Zum plötzlichen (?) Interesse an Karikatur

Der #JeSuisCharlie-Hype scheint am Abebben, die Zeit der aktionistischen Solidarisierungen ebenfalls, langsam werden differenziertere  Stimmen lauter (Hashtag #jenesuispascharlie), Stimmen, die Terror verurteilen, aber nicht unbedingt die Positionen von Charlie Hebdo teilen. [1]  Charlie Hebdo ordnet sich selbst dem politisch linken Spektrum zu, bewegt sich dann doch bei vielen Themen in der politischen Mitte.[2]. Charlie Hebdo ist radikal antiklerikalistisch und provoziert mit derber Satire.  Die Karikaturen sind reduziert, sie wirken durch energische Striche und kräftige Farbflächen ohne jede Schattierung.Die Botschaften sind direkt und wenig subtil.

#JeSuisCharlie und der marche republicaine, der am 11. Januar zwischen 1,2 und 1,6 Millionen Menschen auf die Straßen von Paris brachte[3], lassen vergessen, dass Charlie Hebdo im Kern so etwas wie ein Minderheitenprogramm ist. Die Angaben zur Auflage schwanken zwischen 45.000 (2012) und 60.000 (zum Vergleich: Le canard enchainé erscheint mit einer Auflage von rund 400.000 Exemplaren[4]; Private Eye erscheint mit rund 220000 Exemplaren (S. "Mag ABCs: Full circulation round-up for the first half of 2013". Press Gazette. 15 August 2013. <abgerufen am 12.1.2015>.)); das deutsche Titanic-Magazin mit einer Auflage von 99760 Exemplaren[5] Am 14. Januar 2015 erscheint die Ausgabe Nr. 1178 in einer Auflage von zwei, drei oder fünf Millionen ... die 'letzten' Exemplare werden zu Rekordpreisen auf einschlägigen Verkaufsplattformen gehandelt.
Einen ersten Einblick gibt die Fotostrecke "Charlie Hebdo": 16 Seiten Mut" auf spiegel-online.de.

Fast alle österreichischen Tageszeitungen brachten vorab das Titelblatt der Ausgabe Nr. 1178.[6] Die Tageszeitung Der Standard bringt österreich-exklusiv am 14.1.2015 einen Auszug aus der aktuellen Nummer. Die Karikatur - die Seiten 8 und 9 von Charlie Hebdo Nr. 1178 - wurden um 6.00 Uhr veröffentlicht.

Beigegeben sind Übersetzungen, die In den Kommentaren heftig diskutiert werden - u.a. die Übersetzung von "tortionnaire" [Folterer, Folterknecht] mit "Quälgeist)".  Beigegeben sind auch rudimentäre Erklärungen, die sich in der Regel auf Offensichtliches beziehen, schwierigere Stellen bleiben unkommentiert.

Ein Beispiel: "Keep Calm and Charlie on" von David Ziggy Greene thematisiert die Solidaritätskundgebungen am Trafalgar Square am 7. Januar 2015. Schon zum Titel "Keep Calm and Charlie On" bräuchte es wohl den Hinweis auf das 'Keep Calm and Carry On"-Poster von 1939, das erst 2000 quasi wiederentdeckt wurde (und seither alle möglichen Gegenstände ziert - und in zahllosen Varianten in Umlauf ist).
Bei "Silence under 'le coq bleu' fehlt der Hinweis, dass es sich bei dem "blauen Hahn" um eine Skulptur auf dem Trafalger Square handelt: Hahn/Cock von  Katharina Fritsch. Die Skulptur aus blauem Fiberglas steht für 18 Monate auf dem 'Fourth Plinth', dem leeren Sockel in der Nordwestecke des Platzes.[7] Und wer ist der 'einsame' Typ, der 3 Stunden allein herumsteht?

Die Karikaturen dieser Doppelseite  machen die Herausforderungen des Mediums deutlich: Es braucht gute bis sehr gute Sprachkenntnisse, um Wortspiele und Anspielungen dekodieren zu können. Und es braucht Kontext- und Faktenwissen, sonst bleibt das 'eigentlich' Gemeinte unverständlich.

  1. S. u. a. Pascale Robert-Diard, "Les petites voix discordantes de #jenesuispasCharlie" Le Monde 10.01.2015 à 10h41; Mis à jour le 10.01.2015 à 16h30 - Online. Roxane Gay "If je ne suis pas Charlie, am I a bad person? Nuance gets lost in groupthink" The Guardian Monday 12 January 2015 12.50 GMT - Online.
  2. S. dazu Roderic Mounir "Charlie Hebdo, c'est la gauche plurielle" lecourrier.ch du 9 avril 2010 - Online | archive <abgerufen am 12.1.2015>
  3. S. dazu: "Marche républicaine à Paris : une ampleur 'sans précédent'" Libération 11 janvier 2015 à 13:46 (Mis à jour : 11 janvier 2015 à 20:37) - Online <abgerufen am 12.1.2015).
  4. Le Monde.fr avec AFP: "La crise de la presse touche aussi 'Le Canard enchaîné'." lemonde.fr 04.09.2014 à 13h13; Mis à jour le 04.09.2014 à 14h06. Online <abgerufen am 12.1.2014>.
  5. TITANIC - Das endgültige Satiremagazin, Impressum <abgerufen am 12.1.2015>.
  6. U.a. Der Standard, Kurier, Salzburger Nachrichten, Kleine Zeitung, Die Presse.
  7. S. London.gov.uk: A new icon for London <abgerufen am 14.1.2015>.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1999

