Statement: Richard F. Wetzell “Neurowissenschaften, Willensfreiheit und Kriminalität”

I. Bei der Frage, inwieweit die Erkenntnisse der Neurowissenschaften die Willensfreiheit in Zweifel ziehen, ist es sinnvoll zu unterscheiden zwischen einer grundsätzlichen Kritik an der Willensfreiheit als Grundlage des Strafrechts und der auf einen konkreten Fall bezogenen Argumentation, dass ein spezifischer Straftäter aufgrund neurowissenschaftlicher Befunde als unzurechnungsfähig einzustufen sei.

1. Die grundsätzliche Kritik aus der Perspektive des Determinismus, dass alle menschlichen Handlungen das zwangsläufige Resultat von inneren und äußeren Kausalfaktoren sind und es somit keine Willensfreiheit gibt, hat ein lange Geschichte und ist nicht an neurowissenschaftliche Erklärungsmuster gebunden. Im Bereich des Strafrechts wurde solch eine Kritik schon Ende des 19. Jahrhunderts artikuliert, als die Vorreiter der Kriminologie begannen, Kriminalität als Produkt sozialer und biologischer Ursachen zu erklären. Wie schon damals argumentiert wurde, kann das Strafrecht auf die Willensfreiheit verzichten, wenn man die Vergeltung als Strafzweck ausschaltet und das Strafrecht allein auf den Zweck des Gesellschaftsschutzes ausrichtet. Dann wird jeder Rechtsbrecher den individualisierten Maßnahmen unterworfen, die notwendig sind um ihn von zukünftigen Straftaten abzuhalten. Ob der Rechtsbrecher schuldfähig ist, ist in einer solchen Strafjustiz irrelevant. Die Aussichten, dass solch eine deterministische Kritik das existierende Strafrecht erschüttert oder transformiert, sind gering.

2. Die Frage, ob die Neurowissenschaften eine Rolle im Nachweis der Unzurechnungsfähigkeit eines konkreten Angeklagten spielen können, ist eine andere. Hier geht es nach dem deutschen Strafgesetzbuch darum, ob eine “krankhafte seelische Störung”, “tiefgreifende Bewusstseinsstörung”, “Schwachsinn” oder eine “schwere seelische Abartigkeit” vorliegt, die den Täter unfähig macht, “das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln”. (§ 20 StGB) Es ist sicherlich denkbar, dass die Neurowissenschaften soweit fortschreiten, dass sie Beweise für medizinische Diagnosen liefern können, die die Schuldfähigkeit ausschließen. Davon sind die Neurowissenschaften zurzeit jedoch weit entfernt.

II. Die Implikationen der Neurowissenschaften für die Strafjustiz und Kriminalpolitik sind nicht auf die Frage der Willensfreiheit und Schuldfähigkeit begrenzt. Zurzeit scheint es wahrscheinlich, dass ihr Einfluss in zwei anderen Bereichen stärker sein wird: erstens im Bereich der sichernden und bessernden Maßnahmen für rückfallgefährdete Täter, und zweitens im Bereich der Verbrechensprävention.

1. Schon im Kaiserreich forderten Strafrechtsreformer, dass die Strafjustiz nicht primär Vergeltung für vergangene Straftaten üben, sondern die Gesellschaft vor zukünftigen Straftaten schützen solle. Dies bedeutete, dass Verurteilte, je nach ihrer sozialen Prognose, denjenigen individualisierten Maßnahmen unterzogen werden sollten, die notwendig waren, um sie von weiteren Verbrechen abzuhalten. Die wichtigsten Maßnahmen der Besserung und Sicherung im gegenwärtigen deutschen Strafrecht sind die 1970 eingeführten sozialtherapeutischen Einrichtungen, in die Gefangene während des Strafvollzuges verlegt werden können bzw. (im Falle von Sexualstraftätern) müssen, und die 1933 eingeführte, 2011 für verfassungswidrig erklärte und 2013 reformierte Sicherungsverwahrung, die sich an den Strafvollzug anschließt. In den USA und Großbritannien erfüllt das “civil commitment” von Sexualstraftätern die Funktion der deutschen Sicherungsverwahrung. Sowohl die sozialtherapeutischen Einrichtungen als auch die Sicherungsverwahrung werden ein wichtiges Wirkungsfeld für die Neurowissenschaften bieten. Denn deren Anspruch, die Anomalien im Gehirn – und vielleicht auch in den Genen – vor allem von Gewalttätern nachzuweisen, wird Auswirkungen darauf haben, wer als gefährlich eingestuft und deshalb in Sozialtherapie bzw. Sicherungsverwahrung genommen wird und wie diese Straftäter zu therapieren sind. Eine Pilotstudie zu “neurofeedback” unter Leitung des Hirnforschers Niels Birbaumer findet bereits an zwei bayerischen Gefängnissen statt.

