Das neue Jahr hat längst begonnen, und damit auch ein neues Blog-Jahr. Ich beginne es mit guten Vorsätzen (die ich jedoch für mich behalte), und mit einer aktualisierten Beschreibung meines Forschungsprojekts. Seit einigen Wochen ist dieser Text auch auf meiner dienstlichen Homepage zu lesen; hier hoffe ich vor allem auf neue, andere Leser – und auf Kommentare, Hinweise, Diskussionen. Ich freue mich auf ein reges 2014!
Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, mit regionalen und nationalen Eigenzeiten, wandelten sich mitteleuropäische Gesellschaften von Agrar- zu Industriegesellschaften, wobei regional und national große Unterschiede zu beobachten sind. Diese Transformationen betrafen längst nicht nur die Wirtschaftsweise, sondern wirkten sich auf alle Bereiche des Lebens aus. Wie Gunther Mai gezeigt hat, verlief die „agrarische Transition“ etwa im politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Bereich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, was zu Ungleichzeitigkeiten, Spannungen und Konflikten führte. Ausgehend von diesen Überlegungen zur Makroebene europäischer Gesellschaften setzt mein Projekt auf der Mikroebene an und fragt danach, ob, und wenn ja, in welchen Formen, diese agrarische Transition in lokalen Kontexten stattfand und sich niederschlug. Ich frage danach, wie ländliche Mikrogesellschaften, genauer gesagt agrarisch geprägte Dorfgemeinden, den gesamtgesellschaftlichen Wandel wahrnahmen, wie sie ihn verarbeiteten und für sich gestalteten. Dabei gehe ich zunächst davon aus, dass die Makroprozesse sich nicht eins zu eins auf der Mikroebene niederschlugen, dass andererseits aber die lokalen Mikrogesellschaften spätestens im untersuchten Zeitraum eng in größere Kontexte eingebunden waren. Das Projekt basiert nicht auf der Gegenüberstellung von Land und Stadt oder lokalen Gemeinschaften und nationaler Gesellschaft, sondern fasst ländliche Mikrogesellschaften als Kontaktzonen auf, in denen unterschiedliche Interessen und Machtverhältnisse, Praktiken und diskursive Ordnungen miteinander interferierten.
Zur Beobachtung des gesamteuropäisch feststellbaren sozialen Wandels wird in der diachron angelegten Studie der Bereich der Politik als Untersuchungsgegenstand gewählt. Zum einen dient er pars pro toto als Indikator für gesellschaftlichen Wandel in einer funktional differenzierten Gesellschaft; zum anderen kann der Bereich des Politischen als besonders dominante Sphäre im Untersuchungszeitraum ausgemacht werden: Viele soziale, kulturelle und wirtschaftliche Fragen wurden politisiert, der politischen Bearbeitung unterworfen. Für diese Anlage des Projekts ist ein breiter Politikbegriff notwendig, der Handlungs- und Kommunikationspraktiken ebenso umfasst wie diskursive und symbolische Systeme.
Um die Komplexität politischer Prozesse im Lokalen adäquat untersuchen zu können, werden ländliche Mikrogesellschaften sowohl als politische Akteure wie auch als politische Räume begriffen:
- Als politische Akteure treten Dorfgemeinden vor allem als Gemeinderat oder Gemeindeverwaltung in Erscheinung. Gegenüber anderen Gemeinden, den übergeordneten Verwaltungsebenen, externen Akteuren und der eigenen Bevölkerung agieren Dorfgemeinden politisch, indem sie (vermeintliche) Kollektivinteressen artikulieren und durchzusetzen versuchen.
- Gleichzeitig waren die Gemeinden Räume, die durch politische Prozesse und Konflikte geprägt wurden. Wer wurde durch die Dorfgemeinde überhaupt repräsentiert? Welche Machtverhältnisse strukturierten die Gemeinde? Wer handelte politisch – etwa jenseits der „großen Männer“ innerhalb des Dorfes auch Vereine und Verbände, unterprivilegierte Gruppen, die Kirchen, Unternehmen oder Touristen?
Die Studie kombiniert dabei diachrone und synchrone Ansätze. So sollen zum einen langfristige Konjunkturen sichtbar gemacht werden (etwa in der Arbeit des Gemeinderates, der Wahlbeteiligung oder auch der Partizipationspraxis), zum anderen werden „lokale Momente“ ausfindig gemacht, die als zeitliche Verdichtungen von Wandlungsprozessen und Dynamiken analysiert werden können. Umbruchphasen und Krisen, die nicht immer mit den bekannten Ereignissen der „großen“ Geschichte zusammenfallen, veränderten Handlungsoptionen und Deutungsmuster ebenso wie Gestaltungsperspektiven der lokalen Akteure.
Die Studie setzt sich mehrere Ziele:
- Es sollen verschiedene Formen der Politisierung in ländlichen Gemeinden identifiziert werden. Ausgehend von einem bestimmten Gemeindetypus, nämlich einem postkommunalistischen zentraleuropäischen Typ (anhand von bayerischen, elsässischen und schweizerischen Beispielen), soll der Einfluss von Selbstverwaltungstraditionen und –formen auf Politisierungsprozesse untersucht werden. Ziel ist es, sowohl diachron als auch synchron zu einer Typenbildung beizutragen.
- Zweitens sollen dadurch ländliche Gemeinden als wichtiger Bestandteil gesamtgesellschaftlicher Mobilisierungsprozesse sichtbar gemacht werden. Gerade für den Zeitraum ab 1850 interessierte sich die Geschichtswissenschaft bislang vor allem für städtische Politisierungs- und Mobilisierungsprozesse, während ländliche Mikrogesellschaften kaum beachtet wurden.
- Drittens dient die Studie der Erprobung globalgeschichtlicher Methodensets für die problemorientierte Bearbeitung lokaler Gesellschaften in Zentraleuropa. Welche Methoden der global studies können hier gewinnbringend eingesetzt werden? Wie können diese Methoden für die peripheren Regionen in Europa angepasst und weiterentwickelt werden?
Quelle: http://uegg.hypotheses.org/248