsform bestimmt und in ihren Formularbestandteilen ausführlich untersucht werden. Das bietet in diesem Umfang und dieser Ausführlichkeit auch Hochedlinger (2009) nicht. Der Wermutstropfen ist nur die manchmal miserable Reproduktionsqualität.
Gerhard Schmid, geboren 1928, verstorben am 1. Januar dieses Jahres, gehörte zur ersten Generation wissenschaftlicher Archivare in der DDR, die in vielen archivarischen Aufgabenfeldern grundlegende (und gesamtdeutsch relevante) Aufbauarbeit geleistet hat. (Sein Wikipedia-Eintrag ist recht dürr.) Als Hilfswissenschaftler wurde er geprägt durch Heinrich Otto Meisner, der die Professur für Archivwissenschaft an der Humboldt-Universität inne hatte. Die “Aktenkunde des Staates” ist im Grunde Meisners aktenkundliches Lehrgebäude aus der Archivarsausbildung (auf dem Stand von Meisner 1952), umgegossen in die Form eines Lehrbuchs und mit Schmids eigener Erfahrung aus seiner Tätigkeit am Deutschen Zentralarchiv in Potsdam unterfüttert.
Charakteristisch ist die praxisnahe Reduktion der drei Zweige der Meisnerschen Aktenkunde auf zwei: Genetik und Systematik, auf die die Analytik aufgeteilt wird, ist doch die Analyse der Formmerkmale v. a. Mittel zum Zweck der Bestimmung von Entstehungsstufe und Schriftstücktyp. Der Stoff wird gerafft, aber ohne wesentliche Auslassungen präsentiert. Als didaktische Instrumente für das Selbststudium dienen Kontrollfragen, Bestimmungsübungen anhand der Beispielsammlungen und “Anleitungen” genannte Gedächtnisstützen für die praktische Archivarbeit.
Im Vergleich mit Meisners Handbüchern wird sofort deutlich, dass es sich um ein reines Lehrbuch handelt, das sich auf den praktischen Umgang mit den Formen konzentriert, aber das Wie? und Woher? ihrer Entwicklung weitgehend ausblendet. Dafür geht Schmid vom Stoff her weiter als sein Lehrer, der das Werk übrigens als Gutachter abgenommen hat, und bezieht auch die Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts in vollem Umfang ein. In der Tradition des Meisters betreibt er Aktenkunde vor allem als Untersuchung von Einzelschriftstücken und trennt sie scharf von der Archivwissenschaft, die sich mit der Zusammensetzung ganzer Registraturen befasst. Und wie Meisner betrachtet er Amtsbücher nicht als eine eigene Archivaliengattung, sondern (ihrem rechtlichen Charakter entsprechend) entweder als Akten oder als Urkunden.
Die Grundlage der Klassifizierung von Schriftstücken bleibt auch bei Schmid das Rangverhältnis zwischen Absender und Empfänger. Bemerkenswert ist aber, dass daraus für den modernen Verfassungsstaat sachgerecht kein Unterordnungsverhältnis für den Schriftverkehr zwischen Bürger und Staat abgeleitet wird (S. 251) – ein Thema, das im aktenkundlichen Unterricht an der Archivschule Marburg bis in die jüngste Zeit für Gesprächsstoff gesorgt hat, was doch erstaunlich ist.
Schmid ist nach 1959 nur noch vereinzelt auf die Aktenkunde als Thema zurückgekommen. Das ist bedauerlich, lassen diese sporadischen Äußerungen doch eine Emanzipation von Meisner erkennen, die zu sehr produktiven Ergebnissen hätte führen können.
In seiner Rezension (1970) zur Meisners dritter Neubearbeitung seines Handbuchs (1969) werden die Grenzen der Rechtserheblichkeit und der grammatisch orientierten Formularanalyse als grundlegenden Ansätzen deutlich benannt. In seiner 1977 gehaltenen, aber erst 30 Jahre später veröffentlichten Probevorlesung an der Humboldt-Universität setzte sich Schmid dann auch überzeugend mit der Marburger Schule um Papritz und Dülfer auseinander und stellt eine überzeugende Brücke von der spätmittelalterlichen Amtsbuchregistratur zum frühneuzeitlichen Aktenwesen her. Der Parforceritt in den “Archivalischen Quellen” (1994) spiegelt dann noch einmal Schmids besondere Stärke, die Produktion amtlicher Schriftstücke sorgfältig auf die zeitgenössischen Verwaltungsstrukturen und -techniken zurückzuführen. Auch wird das Aktenwesen der Wirtschaft einbezogen.
Literatur:
Beck, Friedrich 2013. Gerhard Schmid. Archivar 66, S. 258-259 (online)
Hochedlinger, Michael 2009. Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. Wien.
Meisner, Heinrich 1952. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. 2. Aufl. Leipzig.
Ders. 1969. Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Leipzig.
Ders. 1970. [Rezension zu Meisner 1969]. Archivmitteilungen 20, S. 159-160. Auch in Schmid 2008, S. 67-72.
Ders. 1977. Grundlinien der Entwicklung des Registraturwesens bis zum 18. Jahrhundert. In: Ders. 2008. Archivar von Profession. Wortmeldungen aus fünfzig Berufsjahren. Hg. von Friedrich Beck. Berlin 2008, S. 73-92.
Ders. 1994. Akten. In: Friedrich Beck und Eckart Henning, Hg. 1994. Die Archivalischen Quellen. Eine Einführung in ihre Benutzung. Weimar, S. 51-85