2. Die Neurowissenschaften tragen dazu bei, im Bereich der Verbrechensprävention ein “screen and intervene” Paradigma (Nikolas Rose/Joelle Abi-Rached) zu etablieren, welches das Netz der sozialen Kontrolle auf nichtdelinquente Personen, vor allem Jugendliche, ausweitet, die angeblich ein erhöhtes Risiko von kriminellem Verhalten darstellen. Besonders einflussreich sind hier neurowissenschaftliche Reihenuntersuchungen wie die von Caspi und Moffit (2002), die die These aufgestellt haben, dass Kindesmisshandlungen diejenigen Kinder am stärksten zu Gewalthandlungen als Erwachsene prädisponieren, die einen niedrigen MAOA Spiegel aufweisen. Solche Forscher behaupten nicht, ein “kriminelles Gen” gefunden zu haben, aber doch einen biologischen – vielleicht sogar genetischen – Faktor, der die Anfälligkeit für gewalttätiges oder aggressives Verhalten erheblich erhöht. Solche Forschungen haben in den USA und England neuen Programmen in “early childhood intervention” Auftrieb gegeben. Obwohl diese Programme zurzeit bei Diagnose und Therapie noch mit konventionellen Mitteln der Sozialarbeit arbeiten, ist zu erwarten, dass die Neurowissenschaften in absehbarer Zeit neue Methoden der Diagnose und der Therapie anbieten werden. Die Erfahrungen mit der Diagnose von Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und dem Verschreiben von Ritalin bei amerikanischen Schulkindern zeigen, wie schnell die Biologisierung von auffälligem Verhalten von großen Teilen einer Gesellschaft akzeptiert werden kann.

III. Die besten neurowissenschaftlichen Forschungen räumen stets ein, dass aggressives oder gewalttätiges Verhalten nie allein auf biologische oder genetische Faktoren zurückgeführt werden kann, sondern immer nur aus der Interaktion solcher Merkmale mit Umweltfaktoren hervorgeht. Da auch die Neurowissenschaften somit nicht in Abrede stellen, dass Verbesserungen der sozialen Umwelt ein effektives Mittel der Kriminalitätsbekämpfung bleiben, stellt sich die Frage: Warum finden wir als Gesellschaft es so attraktiv, uns bei der Kriminalitätsprävention auf die Einwirkung auf einzelne “gefährdeten” Individuen zu konzentrieren statt die gesamte soziale Umwelt durch soziale Reformen und Sozialarbeit zu verbessern? Während die neurowissenschaftliche Identifikation von individuellen Risikofaktoren weiterhin Zukunftsmusik ist, sind die wichtigsten sozialen Faktoren der Kriminalität seit langem bekannt. Wir müssen nur bereit sein, die Ressourcen zu investieren.

Dr. Richard F. Wetzell
ist Research Fellow am Deutschen Historischen Institut in Washington, einem Institut der Max Weber Stiftung. Seine Forschung konzentriert sich auf den Schnittpunkt von Rechtsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Politikgeschichte.

