Transnationale Aspekte nationalistischer Bewegungen in Deutschland und Frankreich 1870-1914

wissembourgNationalismus und nationalistische Bewegungen werden in der Forschung gern komparativ betrachtet, aber kaum transnational. Das ist zunächst vielleicht nicht erstaunlich, denn „national“ und „transnational“ scheinen auf den ersten Blick Widersprüche zu sein, ist doch das Zweite in gewisser Weise die Transzendenz und Überhöhung des ersten.

Für die Arbeit an meinem Buchprojekt zur „Deutsch-französischen Geschichte 1870-1918“ stehe ich jedoch vor der Aufgabe, die Phänomene der Zeit mit einem transnationalen deutsch-französischen Blick zu betrachten und nach Berührungspunkten, Transfer und Austausch zu suchen. Das ist bei Themen wie “Pazifismus” oder “Sozialistische Internationale” sofort einsichtig und auch gut erforscht, bei einem Thema wie „Nationalistische Bewegungen“ jedoch nicht unbedingt.

Warum gibt es dazu für diese Epoche kaum Forschung? Zum einen waren die nationalistischen Bewegungen 1870-1914 in beiden Ländern – mit unterschiedlichen Konjunkturen – gegeneinander gerichtet. Zum anderen ist Transferforschung positiv besetzt, man untersucht positive Denkweisen und Fähigkeiten, die über regionale und nationale Grenzen weitergegeben und adaptiert wurden, nicht negativ besetzte Themen wie Antisemitismus oder Nationalismus. Die Transferforschung hat hier meiner Meinung nach einen blinden Fleck.

Doch Transfer und Berührungen gab es auch in Bezug auf die radikalen nationalistischen Bewegungen, die in Frankreich in den 1880er Jahren (Boulangismus, später die verschiedenen Ligen im Rahmen der Dreyfusaffäre sowie die Action française) und im Kaiserreich in den 1890er Jahren mit den Alldeutschen und den Völkischen entstanden sind, sowie bei den verschiedenen kryptopolitischen Bewegungen wie Kriegervereine oder Sportvereine.

Vier übergeordnete transnationale Aspekte des Nationalismus in Frankreich und Deutschland von 1870-1918 fallen mir ein, die unterschiedlich gut erforscht sind und zu denen ich mir mehr Forschungen sowie eine Synthese vorstellen könnte:

  • Ideengeschichtliche Wahrnehmungen und Transfers
  • Politische Maßnahmen
  • Kontakte und Transfer von Vereinen und Verbänden
  • Methodentransfer

Dazu im Folgenden einige Gedanken und Beispiele als erste Skizze für einen Vortrag, den ich am 19. September 2014 auf der diesjährigen Jahrestagung der GSA in Kansas City halte (Programm als PDF). Sie seien hier vorab zur Diskussion gestellt.

Ideengeschichtliche Wahrnehmung und Transfers

Die Forschung hat sich bisher überwiegend mit der Frage beschäftigt, inwiefern das eine Land in der Gedankenwelt des anderen Landes eine Rolle gespielt hat. Dieser Teil ist gerade zwischen Deutschland und Frankreich in den zahlreichen Studien über Deutschlandbilder etc. sehr gut erforscht1. Ebenso ausführlich hat sich die Forschung mit dem deutschen und das französischen Nationenkonzept beschäftigt, deren Dichotomie zwischen „objektivem“ ethnisch-kulturellem Konzept auf deutscher Seite und „subjektivem“ voluntaristischen Konzept auf französischer Seite weit weniger ausgeprägt war, als lange behauptet.

Doch daneben lassen sich weitere Punkte denken: Ideentransfer und Rezeption beispielsweise nationalistischer oder antisemitischer Ideologien. Der Blick wäre hier zu richten auf Übersetzungen von Büchern, Traktaten, Ereignissen und deren Rezeption in der Presse, Öffentlichkeit und bei einzelnen Personen. Um zwei Beispiele zu nennen, zu denen es seit kurzem Forschung gibt: Der „integrale Nationalismus“ von Charles Maurras etwa war ein „europäisches Phänomen“, wie eine Tagung jüngst auch für die Zeit vor 1914 nachweist2. Eine Auseinandersetzung mit seinen Thesen fand auch im Kaiserreich statt, wobei die Rezeption wohl über Österreich lief3. Maurice Barrès wiederum wurde im Kaiserreich als Schriftsteller bereits Ende der 1890er Jahre wahrgenommen. Die Auseinandersetzung mit seinen Werken verengte sich nach der Veröffentlichung seines Romans „Au service de l’Allemagne! (1905), der bereits 1907 auf Deutsch erschien, auf politische Inhalte4. Zum umgekehrten Fall, etwa die Wahrnehmung der Werke von Heinrich Claß in Frankreich, ist bisher nicht geforscht worden. Da die Nationalisten generell auf eine Verwissenschaftlichung ihrer Ideologien bedacht waren, ist eine Offenheit gegenüber anderen Thesen und Überlegungen jedoch sehr wahrscheinlich, auch wenn diese aus dem Land des “Erbfeinds” kommen.

