Ein Fallbeispiel einer interkontinentalen Überfahrt oder: “I had no wish to raise dissension on board the ship“

Das Titelblatt der Schiffszeitung The Gull

Das Titelblatt der Schiffszeitung The Gull

Vor etwa einem Jahr habe ich das Thema meines Promotionsprojekts bereits auf diesem Blog vorgestellt. In der Zwischenzeit hat sich einiges getan: Die Fragestellung hat sich weiterentwickelt, neue Schwerpunkte und Ansätze haben frühere Ideen ersetzt. Doch in diesem Beitrag soll es weniger um das Projekt im Allgemeinen gehen. Vielmehr möchte ich mich mit einem Einzelfall beschäftigen, um die Forschungsfragen aus meinem letzten Blogbeitrag durch ein konkretes Beispiel anschaulicher zu machen.

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Auf ihrer viermonatigen Reise von Glasgow nach Brisbane im Jahr 1884 transportiert das Schiff Otago 358 Zwischendeckpassagiere, 45 Crewmitglieder sowie drei Passagiere, die in der ersten Klasse reisen. Einer von ihnen, Keith Cameron, gründet einen Monat nach der Abreise aus Glasgow die Schiffszeitung The Gull. Bereits im ersten Editorial kündigt er die spätere Veröffentlichung der Zeitung in Buchform an, was sowohl eine Verstetigung als auch eine Transformation der handgeschriebenen Texte, die während der Überfahrt auf dem Schiff zirkulieren, darstellt. Dies ist auch die Form, in der uns die Quelle heute zugänglich ist: Die Zeitung wurde zusammen mit zahlreichen anderen Dokumenten, die diese Überfahrt beschreiben (u.a. mit der Passagierliste, dem Logbuch des Schiffs, einer Weltkarte der Route etc.) gebunden und noch 1884 in Brisbane veröffentlicht. Die Hauptziele der Zeitung an Bord nennt der Herausgeber gleich zu Beginn: Sie soll den Passagieren während der Überfahrt die Zeit vertreiben und zum allgemeinen Amüsement beitragen. Auf diesen Charakter der Publikation weisen u.a. Gedichte, Wortwitze, Rätsel sowie die recht platzeinnehmenden Kurzgeschichten des Herausgebers hin.

Was bei dieser Publikation jedoch besonders interessant ist, ist die Form, wie sich innere Konflikte und Machtverhältnissen durch die Zeitung abbilden. Wie bereits erwähnt, reisen lediglich drei Kabinenpassagiere auf diesem Schiff, alle anderen Mitreisenden sind Zwischendeckpassagiere und zum größten Teil Emigranten. Dies ist ungewöhnlich, da Schiffszeitungen oftmals ausschließlich von und für die Kabinenpassagiere herausgegeben wurden. An Bord der Otago jedoch verläuft die Publikation anders: Zwar reist der Herausgeber Keith Cameron in der Ersten Klasse, aber einige Beiträge kommen aus dem Zwischendeck und auch mehrere Mitglieder der Crew sind beteiligt, sodass es sich bei The Gull um eine dem gesamten Schiff zugängliche Publikationsplattform handelt.

Die Route der Otago, gezeichnet auf einer Weltkarte von James Orr, einem Kabinenpassagier der Überfahrt

Während der viermonatigen Überfahrt (und auch darüber hinaus) entwickelt sich jedoch ein Konflikt, bei dem auf der einen Seite die Besatzung, allen voran der Schiffsarzt und der Kapitän, auf der anderen Seite die Zwischendeckpassagiere und ihr selbsternannter Wortführer, der Herausgeber der Schiffszeitung, Keith Cameron, stehen. Das Grundproblem war dabei ein altbekanntes: Die Versorgung der Zwischendeckpassagiere war während dieser Überfahrt alles andere als optimal. Sie beklagen u.a. die schlechte Qualität des Essens, den Mangel an Wasser und die Ignoranz des Schiffsarztes. Diese Beschwerden finden zunächst keinen Widerhall in der Schiffszeitung, da deren Herausgeber Cameron fürchtet, dass zu harsche Kritik am Führungsstil zu einem Verbot seiner Zeitung – die gleichzeitig auch die Bühne für seine literarischen Ergüsse ist – führen könnte. Nicht zu Unrecht, wie sich herausstellen sollte.

Nach einigen Wochen, am 17. April, kommt es an Bord zu einem Streit zwischen dem Kapitän und dem Schiffsarzt auf der einen und Cameron auf der anderen Seite. Letzterer spricht sich für eine bessere Versorgung der Zwischendeckpassagiere aus und kündigt vor allem an, seine Zeitung nach der Ankunft in Brisbane als Zeugnis der wahren Zustände an Bord der Otago zu veröffentlichen. Ihm wird daraufhin vom Kapitän vorgeworfen, die Zwischendeckpassagiere gegen die Besatzung und vor allem gegen den Schiffsarzt aufzuwiegeln.