Relevante Veröffentlichungen: „Bio-Wissenschaften und Kriminalität: Eine historische Perspektive“, in: Lorenz Böllinger, u.a (Hrsg), Gefährliche Menschenbilder: Biowissenschaften, Gesellschaft und Kriminalität (Baden-Baden: Nomos, 2010), 315-328; Inventing the Criminal: A History of German Criminology, 1880-1945 (Chapel Hill: UNC Press, 2000); (Hrsg.), Crime and Criminal Justice in Modern Germany (New York: Berghahn, Jan. 2014); (Mit-Hrsg.), Engineering Society: The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880-1980 (Houndmills: Palgrave, 2012).

Bild: Nicolas P. Rougier | 2003 | veröffentlicht unter der GNU General Public License

Quelle: http://gid.hypotheses.org/957

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Statement: John-Dylan Haynes “Auslesen von Gedanken aus der Hirnaktivität – Implikationen für unser Selbstbild ”

HaynesIn den letzten Jahren hat die Kombination von bildgebenden Verfahren mit modernen Computeralgorithmen es zum ersten Mal ermöglicht, die Gedanken von Probanden mit erstaunlicher Genauigkeit aus ihrer Hirnaktivität zu dekodieren (sog. Brain Reading). Die Grundidee ist, dass jeder Gedanke mit einem unverwechselbaren Aktivitätsmuster des Gehirns einhergeht. Trainiert man einen Computer darauf, dieses Muster zu erkennen, kann man feststellen, wann ein Proband einen bestimmten Gedanken hat. Dieses Grundprinzip funktioniert sowohl für Wahrnehmungs- und Vorstellungsbilder, aber auch für Erinnerungen, Pläne und Gefühle. Trotz dieser Fortschritte ist zurzeit eine „universelle Gedankenlesemaschine“ noch Zukunftsmusik. Es gibt jedoch bereits erste Versuche solche Techniken für Anwendungsszenarien einzusetzen. Dazu zählt etwa die Vorhersage von Konsumentscheidungen, die Detektion von Lügen oder die Rückfallprognose bei Straftätern.

Besonders interessant ist die Möglichkeit, Entscheidungen vorherzusagen, noch bevor Probanden subjektiv das Gefühl haben, sich entschieden zu haben. Diese Entwicklungen haben verschiedene Implikationen für unser Menschenbild: (1) Das Brain Reading zeigt, dass unsere Gedanken vollständig in der Hirnaktivität enkodiert sind. Dies bedeutet, dass unsere Gedanken auch den Naturgesetzen unterliegen. Damit ist nicht gesagt, dass unsere Gedanken immer logisch sein müssen, denn auch Assoziationen und irrationale Gedanken lassen sich naturwissenschaftlich erklären. Es folgt daraus ebenfalls, dass (2) am Zustandekommen unserer Entscheidungen unbewusste Hirnaktivität beteiligt ist, sowie (3)  der Ausgang von Entscheidungen keine Freiheitsgrade aufweist, solange die Hirnprozesse einmal festgelegt sind. Dies widerspricht den häufig dualistischen Alltagsintuitionen darüber, wie wir Entscheidungen fällen. (4) Die technischen Fortschritte im Brain Reading führen ebenfalls zur Gefahr einer höheren Transparenz der Gedankenwelt, bzw. eines Verlusts der „mentalen Privatsphäre“. Dies ist besonders in kommerziellen Anwendungen (vor allem beim Neuromarketing) problematisch. (5) Derzeit sind die Anwendungen des Brain Reading noch sehr begrenzt. Es stellt sich also die Frage nach einer Qualitätssicherung. Insbesondere fehlt derzeit eine Festlegung wissenschaftlicher Kriterien, wann eine Technik zuverlässig Gedanken dekodieren kann.

Literaturempfehlungen

Smith K (2013). Reading minds. Nature 502: 418-430.
Haynes JD (2011). Der Traum vom Gedankenlesen. Spektrum der Wissenschaft Extra: 4-11.

