Konrad Adenauer wird von Zeitgenossen als geduldiger Zuhörer geschildert, solange es konzentriert um die Sache ging. “Eins aber haßte der Kanzler, nämlich Palaver” (Richard Stücklen in Schwarz 1991: 22).
Jede gute Vorzimmerkraft hat Mittel und Wege, den Chef aus endlosen Gesprächen zu befreien. Anneliese Poppinga, seit 1958 Adenauers Sekretärin, reichte ihm Nachrichten wie die folgende herein, die vor einigen Jahren in den Autographenhandel kam. Die Frankfurter Allgemeine berichtete seinerzeit über dieses Stück.
Was ist das – aktenkundlich gesehen? Innerdienstlicher Schriftverkehr des Palais Schaumburg, zweifellos. Solcher Schriftverkehr begegnet in zwei Stilformen (vgl. Meisner 1969: 194; Kloosterhuis 1999: 469):
- Als innerdienstliche Verkehrsschriftstücke, die sich an den Formen der an externe Empfänger gerichteten Schreiben orientieren,
- als Aufzeichnungen, die von der Form her eigentlich immobile Aktenvermerke sind, aber von der Funktion her als Verkehrsschriftstücke dienen; der Aktenvermerk bekommt Beine.
Die persönliche Anrede im vorliegenden Stück verweist eindeutig auf ein innerdienstliches Verkehrsschriftstück. In einer Aufzeichnung würde an ihre Stelle eine entsprechende Überschrift treten, und unter dem Text würde ein Vorlagevermerk in der damals noch üblichen Art stehen:
Hiermit
Herrn Bundeskanzler
ergebenst vorgelegt.
Und da hier von der Sekretärin an den Kanzler, also von “unten” nach “oben”, über einen Sachverhalt, nämlich die verflossene Zeit, berichtet wird, müsste es sich nach der klassischen aktenkundlichen Lehre um einen innerdienstlichen Bericht mit einer (impliziten) Bitte um Weisung handeln. Die Weisung, ihn nicht zu stören, hat Adenauer dann unmittelbar aufgesetzt.
An sich wurde und wird in der Ministerialbürokratie für diesen Kommunikationsweg die alternative Form der Aufzeichnung benutzt, die heute, in gewandelter Form, als Leitungsvorlage bezeichnet wird (vgl. meinen Artikel vom 29. August 2014). Für die Kommunikation zwischen Chef und Vorzimmer wäre dieses bürokratische Vehikel aber völlig überzogen.
Dann heißt es in der FAZ aber, der Text stünde auf einem Briefbogen des Bundeskanzlers. (Es ist nicht ersichtlich, wie der Ausschnitt der Abbildung gewählt wurde, und welcher Adressblock mit “Bonn am Rhein” sich da im rechten Viertel durchdrückt.) Ein Kopfbogen würde natürlich zu keiner Form innerdienstlichen Schriftverkehrs passen, selbst wenn man die persönliche Bezeichnung “Der Bundeskanzler” zugleich als Behördenbezeichnung nimmt, wie es bei den meisten Bundesministerien ja bis in die Neunzigerjahre offiziell der Fall war.
An diesem Punkt der Untersuchung muss sich die Aktenkunde die Sinnfrage gefallen lassen. Wir befinden uns außerhalb der Zone bürokratischer Standardisierung der Schriftlichkeit, von der die Systematische Aktenkunde, die ein Schriftstück nach Form und Funktion bestimmen soll, ausgeht (Beck 2000: 68). Die klassische Lehre scheint mir doch stark von normiert arbeitender Verwaltung im engeren Sinne geprägt zu sein. Im Umfeld der politischen Entscheidungsträger spielt die Form der produzierten Schriftstücke eine weit geringere Rolle.
Die Verfasserin hätte ihre kurze Nachricht, die sie dem Bundeskanzler verdeckt in einer Laufmape gebracht haben wird, im Grunde auch auf ein Formular für “Büronotizen” schreiben können – so würden Verwaltungspraktiker das Stück ansprechen.
Aktenkundlich reflektiert ist dieser Begriff nicht. Ein zu hohes Niveau begrifflicher Abstraktion leistet der Rezeption der Aktenkunde durch im Archiv arbeitende Historiker meiner Meinung nach aber einen Bärendienst.
Ich danke Dr. Peter Wiegand, Hauptstaatsarchiv Dresden, für den Hinweis auf dieses Stück und Frau Antje Winter, Stadtarchiv Troisdorf, für Informationen zum Gebrauch in Adenauers Büro.
Literatur
Beck, Lorenz Friedrich 2000. Leistung und Methoden der Aktenkunde bei der Interpretation formalisierter Merkmale von historischen Verwaltungsschriftgut. In: Brübach, Nils, Hg. 2000. Der Zugang zu Verwaltungsinformationen: Transparenz als archivische Dienstleistung. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 33. Marburg. S. 67–79.
Kloosterhuis, Jürgen 1999. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Ein hilfswissenschaftliches Kompendium. In: Archiv für Diplomatik 45, S. 465–563 (Preprint).
Meisner, Heinrich Otto 1969. Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918. Leipzig.
Schwarz, Hans-Peter, Hg. 1991. Konrad Adenauers Regierungsstil. Rhöndorfer Gespräche 11. Bonn.