Konzepte von Geschlecht strukturieren alle Aspekte des menschlichen Lebens, hier können die Gender Studies auf eine Vielzahl von Forschungsergebnissen verweisen. Doch welche Rolle spielen diese kulturellen Vorstellungen für die Form und Funktion von Städten und deren Teilräume? Diese Frage ist besonders in den historischen Wissenschaften bisher kaum beachtet worden, der Forschungsstand der Geschichtswissenschaften hierzu gleicht einer tabula rasa. So es Ziel des Dissertations-Projektes ‘Gendertopografie’, offen zu legen, wie Geschlechtsidentitäten urbanen Raum strukturieren können und die Topografie europäischer Städte prägen.
Der Begriff Gendertopografie meint die Beschreibung und die damit einhergehende Analyse des Raumes und der räumlichen Beziehungen zwischen Orten und Objekten sowie den AkteurInnen unter dem Gesichtspunkt von Gender. Dabei kommt ein relationaler Raumbegriff zur Anwendung, wie er in der Raumsoziologie entwickelt wurde.
Untersucht wird ein Zeitrahmen vom beginnenden 19. Jahrhundert bis zur Zwischenkriegszeit. Der Hauptfokus liegt allerdings auf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Aus gedachten ‚offenen Enden‘ der Kernzeit leitet sich der größere Zeitrahmen ab. Diese offenen Enden sind nötig, da viele stadtplanerischen Maßnahmen und Bauvorhaben Langzeitprojekte waren. Auch auf Grund der theoretischen Ausgangsbasis des Projekts (‚hegemoniale Männlichkeit‘) ist es sinnvoll, die Analyse mit dem 19. Jahrhundert zu beginnen, da hier davon ausgegangen wird, das spätestens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein bestimmtes Verständnis der Geschlechter gesamtgesellschaftlich wirksam war. Ausschlaggebender Grund für den Zeitrahmen ist jedoch die Entwicklung der Städte in Europa selbst. Vor allem mit dem 19. Jahrhundert kam es durch Verstädterung und Industrialisierung zu einem enormen Anstieg der Bautätigkeit und von stadtplanerischen Maßnahmen. Das trifft besonders auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu. Analysiert werde Wien und Paris: Beide waren Metropolen von europäischem Rang, Millionenstädte und Repräsentantinnen einer europäischen Stadtkultur mit einer tief geschichteten Vergangenheit, die, trotz aller Unterschiede, bestens vergleichbar sind. Ihre Funktion als Primatstädte zweier europäischer Großmächte und Innenstädte, die hauptsächlich aus noch intakter Bausubstanz des 19. Jahrhunderts bestehen, sind zwei der wesentlichsten Kriterien der Vergleichbarkeit.
Als Quellen dienen einerseits die urbanen Räume selbst – von Inneneinrichtungen, Außengestaltungen von Gebäuden über Monumente und Plätze bis hin zu ganzen städtischen (Teil-) Räumen, von einzelnen Artefakten und Kunstwerken bis zur Architektur und Stadtplanung. Andererseits werden Quellen berücksichtigt, die Auskunft geben können über das frühere Erscheinungsbild der Stadt und die Beziehung zwischen der Gestalt des Stadtkörpers und kulturellen Praxen: Dokumente zu InitiatorInnen, AuftraggeberInnen, PlanerInnen, ArchitektInnen, KünstlerInnen, anderen Beteiligten und deren Intentionen – sowie Materialien zu den Reaktionen der EinwohnerInnen besonders zu Maßnahmen der Stadtplanung (hauptsächlich Zeitungsartikel). In den Fokus kommen diejenigen Räume, die repräsentativen Zwecken dienten und sich deshalb im Innenstadtbereich befinden.
Eingebettet in eine kulturhistorische Herangehensweise bildet der Ansatz der ‚hegemonialen Männlichkeit‘ den theoretischen Referenzrahmen des Projekts. Dieser Ansatz bietet eine geeignete Ausgangsbasis zur Erklärung jeweils zeitgenössisch vorherrschender Geschlechterkonzepte und stellt in den Gender Studies sowie in steigendem Ausmaß auch in der Geschlechtergeschichte eine der wichtigsten theoretischen Grundlagen dar. Anders als in den Queer Studies, die den Blick gelegentlich auf queere Aneignungen städtischen Raumes richten, geht es im Rahmen des Projektes um hegemoniale Genderkonzepte, die allerdings nicht ohne Marginalisierte gedacht werden können. Untersucht wird der Raum mit den Methoden der Diskursanalyse und Stadtsemiotik. Der Begriff ‚Stadtsemiotik‘ meint ein innovatives semiotisches Verfahren, das es ermöglicht, Raum lesbar zu machen – ausgehend von der Annahme, dass sich soziale und kulturelle Kontexte auch immer in der vom Menschen geschaffenen Umwelt abbilden. Dabei ist ein in weiten Teilen interdisziplinäres Vorgehen unabdingbar. Wissensbestände, Theorien und Methoden aus den Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaften – besonders der Architekturtheorie, Kunstgeschichte, Stadt- und Raumsoziologie sowie der Europäischen Ethnologie – werden integriert, um wissenschaftliches Neuland zu betreten und eine auffällige Forschungslücke zu schließen.