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Ikonographien von Solidarität und Widerstand: Karikaturen zum Anschlag auf ‚Charlie Hebdo‘

Der 7. Januar ist der erste Tag nach der Weihnachtspause ... das übliche Programm: Post, nebenher Nachrichten und wie immer zur Einstimmung Karikatur/Karikaturistinnen/Karikaturisten-Feeds aus aller Welt und Daryl Cagles PoliticalCartoons.com. Die Themen sind wenig überraschend, die Tagespolitik läuft an. Charlie Hebdo hat (wie am 6.1. getwittert) Houellebecqs Soumission auf dem Titel[1].

Aber plötzlich ist alles anders. Ab Mittag überschlagen sich Nachrichten mit immer mehr Details zum Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Sondersendungen, Eilmeldungen, Live-Ticker ...

Kurz vor 13.00 twittert Joachim Roncin:

pic.twitter.com/5hr2brBJQt

— joachim (@joachimroncin) 7. Januar 2015

Die weißen und grauen Buchstaben auf Schwarz verbreiten sich in Windeseile und werden zum Hashtag #jesuischarlie, zu spontanen (Tee-)Lichtinstallationen, zu Plakaten, die hundert- und tausendfach hochgehalten werden, zu riesigen Transparenten etc.

Im Laufe des Nachmittags tauchen mehr und mehr Karikaturen zum Thema auf. Karikaturistinnen und Karikaturisten twittern und bloggen spontane Reaktionen.

Am Tag danach bringen die Karikaturen als Antwort auf die Ereignisse. Herausragend (vor allem in Bezug auf die internationale Resonanz )ist The Independent mit einer Arbeit von Dave Brown, die den Geist von Charlie Hebdo symbolisieren soll.[2]

Inhaltlich sind es überwiegend nahezu prototypische Ereigniskarikaturen, die aktuelles Geschehen quasi in Echtzeit kommentieren. Daneben finden sich auch Zustandskarikaturen, die das konkrete Geschehen in einen größeren Kontext einordnen.  Formal sind alle Formen vertreten: personale Individualkarikaturen, personale Typenkarikaturen und apersonale Sachkarikaturen.

Die Themen der Karikaturen sind das Heraufbeschwören von liberté, égalité, fraternité, die Unbeugsamkeit gegenüber allen Versuchen, freie Meinungsäußerung einzuschränken, bis hin zum trotzigen Jetzt-erst-Recht  und  Charlie Hebdo als Märtyrer der Meinungsfreiheit.

Zur Ikonographie gehören

Die Sujets sollen die Unzerstörbarkeit der freien Meinungsäußerung und den Trotz[3] sichtbar machen, aber auch zeigen, dass Humor eine starke Waffe sein kann.

Je größer der zeitliche Abstand wird (und je mehr Fotos vom Schauplatz auftauchen) umso reflektierter werden die Karikaturen zum Thema, während die #JeSuisCharlie-Solidarität längst die Grenzen zur Vereinnahmung überschritten hat.[4]

  1. Luz (i.e. Renald Luzier): "Les prédictions du mage Houellebecq". In: Charlie Hebdo N°1177 (7 janvier 2015) 1.
  2. S. dazu auch: Dave Brown: "Charlie Hebdo cartoon: I knew I had to express defiance because I wanted to be true to the spirit of the magazine." The Independent, Thursday 8 January 2015 - Onlinefassung <abgerufen am 9.1.2015>.
  3. Dazu auch: Ann Telnaes: "A cartoon defying the Paris terrorists", Washington Post 7.1.2015 - Onlinefassung <abgerufen am 9.1.2015>.
  4. S. u.a. David Brooks: "I am not charlie" New York Times Jan 8, 2015 (Online); Jeffrey Goldberg: "We Are Not All Charlie", The Atlantic Jan 8 2015, 10:04 AM ET (Online); Michael White, "After the Charlie Hebdo attack, let’s not pretend we’re not afraid" The Guardian  Thursday 8 January 2015 11.41 GMT (Online);  Sebastian Loudon "Wir sind nicht Charlie", Horizont 08.01.2015 (Online); David Beard: "We're not all Charlie" PRI [Public Radio International] January 08, 2015 · 3:30 PM EST (Online).

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1989

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