Auf der GfM-Jahrestagung habe ich Anfang Oktober einen Vortrag gehalten. Dort habe ich Weblogs aus medienwissenschaftlicher Perspektive praxeologisch betrachtet. Mit dem Begriff der Infrastruktur (vgl. Star/Bowker 2002; Schabacher 2013) kann man sich so der ‘Kommunikationsform’ Weblog nähern, indem man sie als eine spezifisch verfestigte Auswahl und Kombination von Infrastrukturschicht(ausschnitt)en begreift. In dieser Weise erscheinen die list- und systematisierbaren Eigenschaften von Kommunikationsformen (vgl. Holly 2011, Meiler 2013a) dann als Effekte und Zwecke ihrer Infrastrukturierung. Mein Vortrag hat also einen Gedanken herausgearbeitet, der im Navigationen-Artikel (vgl. Meiler 2013b, auf dem der Vortrag eigentlich basieren sollte) nur angedeutet wurde.
Infrastrukturierung von Weblogs als Selektion und Kombination von Internet-Infrastruktur-Schichten
Eine der Infrastruktur-schichten ist die Weblog-Software selber. Häufig, wie auch hier auf hypotheses.org, ist das WordPress. Die Produktionsseite von Weblogs betreffend stellt sich diese Schicht dann als eine Form der Mensch-Computer-Interaktion dar, wie sie aus sprachwissenschaftlicher Perspektive Jörg Wagner (2002) in seiner Dissertation anhand von MS Word untersucht hat. Einige Gedanken zu diesem Buch und diesem Komplex, der auch für die Analyse von Weblogs eine Rolle spielt, möchte ich im Folgenden festhalten.
Wagner (2002, 22ff.) gibt in seiner Monografie eine umfangreiche Übersicht über all die kommunikativen Ereignisse und Anlässe, die bei der Nutzung von Software möglich sind. Ebenso gibt er auch eine Sichtung darüber, welche “Instanzen der Mensch-Computer-Interaktion” über den Entwicklungsprozess der Software durch die Hardware mit dem Nutzer in einer Verbindung stehen (ebd., 37; hier listend, d.h. stark vereinfacht wiedergegeben):
Programmierer, Designer, Manager |
→ | Computer-System (Hardware, Docuware, Software) mit den entsprechenden Interfaces |
← | Benutzer |
Trotz der sichtenden Systematisierung lässt Wagner (vgl. ebd., 36f.) aber diesen komplexen Vermittlungszusammenhang für die Analyse nicht wirksam werden. Als analyseleitend fasst er vielmehr die “Metapher des Dialogs zwischen Mensch und Maschine” (ebd., 31) und die Beobachtung, dass die Nutzer selber ihre Auseinandersetzung mit dem Computer als eine Erfahrung modellieren, die im Computer keine Medialisierung der Softwareentwickler erblickt, sondern den Computer bzw. das jeweilige Programm selber als interaktives Gegenüber konzeptualisiert. Für die empirische Analyse hat das nachhaltige Folgen. Wagner arbeitet sich nämlich im Kapitel 4 in nicht unerheblichen Maßen an Erkenntnissen der Gesprochenen-Sprache-Forschung ab (u.a. der Konversationsanalyse, den Griceschen Maximen und auch der weithin bekannten und für sinnvoll erachteten Unterscheidung von medialer und konzeptueller Mündlichkeit/Schriftlichkeit). Selbstverständlich ist es nicht falsch, ganz im Gegenteil: sogar fruchtbar die Verschiebungen und Ableitungen im Blick zu haben, die hinsichtlich sprachlicher Handlungen zwischen Kommunikationsituationen unter Kopräsenz der Interaktanten und Kommunikationsituationen unter deren Depräsenz (Verdauerung) stattfinden. Dabei aber den Computer bzw. die Software selbst als sprechendes Subjekt zu begreifen, wird der beobachtbaren sprachlichen Charakteristik nicht gerecht.1
Bevor also Charakteristika von Gesprächen an die sprachliche Front-End-Gestalt von Software herangetragen werden, müsste einerseits die Präferenzorganisation der semiologischen Oberfläche der Software selbst in den Blick kommen. Dafür hat man auch schon in der KA Arbeiten vorgelegt, die die Präferenzorganisation von Texten analysieren (vgl. z.B. Knauth/Wolff 1991).2 Andererseits müsste die Kommunikationssituation, die mit den sprachlichen und anderen kommunikativen Mitteln der Software zugänglich wird, selbst systematisch rekonstruiert werden. Damit wären verschiedene Vagheiten, Irrläufer und inadäquate Meldungen nicht als defizitäre Kommunikation zu betrachten, sondern als wohl unausweichliche Randerscheinungen, die sich aus der Charakteristik der Kommunikationssituation ergeben: Die mannigfaltigen Arten und Weisen der Nutzung und die damit möglich werdenden Probleme bei der Nutzung einer Software durch unterschiedlich versierte Nutzer muss und kann weitgehend nur antizipiert werden. Diese Probleme kann auch ein Participatory-Design-Prozess nicht vollkommen ausräumen (vgl. Pipek/Wulf 2009, 9).3