Prof. Dr. John-Dylan Haynes

ist Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging und hat darüber hinaus die Professur für „Theorie und Analyse weiträumiger Hirnsignale“ am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité Berlin inne. Die Forschungsschwerpunkte des Psychologen und Hirnforschers umfassen die Entschlüsselung mentaler Zustände anhand von Gehirnsignalen sowie Aufmerksamkeit, Bewusstsein und Entscheidungen.

Foto: Ars Electronica | Science Days: The Brain | CC BY-NC-ND 2.0

Quelle: http://gid.hypotheses.org/934

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Statement: Dieter Frey “Wir brauchen ein totales Umdenken – Wir brauchen neue ‘Kulturen’”

??????????Betrachtet man das Problem der Generationengerechtigkeit aus dem Blickwinkel der Psychologie, geht es hier um die Umsetzung von Fairness und Gerechtigkeit. Dabei gilt es vier Arten von Fairness zu unterscheiden, nämlich a) die Ergebnisfairness, b) die prozedurale Fairness, c) die informationale Fairness und d) die interaktionale Fairness.

Sowohl die jüngere als auch die ältere Generation wird wahrscheinlich eine Einschränkung der Rente oder eine Erhöhung der Beitragszahlung für Renten als „unfair“ betrachten. Entscheidend ist deshalb, dass man dies über prozedurale Fairness und informationale Fairness kompensiert. Prozedurale Fairness bedeutet dabei, dass die Kriterien transparent gemacht werden, die zum jeweiligen Ergebnis führen, und von den Entscheidungsträgern eine hohe Objektivität gefordert wird. Informationale Fairness bedeutet, dass die potenziellen „bad news“ relativ früh genannt werden.

Aus dem Blickwinkel der Psychologie ist daher ein totales Umdenken notwendig. Es werden neue „Kulturen“ benötigt, die folgendes implizieren:

1. Einen fließenden Übergang von der Arbeit zur Rente. Die Leute sollen so lange arbeiten, wie sie arbeiten können.

2. Rentner sollten zurück an die Universitäten und Hochschulen, damit sie Know-how für ihre alten Berufe und für neue Berufe lernen (z. B. Sozialberufe/Kindererziehung).

3. Produktivitätszuwächse für die Allgemeinheit, um davon auch die Renten zu bezahlen.

4. Lebenslanges Lernen für alle Beteiligten.

5. Arbeit billiger machen. Das Problem dabei ist, dass die Arbeit vorhanden ist, oft aber die Fantasie fehlt, diese Arbeit auch in Arbeitsplätze zu transformieren. Die Arbeit ist heute zu teuer, weil ein hoher Prozentsatz durch Steuern reduziert wird. Wichtig dabei ist auch, das Vermögen zu besteuern und nicht nur die Arbeit. Zudem sollte der Produktivitätszuwachs nicht den Aktionären, sondern der Bevölkerung zukommen, damit die Schere zwischen Arm und Reich (insbesondere auch zwischen Rentnern und Nichtrentnern) nicht zu groß wird.

6. Zielorientierte Einwanderungspolitik.

7. Mehr Fantasie bei Maßnahmen zur Erhöhung der Kinderquote (Wir sind an letzter Stelle!)

Eine weitere psychologische Frage ist, wie man dies so umsetzen kann, dass Akzeptanz in der Bevölkerung besteht. Es gilt hier die Erfolgsfaktoren von Reformen umzusetzen. Dafür notwendig sind z. B. Sinnvermittlung, Transparenz und das Aufzeigen von Opportunitätskosten.

Prof. Dr. Dieter Frey ist seit 1993 Lehrstuhlinhaber für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Der Träger des Deutschen Psychologie-Preises 1998 forscht auf den Gebieten des Entscheidungsverhaltens in Gruppen, Erhöhung von Kreativität und Motivation, Entstehung und Veränderungen von Einstellungen und Wertesystemen. Er war von 2003 bis 2012 Akademischer Leiter der Bayerischen EliteAkademie und ist Leiter des LMU-Centers für Leadership und People Management und Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Foto: robert.steinhoefel | Fairness Zone | CC BY-NC-ND 2.0

Quelle: http://gid.hypotheses.org/918

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