Zu den ideengeschichtlichen Aspekten gehört auch die Erforschung nationaler Mythen. In der neueren Forschung wird die Konstruktion einer nationalen Doktrin als globaler und transnationaler Prozess beschrieben. So hat ein Netzwerk an europäischen Gelehrten nationale Epen wie die Nibelungensage gemeinsam wieder „entdeckt“ und zugänglich gemacht. Davon unberührt ist freilich die Tatsache, dass sich die Bemühungen zur Kreation und Festigung einer nationalen Kultur ganz überwiegend auf die eigene Nation bezogen, was manche Verschiedenheit in ihrer Ausprägung erklärt5. Hier gibt es jedoch Raum für weitere Untersuchungen, die sich auf die Epoche 1870-1918 beziehen.

Schließlich scheint auch die Idee für die Gründung nationalistischer Vereine aus anderen Ländern übernommen worden zu sein: Bekannt ist etwa, dass die imperialistischen Frauenverbände im Kaiserreich in Nachahmung polnischer Frauenverbände gegründet wurden6.

Politische Maßnahmen

Zu politischen Maßnahmen in transnationaler Perspektive gehört beispielsweise die gegenseitige Überwachung nationalistischer Gruppen. In Paris lebten um 1900 ca. 45.000 Deutsche, fast 2/3 davon waren Frauen, die als Dienstmädchen, als „bonne à tout faire“ in der französischen Hauptstadt arbeiteten. In dieser deutschen Auslandsgemeinde gab es um 1900 ca. 60 deutsche Vereine: von Gesangs- Sport- und Theatervereinen über Vereine von Lehrerinnen und einem Sozialdemokratischen Leseclub bis hin zu lokalen Ablegern des Deutschen Flottenvereins (1902 gegründet, 30 Mitglieder 1913), der Deutschen Kolonialgesellschaft sowie des Deutschen Schulvereins. Dieser richtete 1913 beispielsweise eine Feier aus zum 100. Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig, die auch im ganzen Kaiserreich begangen wurde7. In Paris ließ der dortige Schulverein Ringe produzieren mit der Inschrift „Gold gab ich für Eisen“, die laut französischem Polizeibericht für 1,25 Francs verkauft wurden. Die Aktivitäten der Vereine wurden von der französischen Polizei sehr genau überwacht, weil man bei ihnen pangermanistische Aktivitäten, Spionage und Unterwanderung vermutete.

Interessant ist hier der Unterschied zum staatlichen Umgang mit den sozialistischen und anarchistischen Bewegungen. Zwar wurden diese ebenso überwacht, insbesondere auch die ausländischen Gruppen in Paris. Doch kooperierten Deutschland und Frankreich hier international und tauschten Informationen aus. In Bezug auf die radikalen nationalistischen Vereine scheint dies – vielleicht mit Ausnahme von Elsass-Lothringen – nicht der Fall gewesen zu sein.

Kontakte und Transfers von Vereinen und Verbänden

Direkte deutsch-französische Kontakte gab es in Teilen auch zwischen einzelnen kryptopolitischen und nationalistischen Vereinen und Verbänden, was ebenfalls noch nicht für alle Bereiche hinreichend untersucht wurde. Die Sportvereine beispielsweise richteten internationale Treffen und Wettkämpfe aus. Antisemiten organisierten internationale Kongresse in den 1880er Jahren8. Die Kolonialvereine beider Länder waren eng vernetzt, wozu derzeit eine Dissertation entsteht9. Auch die Kriegervereine beider Länder organisierten in Elsass-Lothringen gemeinsame Gedenkfeiern zu Ehren der Gefallenen von 1870/71. Vor allem seit Mitte der 1890er Jahren kam es zu gemeinsamen Kranzniederlegungen und Gedenkveranstaltungen. 1908 wurde in Noieseville in Lothringen, 1909 in Geisberg bei Wissembourg im Elsass französische Denkmäler errichtet (siehe Abbildung)10.

Methodentransfer

Neu war an den nationalistischen Bewegungen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, dass es sich um Massenbewegungen handelte. Über den Einsatz von Massenpresse, Meetings, Demonstrationen, Petitionen etc. sollten die Massen (und hier in erster Linie die Verlierer der Moderne, also überwiegend der kleine Mittelstand, Beamte, Handwerker, Lehrer) in Empörung versetzt werden.