Eine Software wie WordPress stellt nun den Endpunkt eines soziotechnischen Verfestigungsprozesses dar. Die unterschiedlichen, historischen Vorläufer und Frühformen von Weblogs haben entsprechend dieser Prägung Eingang in die Struktur der Software gefunden, da sich im Verlauf ihrer (Aus-)Formung bestimmte Aspekte als vorteilig, bestimmte andere Aspekte als nachteilig bei der Bearbeitung der entsprechenden Kommunikationsbedürfnisse erwiesen haben, für die die entsprechende (Interims-)Form genutzt wurde (vgl. Holly 1996). Das, was wir heute als Weblogsoftware WordPress vorfinden, ist also Resultat eines langen Verfestigungs- oder medienwissenschaftlich präziser: Infrastrukturierungsprozesses. Sie macht es möglich vornehmlich bereits verfestigte gesellschaftliche Bedürfnisse bezüglich des Bloggens zu bearbeiten und leistet damit der Stabilisierung (d.h. sowohl Standardisierung wie auch Konventionalisierung) des Bloggens Vorschub, indem sie den Spielraum für Veränderungen durch die gegebene Struktur einschränkt.4
In diesem Lichte ist es dann auch sinnvoll von einem Affordanz-Charakter einer Kommunikationsform zu sprechen (vgl. Pentzold/Fraas/Meier 2013): Bestimmte Nutzungsweisen werden von der Weblog-Software nahegelegt, da ein gesellschaftlich mehr oder weniger stabilisiertes Wissen um die stereotype Nutzungsweise von Weblogs aufgebaut wurde/sich herausgebildet hat. Dieses Wissen prägt auch die kommunikative Oberfläche der Software, die in der produktionsseitigen Mensch-Software-Interaktion beim Bloggen notwendig zu ‘nutzen’ ist.
Diese Nutzung kann als vorstrukturierte Kommunikation betrachtet werden. Ihre historischen Vorbilder findet sie wohl in Formularen – einer Form des zerdehnt-dialogischen Modus der Themenentfaltung qua sequenziertem Frage-Antwort-Muster (vgl. Ehlich/Rehbein 1979). Und diese Form ist älter, als man auf den ersten Blick vermuten würde, wie das Marculfi Formulae, ein ‘Formularbuch’ aus dem 7. oder 8. Jahrhundert, zeigt.
Für Weblogs ist kennzeichnend, dass ein Großteil dieses Formularcharakters produktionsseitig und rezeptionsseitig nur asymmetrisch zugänglich ist (im Vergleich etwa zu Social Network Systems wie Facebook, bei denen Nutzer zwangsläufig die Produktions- und Rezeptionsbedingungen kennen). Rezipienten ist – sofern sie nicht selber Bloggen – nur die Kommentarfunktion und dessen Formular zugänglich. Dem Blogger selber hingegen steht mit dem sog. Dashboard eine umfangreiche Schnittstelle zur Softwareinfrastruktur seines Blogs zur Verfügung, mit dem er einen Großteil der Einstellungen vornehmen kann, die die Front-End-Gestalt seines Blogs, also seiner Kommunikationen betreffen.
Wird der Blog auf einem eigenen Webspace betrieben, kommt mit dem nötigen FTP-Programm eine weitere Schnittstelle zu einer weiteren Infrastruktur-Schicht hinzu, mit dem WordPress auf dem Webspace installiert werden muss, bevor es (wiederum als Infrastruktur) nutzbar werden kann. Um den Webspace selber – also den physikalischen Speicherplatz – für WordPress operational zugänglich zu machen, bedarf es weiterer Schichtungen: die Webserver-Software (z.B. Apache); die Skriptsprache PHP, die on demand HTML-Seiten generiert sowie eine MySQL-Datenbank, auf die WordPress zugreifen kann. Das Ineinandergreifen dieser Infrastrukturen in ihrer spezifischen Kombination macht die Infrastrukturierung von Weblogs aus und bildet die Möglichkeitsbedingung für Kommunikation mit der Kommunikationsform ‘Weblog’.5
Die Navigationsleiste eröffnet den Zugang zu den einzelnen formularisch bearbeitbaren Optionen: Artikel (Blogeinträge), Mediathek (Datenbank eingebundener Bilder), Links (Blogroll), Seiten (Reiter des Weblogs), Kommentare, Design, Benutzer(verwaltung), Einstellungen und anderes mehr. Diese Bearbeitungskomplexe werden – nach meiner eigener Erfahrung – je nach Bedarf und Kompetenz handlungspraktisch relevant und müssen keineswegs alle erschlossen werden, um den Blog funktionabel zu machen. Standardisierte Voreinstellungen gewährleisten vor allem für WordPress-Unerfahrene ein unkompliziertes Handling und einen schnellen Start. Die spezifische Infrastrukturierung ist damit nicht mehr notwendigerweise eine individuell zu leistende Aufgabe, sondern eine gesellschaftlich verfestigte Problemlösung, um die Möglichkeitsbedingungen für einen Kommunikationsstart zu gewährleisten (vgl. Meiler 2013a). Plattformen wie hypotheses.org leisten dem – für das wissenschaftliche Bloggen – besonderen Vorschub und bilden für die spezifische Domäne der Wissenschaft eine spezifische Lösung, wie z.B. die Google-Anwendung blogger.com eine allgemeine und noch einfachere Lösung ohne Domänenspezifik darstellt.
