I. Bei der Frage, inwieweit die Erkenntnisse der Neurowissenschaften die Willensfreiheit in Zweifel ziehen, ist es sinnvoll zu unterscheiden zwischen einer grundsätzlichen Kritik an der Willensfreiheit als Grundlage des Strafrechts und der auf einen konkreten Fall bezogenen Argumentation, dass ein spezifischer Straftäter aufgrund neurowissenschaftlicher Befunde als unzurechnungsfähig einzustufen sei.
1. Die grundsätzliche Kritik aus der Perspektive des Determinismus, dass alle menschlichen Handlungen das zwangsläufige Resultat von inneren und äußeren Kausalfaktoren sind und es somit keine Willensfreiheit gibt, hat ein lange Geschichte und ist nicht an neurowissenschaftliche Erklärungsmuster gebunden. Im Bereich des Strafrechts wurde solch eine Kritik schon Ende des 19. Jahrhunderts artikuliert, als die Vorreiter der Kriminologie begannen, Kriminalität als Produkt sozialer und biologischer Ursachen zu erklären. Wie schon damals argumentiert wurde, kann das Strafrecht auf die Willensfreiheit verzichten, wenn man die Vergeltung als Strafzweck ausschaltet und das Strafrecht allein auf den Zweck des Gesellschaftsschutzes ausrichtet. Dann wird jeder Rechtsbrecher den individualisierten Maßnahmen unterworfen, die notwendig sind um ihn von zukünftigen Straftaten abzuhalten. Ob der Rechtsbrecher schuldfähig ist, ist in einer solchen Strafjustiz irrelevant. Die Aussichten, dass solch eine deterministische Kritik das existierende Strafrecht erschüttert oder transformiert, sind gering.
2. Die Frage, ob die Neurowissenschaften eine Rolle im Nachweis der Unzurechnungsfähigkeit eines konkreten Angeklagten spielen können, ist eine andere. Hier geht es nach dem deutschen Strafgesetzbuch darum, ob eine “krankhafte seelische Störung”, “tiefgreifende Bewusstseinsstörung”, “Schwachsinn” oder eine “schwere seelische Abartigkeit” vorliegt, die den Täter unfähig macht, “das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln”. (§ 20 StGB) Es ist sicherlich denkbar, dass die Neurowissenschaften soweit fortschreiten, dass sie Beweise für medizinische Diagnosen liefern können, die die Schuldfähigkeit ausschließen. Davon sind die Neurowissenschaften zurzeit jedoch weit entfernt.
II. Die Implikationen der Neurowissenschaften für die Strafjustiz und Kriminalpolitik sind nicht auf die Frage der Willensfreiheit und Schuldfähigkeit begrenzt. Zurzeit scheint es wahrscheinlich, dass ihr Einfluss in zwei anderen Bereichen stärker sein wird: erstens im Bereich der sichernden und bessernden Maßnahmen für rückfallgefährdete Täter, und zweitens im Bereich der Verbrechensprävention.
1. Schon im Kaiserreich forderten Strafrechtsreformer, dass die Strafjustiz nicht primär Vergeltung für vergangene Straftaten üben, sondern die Gesellschaft vor zukünftigen Straftaten schützen solle. Dies bedeutete, dass Verurteilte, je nach ihrer sozialen Prognose, denjenigen individualisierten Maßnahmen unterzogen werden sollten, die notwendig waren, um sie von weiteren Verbrechen abzuhalten. Die wichtigsten Maßnahmen der Besserung und Sicherung im gegenwärtigen deutschen Strafrecht sind die 1970 eingeführten sozialtherapeutischen Einrichtungen, in die Gefangene während des Strafvollzuges verlegt werden können bzw. (im Falle von Sexualstraftätern) müssen, und die 1933 eingeführte, 2011 für verfassungswidrig erklärte und 2013 reformierte Sicherungsverwahrung, die sich an den Strafvollzug anschließt. In den USA und Großbritannien erfüllt das “civil commitment” von Sexualstraftätern die Funktion der deutschen Sicherungsverwahrung. Sowohl die sozialtherapeutischen Einrichtungen als auch die Sicherungsverwahrung werden ein wichtiges Wirkungsfeld für die Neurowissenschaften bieten. Denn deren Anspruch, die Anomalien im Gehirn – und vielleicht auch in den Genen – vor allem von Gewalttätern nachzuweisen, wird Auswirkungen darauf haben, wer als gefährlich eingestuft und deshalb in Sozialtherapie bzw. Sicherungsverwahrung genommen wird und wie diese Straftäter zu therapieren sind. Eine Pilotstudie zu “neurofeedback” unter Leitung des Hirnforschers Niels Birbaumer findet bereits an zwei bayerischen Gefängnissen statt.