General Boulanger beispielsweise baute nicht nur eine eigene Pressestelle auf und publizierte eigene Zeitungen, sondern nutzte Mitteilungen, Aushänge, Flugblätter, Karikaturen, Lieder und Nippes für die Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Das Wissen um die Wirkung von Medien, Reden und charismatischen Auftritten brachte Boulanger von seinem Aufenthalt in den USA mit. Das ist ein Aspekt des Transfers bei nationalistischen Bewegungen, der noch nicht näher untersucht ist: Gab es Handbücher oder Anleitungen über den Einsatz von Medien, wie man vor Menschenmengen auftritt (damals ohne Mikrofon) und ähnliche Überlegungen?

Gleiches gilt für die Organisationsformen: Die nationalistischen Bewegungen waren nicht als Parteien organisiert, sondern als Vereine, Verbände und Ligen. Gab es ein Methodenwissen darüber, wie man solche Strukturen straff und effizient regional, national organisierte? Wo kam das Wissen darüber her oder lernte jede Organisation selbst? In Ländern wie Portugal, Spanien, Italien und Griechenland beispielsweise war die Organisationsform der „Action française“ „stilbildend“11 für dort entstehende nationalistische Verbände. Gab es ähnliche Transfers zwischen Deutschland und Frankreich?

 

Die Fragen nach transnationalen Aspekten nationalistischer Bewegungen scheinen mir nicht nur deshalb interessant, weil sie unsere Kenntnisse erweitern und nachweisen können, wie eng verflochten Ideen, Konzepte und Personen waren, sondern auch, weil sie parallel liefen zu einer Betonung des deutsch-französischen Antagonismus, was auch in hermeneutischer Hinsicht noch auszuwerten wäre. Vielfach handelt es sich um mühevolle Puzzelearbeit, um die einzelnen Aspekte zusammenzutragen, zumal diese dann in ein Gesamtbild einzufügen sind, das nicht nur aus der Addition dieser Einzelaspekte bestehen kann. Die Arbeit scheint sich jedoch zu lohnen.

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Abbildung: Deutsch-französische Einweihung des französischen Soldatendenkmals am 17. Oktober 1909 in Wissembourg, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b69124961.

 

  1. Grundlegend für die Epoche nach wie vor Claude Digeon, La crise allemande de la pensée française, Paris 1959 sowie Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992.
  2. Olivier Dard, Michel Grunewald (Hg.), Charles Maurras et l’étranger. L’étranger et Charles Maurras : l’action française, culture, politique, société, New York 2009
  3. Hans Manfred Bock, Traditionalisme, passéisme, protofascisme. Perceptions de Charles Maurras en Allemagne, in: Dard, Grunewald, Charles Maurras et l‘étranger 2009, S. 359–378, hier: S. 359
  4. Vgl. Olivier Dard, Michel Grunewald (Hg), Maurice Barrès, la Lorraine, la France et l’étranger, Bern 2011; Wiebke Bendrath, Ich, Region, Nation:  Maurice Barrès im französischen Identitätsdiskurs seiner Zeit und seine Rezeption in Deutschland, Tübingen 2003.
  5. Vgl. John Breuilly, The Oxford-Handbook of the History of Nationalism, Oxford 2013, S. 151.
  6. Birthe Kundrus, Weiblicher Kulturimperialismus. Die imperialistischen Frauenverbände des Kaiserreichs, in: Sebastian Konrad, Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004, S. 213-235.
  7. Vgl. Mareike König, Celebrating the Kaiser’s Birthday. German Migrants in Paris after the Franco-Prussian War 1870-1871, in: Dies., Rainer Ohliger (Hg.), Enlarging European Memory. Migration Mouvements in Historical Perspectives, Ostfildern 2006, S. 71-84, online: http://www.perspectivia.net/content/publikationen/bdf/koenig-ohliger_memory/koenig_birthday.
  8. Vgl. Ulrich Wyrwa, Die Internationalen Antijüdischen Kongresse von 1882 und 1883 in Dresden und Chemnitz. Zum Antisemitismus als europäische Bewegung, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009 <http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=362>.
  9. Vgl. Florian Wagner, http://19jhdhip.hypotheses.org/1198
  10. Vgl. dazu die Arbeiten von Annette Maas, z.B. Der Kult der toten Krieger. Frankreich und Deutschland nach 1870/71, in: Étienne François, Hannes Sigrist, Jakob Vogel (Hg.), Nation und Emotion: Deutschland und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1995 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, S. 215–230.
  11. Siegfried Weichlein, Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa, Darmstadt 2006, S. 105.

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/2004

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