Deppermann, Arnulf (2013): Analytikerwissen, Teilnehmerwissen und soziale Wirklichkeit in der ethnographischen Gesprächsanalyse. In: Hartung, Martin/Deppermann, Arnulf (Hg.): Gesprochenes und Geschriebenes im Wandel der Zeit. Festschrift für Johannes Schwitalla. Verlag für Gesprächsforschung. S. 32-59.
Ehlich, Konrad (1984): Zum Textbegriff. In: Rothkegel, Annely/Sandig, Barbara (Hg.): Text – Textsorten – Semantik. Buske. S. 9-25.
Ehlich, Konrad/Rehbein, Jochen (1979): Sprachliche Handlungsmuster. In: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Interpretative Verfahren in den Text- und Sozialwissenschaften. Metzler, S. 243-274.
Holly, Werner (1996): Alte und neue Medien. Zur inneren Logik der Mediengeschichte. In: Rüschoff, Bernd/Schmitz, Ulrich (Hrsg.): Kommunikation und Lernen mit alten und neuen Medien Lang, S. 9-16.
Holly, Werner (2011): Medien, Kommunikationsformen, Textsortenfamilien. In: Habscheid, Stephan (Hrsg.): Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Linguistische Typologien der Kommunikation. de Gruyter, S. 144-163.
Knauth, Bettina/Wolff, Stephan (1991): Zur Fruchtbarkeit der Konversationsanalyse für die Untersuchung schriftlicher Texte – dargestellt am Fall der Präferenzorganisation in psychiatrischen “Obergutachten”. In: Zeitschrift für Soziologie 20/1, S. 36-49.
Meiler, Matthias (2013a/i.Dr.): Kommunikationsformenadressen oder: Prozeduren des Situationsvollzugs am Beispiel von Weblogs. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 2, S. 51-106.
Meiler, Matthias (2013): Geoberg.de – ein wissenschaftlicher Weblog. Kommunikationsform und institutionelle Position. In: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 2. S. 87-99.
Paßmann, Johannes/Gerlitz, Caroline (2013/i.Dr.): ‚Good‘ platform-political reasons for ‚bad‘ platform-data. Zur sozio-technischen Geschichte der Plattformaktivitäten Fav, Retweet und Like. In: Mediale Kontrolle unter Beobachtung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die strittige Gestaltung unserer Kommunikation. Dez. 2013.
Pentzold, Christian/Fraas, Claudia/Meier, Stefan (2013): Online-mediale Texte. Kommunikationsformen, Affordanzen, Interfaces. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik, 41(1), S. 81-101.
Pipek, Volkmar/Wulf, Volker (2009): Infrastructuring: Towards an Integrated Perspective on the Design and Use of Information Technology. In: Journal of the Association of Information Systems 10/5, S. 306-332 [zitiert nach dem PDF: 1-54].
Schabacher, Gabriele (2013): Mobilizing Transport. Media, Actor-Worlds, and Infrastructures. In: Transfers. International Journal of Mobility Studies 3 (1), S. 75-95.
Star, Susan Leigh/Bowker, Geoffrey C. (2002): How to Infrastructure. In: Lievrouw, Leah A./Livingstone, Sonia (Hg.): Handbook of New Media. Social Shaping and Consequences of ICTs. London et al., S. 151-162.
Wagner, Jörg (2002): Mensch-Computer-Interaktion. Sprachwissenschaftliche Aspekte. Lang.
- Die ethnografische Prämisse “Follow the natives!” erweist sich hier also als analytischer und vor allem konzeptueller Holzweg. Ethnokategorien und -methoden können den Blick für die beobachtbaren Sachverhalte auch verstellen.
- Wenngleich die analytischen Prämissen der KA gerade der Institutionsspezifik von Kommunikation aus dem Blick zu verlieren drohen (vgl. Deppermann 2013, 47).
- Im Übrigen sprechen gerade solche Ansätze der Sozioinformatik für eine Konzeptualisierung der Softwarenutzung als spezifisch zerdehnte Kommunikationssituation (vgl. Ehlich 1984) zwischen Entwicklern und Nutzern und nicht als Kommunikation zwischen Software und Nutzer.
- Dieser dispositive Charakter schließt selbstverständlich Veränderungen, die bottom up angeregt werden, nicht aus. Gerade Internetkommunikationsformen sind aufgrund ihrer Digitalität für solche Veränderungen besonders empfänglich. Eine bottom-up-Unidirektionalität trifft aber diese komplexen (dispositiven) Wirkzusammenhänge nicht zwangsläufig (vgl. Paßmann/Gerlitz 2013).
- Selbstverständlich stellen Browser, Betriebssystem und unterschiedliche Front-End-Devices weitere Infrastrukturschichten dar, die standardisiert ineinander greifen können müssen.