2. Die Neurowissenschaften tragen dazu bei, im Bereich der Verbrechensprävention ein “screen and intervene” Paradigma (Nikolas Rose/Joelle Abi-Rached) zu etablieren, welches das Netz der sozialen Kontrolle auf nichtdelinquente Personen, vor allem Jugendliche, ausweitet, die angeblich ein erhöhtes Risiko von kriminellem Verhalten darstellen. Besonders einflussreich sind hier neurowissenschaftliche Reihenuntersuchungen wie die von Caspi und Moffit (2002), die die These aufgestellt haben, dass Kindesmisshandlungen diejenigen Kinder am stärksten zu Gewalthandlungen als Erwachsene prädisponieren, die einen niedrigen MAOA Spiegel aufweisen. Solche Forscher behaupten nicht, ein “kriminelles Gen” gefunden zu haben, aber doch einen biologischen – vielleicht sogar genetischen – Faktor, der die Anfälligkeit für gewalttätiges oder aggressives Verhalten erheblich erhöht. Solche Forschungen haben in den USA und England neuen Programmen in “early childhood intervention” Auftrieb gegeben. Obwohl diese Programme zurzeit bei Diagnose und Therapie noch mit konventionellen Mitteln der Sozialarbeit arbeiten, ist zu erwarten, dass die Neurowissenschaften in absehbarer Zeit neue Methoden der Diagnose und der Therapie anbieten werden. Die Erfahrungen mit der Diagnose von Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und dem Verschreiben von Ritalin bei amerikanischen Schulkindern zeigen, wie schnell die Biologisierung von auffälligem Verhalten von großen Teilen einer Gesellschaft akzeptiert werden kann.
III. Die besten neurowissenschaftlichen Forschungen räumen stets ein, dass aggressives oder gewalttätiges Verhalten nie allein auf biologische oder genetische Faktoren zurückgeführt werden kann, sondern immer nur aus der Interaktion solcher Merkmale mit Umweltfaktoren hervorgeht. Da auch die Neurowissenschaften somit nicht in Abrede stellen, dass Verbesserungen der sozialen Umwelt ein effektives Mittel der Kriminalitätsbekämpfung bleiben, stellt sich die Frage: Warum finden wir als Gesellschaft es so attraktiv, uns bei der Kriminalitätsprävention auf die Einwirkung auf einzelne “gefährdeten” Individuen zu konzentrieren statt die gesamte soziale Umwelt durch soziale Reformen und Sozialarbeit zu verbessern? Während die neurowissenschaftliche Identifikation von individuellen Risikofaktoren weiterhin Zukunftsmusik ist, sind die wichtigsten sozialen Faktoren der Kriminalität seit langem bekannt. Wir müssen nur bereit sein, die Ressourcen zu investieren.
Dr. Richard F. Wetzell
ist Research Fellow am Deutschen Historischen Institut in Washington, einem Institut der Max Weber Stiftung. Seine Forschung konzentriert sich auf den Schnittpunkt von Rechtsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Politikgeschichte.
Relevante Veröffentlichungen: „Bio-Wissenschaften und Kriminalität: Eine historische Perspektive“, in: Lorenz Böllinger, u.a (Hrsg), Gefährliche Menschenbilder: Biowissenschaften, Gesellschaft und Kriminalität (Baden-Baden: Nomos, 2010), 315-328; Inventing the Criminal: A History of German Criminology, 1880-1945 (Chapel Hill: UNC Press, 2000); (Hrsg.), Crime and Criminal Justice in Modern Germany (New York: Berghahn, Jan. 2014); (Mit-Hrsg.), Engineering Society: The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880-1980 (Houndmills: Palgrave, 2012).
Bild: Nicolas P. Rougier | 2003 | veröffentlicht unter der GNU General Public License
Quelle: http://gid.hypotheses.org/957