Von einer Krise der europäischen Integration zu sprechen, wirkt fast schon abgedroschen. Es ist gerade sechs Jahre her, da wurde – kurz vor dem Ausbruch der neuen, großen Weltwirtschaftskrise und nicht zuletzt auch in der PROKLA (Nr. 144 Europa, September 2006) – eine Verfassungskrise der EU diagnostiziert. Krisen in der Geschichte der europäischen Integration sind nichts Neues. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise 2008/09 haben jedoch zu einer Eskalation der Widersprüche dieser Integration geführt. Wie die „Eurosklerose“ der 1970er und frühen 1980er Jahre infolge der Krise des Fordismus könnte auch die gegenwärtige Krise der EU am Ende zu einem neuen Schub der Vertiefung der europäischen Integration führen. Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Europäische Währungsunion und möglicherweise auch die Europäische Union zerbrechen. Klar ist nur, dass der Status Quo so nicht mehr haltbar ist. Die bisherige Krisenpolitik hat jedenfalls nicht zu einer Überwindung der Krise geführt, geschweige denn zu einer Aufhebung der ihr zugrunde liegenden Widersprüche. Die Ursachen der Krise und mögliche Lösungsstrategien werden in allen gesellschaftlichen Lagern kontrovers diskutiert: Unterstützung Griechenlands und anderer verschuldeter Staaten oder Insolvenz, aber Verbleib in der Euro-Zone, Aufspaltung der Euro-Zone sind nur einige der Szenarien. Die Beiträge des geplanten Heftes sollen die Zusammenhänge zwischen der gegenwärtigen Verschuldungs- und Bankenkrise in Europa und den Widersprüchen des gegenwärtigen, finanzialisierten Modells kapitalistischer Akkumulation einerseits und den Widersprüchen der europäischen Integration andererseits in den Blick zu nehmen. Vor diesem Hintergrund stellen sich zahlreiche Fragen:
1. Vordergründig werden Schuldenbremse und Austeritätspolitik damit begründet, das Vertrauen der Gläubiger und Finanzinvestoren („der Märkte“) in die Eurozone wieder herzustellen. Es ist jedoch absehbar, dass die von der „Troika“ (EU-Kommission, EZB, IWF) geforderte Politik nicht nur in Griechenland zu einer Verschärfung der ökonomischen Krise führt. Die in den USA und England praktizierte Politik, dass die Zentralbank unbegrenzt Staatsanleihen aufkauft, wird der EZB untersagt. Welche unterschiedlichen Interessen stehen hinter diesen Differenzen? Welche Möglichkeiten hätte die EZB tatsächlich? Und welche Bedeutung hat dabei die hybride Struktur des Euro-Raums, der sich durch eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik auszeichnet? Welche Rolle spielen die verschiedenen Akteure der Krisenpolitik: EU-Kommission, IWF, Frankfurt-Group, EZB? Wie unterscheiden sich Krisen- und Austeritätspolitik in den einzelnen europäischen Staaten? Wie sind der Aufstieg und Niedergang der ehemaligen neoliberalen Erfolgsmodelle (wie des „keltischen Tigers“ Irland) zu bewerten?
2. Was hat es mit der Behauptung auf sich, daß es bei der herrschenden Krisenstrategie um die Durchsetzung deutscher imperialistischer Interessen ginge? Die Kontroversen um das „richtige“ Krisenmanagement erscheinen häufig als Gegensätze zwischen nationalen Regierungen: Während die deutsche und die französische Regierung z.B. für eine Finanztransaktionssteuer plädieren, blockt die britische Regierung dies ab. Während in Großbritannien gefordert wird, die EZB solle unbeschränkt Staatsanleihen aufkaufen, wird dies in Deutschland abgelehnt. Die britische Regierung verteidigt explizit den Finanzplatz London, an dem ein großer Teil der britischen Einkommen erwirtschaftet wird. Aber inwiefern kann man angesichts transnationaler Unternehmen und eines globalen Konkurrenzkapitalismus davon sprechen, dass die jeweiligen nationalen Regierungen die Interessen nationaler Kapitale vertreten? Inwieweit unterscheiden sich die Interessen des „deutschen“, „französischen“ oder „britischen“ Kapitals? Inwieweit sind die Kontroversen zwischen Regierungen Ausdruck kapitalistischer Konkurrenz und imperialistischer Rivalität? Und handelt es sich zunehmend um ein Europa unter deutscher Dominanz?
3. Die Krise der EU und des Euro sollte nicht isoliert betrachtet werden, sie findet in einer krisen- und konflikthaften Weltwirtschaft statt. Während sich in den USA die Ökonomie nur langsam von der Krise 2008/09 erholt, nimmt sowohl die öffentliche als auch die private Verschuldung immer schneller zu und die politische Klasse der USA ist in der Frage, wie mit Krise und Verschuldung umzugehen sei, zutiefst gespalten. Gleichzeitig werden die kapitalistischen Schwellenländer immer stärker. Sowohl auf den Absatzmärkten für Fertigwaren als auch auf den Rohstoffmärkten verschärft sich die Konkurrenz mit dem nordamerikanischen und westeuropäischen Kapital. Wie wirken sich diese globalen Bedingungen auf die Krise in Europa aus?
4. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus den Antworten auf all diese Fragen für eine emanzipatorische Politik? Die Linke erscheint bezüglich der Krisenpolitik genauso uneins wie die Intellektuellen des Kapitals. Was könnten kurzfristige Forderungen sein? Sollte die Forderung nach Schuldenstreichung in Zentrum stehen, oder greift eine solche Forderung zu kurz, weil ihre Realisierung lediglich zu einer Zuspitzung der Krise führen würde? Bietet für einzelne Länder wie Griechenland der Austritt aus der Eurozone tatsächlich die Perspektive für eine andere Politik? Ist der Nationalstaat die wichtige Arena für linke Politik oder ist dies eher die europäische Ebene? Sollte es um die Unabhängigkeit der Nationalstaaten oder um Demokratisierung der EU gehen? Oder ist eine dritte, neutrale Position erforderlich, die versucht, Löhne, Sozialleistungen, öffentliche Dienstleistungen und demokratische Errungenschaften gegen die Austeritätspolitik zu verteidigen, ohne sich dabei für oder gegen den Euro auszusprechen? Was könnten mittel- oder längerfristige Ziele sein? Wie könnte ein Konzept für ein sozialistisches Europa aussehen? Inwieweit ist eine Beeinflussung der europäischen Politik im emanzipatorischen Sinne überhaupt realistisch? Andererseits, was wären die Folgen einer Auflösung der Eurozone bzw. der Europäischen Union?
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