Illustration der Schiffszeitun. "THE MUSTER. This was held after we were thirteen weeks on board, and immediately following on the doctor being informed that Mr. Cameron really intended exposing the true state of affairs."

Illustration der Schiffszeitung, Bildunterschrift :
“THE MUSTER. This was held after we were thirteen weeks on board, and immediately following on the doctor being informed that Mr. Cameron really intended exposing the true state of affairs.”

Zudem sei er beobachtet worden, wie er die Quartiere im Zwischendeck ausmesse, um zu beweisen, dass die Passagiere dort unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht seien (Cameron bestreitet diese Aktion jedoch). Die Zwischendeckpassagiere selbst haben zeitgleich eine Petition verfasst, die sie nach Ankunft in Brisbane dem Emmigration Board vorlegen wollen, um auf die schlechten Bedingungen an Bord der Otago hinzuweisen. Dies schreckt den Kapitän auf, und den Emigranten wird angedroht, ihre Koffer und sämtlichen Besitztümer nach der bereits von zahlreichen Passagieren unterschriebenen Petition zu durchsuchen (was jedoch letztendlich nicht umgesetzt wird).

Es herrscht also eine offene Konfliktsituation. Die Zwischendeckpassagiere sind aufgebracht ob ihrer schlechten Versorgung, Cameron inszeniert sich als ihr Fürsprecher und der Schiffsarzt sowie der Kapitän wollen sich nicht in ihrem Führungsstil beeinflussen lassen.

Dieser Konflikt an Bord des Schiffes, der auch ganz klar ein Interessenkonflikt ist, spiegelt sich in der Produktion der Schiffszeitung The Gull. Mit der neunten Ausgabe, die am 19. April erscheint, zwei Tage nach besagtem Streit, zieht sich der Schiffsarzt Dr. MacDonald von der Publikation zurück – er hatte zuvor kurze Berichte über den allgemeinen Gesundheitszustand der Passagiere darin veröffentlicht. Die zwei Vorleser, die dafür gesorgt hatten, dass die Zeitung publik wurde, treten gleichzeitig von diesem Amt ab: „to side with the reigning power on board“, wie Cameron vermutet. Zwar soll einer seiner Mitpassagiere der Ersten Klasse das öffentliche Vorlesen der Zeitung übernehmen, doch just in diesem Moment wird den Passagieren der Ersten Klasse verboten, sich jenseits des Hauptmasts aufzuhalten, was de facto heißt, dass sie keinen Kontakt mehr zu den Zwischendeckpassagieren haben. Ob dieses Vorgehens rechtens ist, bleibt unklar. Aber um weitere Unruhe auf dem Schiff zu verhindern („to avoid a disturbance“) halten sich die drei Kabinenpassagiere einschließlich Cameron an dieses Verbot. The Gull wird noch weitere vier Ausgaben lang „publiziert“ – nun mit offensichtlich sehr begrenzter Leserschaft – und die Otago erreicht am 24. Mai ohne weitere Vorkommnisse ihren Zielhafen Brisbane.         

Dieser Fall ist ein anschauliches Beispiel, welche Rollen Machtverhältnisse, soziale Abhängigkeiten und Klassenunterschiede für das Erlebnis einer interkontinentalen Überfahrt spielen. Auch wird deutlich, wie sich Schiffszeitungen als bisher unerforschtes Quellenmaterial nicht nur eignen, solche Konflikte nachzuzeichnen, sondern diese auch selbst in ihrem Produktions- und Publikationskontext abbilden. Dabei ist bei diesem Beispiel das jeweilige Verhalten der Passagiere bzw. Passagiergruppen auffallend: Der sich wortgewaltig ereifernde Cameron gehorcht stillschweigend, als er im wahrsten Sinne des Wortes in seine Schranken verwiesen wird, wohingegen die „hilflosen“ Emigranten den „rücksichtlosen“ Schiffsarzt und den Kapitän nach der Ankunft mit ihrer Petition in Bedrängnis bringen. Denn die Geschichte ist mit der Ankunft des Schiffes in Brisbane ganz offensichtlich noch nicht vorbei. Wie sich Cameron als Retter der Hilflosen und als begnadeter Autor inszeniert (unter anderem durch erboste Briefe an die Lokalpresse), was die Emigranten in ihren Beschwerdebriefen beklagen und wie die offizielle Untersuchung dieses Falls beim Emmigration Board ausging, kann ausführlich im Digitalisat der Quelle in der National Library of Australia nachgelesen werden.

Alle Abbildungen: National Library of Australia.

Bibliographische Angabe:  Keith Cameron (Hrgs.): The Gull: A weekly newspaper published on board the „Otago“ during a four months’ voyage from Glasgow to Brisbane, Brisbane, Woodcock, Powell & Mellefont, 1884.

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/1832

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