Lehrplanentwicklung: Kill your darlings?

 

Die Frage, was Kompetenzen für das historische Lernen sind, ist heute auch im deutschsprachigen Raum nicht nur theoretisch, sondern auch mit praktischen Beispielen zu beantworten. Eine Kompetenz in der Schweiz lautet: Die SchülerInnen können Entstehung und Entwicklung der Schweiz erklären.1 Eine Kompetenz in Hessen heisst: Die SchülerInnen können historische Zeugnisse identifizieren, charakterisieren und die Absichten ihrer AutorInnen ermitteln (Zeitzeuge/HistorikerIn/JournalistIn etc.).2 Eine Kompetenz im Südtirol ist: Die SchülerInnen können die Bedeutung der Demokratie für die Gesellschaft sowie den Wert der Autonomie für das Zusammenleben der Sprachgruppen in Südtirol erkennen.3

 

Historische Kompetenzen: Fragen über Fragen

Schon ein erster schneller Vergleich dieser drei Kompetenzformulierungen für den Umgang mit Geschichte macht große Unterschiede deutlich: Da werden Grundkenntnisse angesprochen, Grundfertigkeiten postuliert, Grundhaltungen angemahnt. Das kann einen ins Grübeln bringen: Stimmen diese konkreten Formulierungen mit dem überein, was wir in der Theorie unter Kompetenzen verstehen? Wie kann es sein, dass sich Kompetenzformulierungen dermaßen unterscheiden? Wo genau liegt der Zugewinn im Vergleich zu den bisherigen Lehrplänen? – Nachdem die Versprechungen so groß waren, welche schulischen Probleme mit der Kompetenzorientierung alle gelöst würden, hält Ernüchterung Einzug. War das Ganze nur eine “Kompetenz-Blase”4? Müssen wir das tun, was in der Literatur, in der Werbung oder beim Film empfohlen wird, wenn plötzlich viele Fragen und Unsicherheiten einen angestrebten Erfolg gefährden: Kill your darlings? Kippen wir die Kompetenzen aus den Geschichtslehrplänen?

Geschichtslehrpläne ohne Kompetenzen?

Gibt es Geschichtslehrpläne ohne Formulierungen von Kompetenzen? Waren die jetzigen Lehrpläne, die Ziele und Inhalte vorgaben, doch nicht schlecht? Oder brauchen wir einen neuen Wissenskanon? Es gibt bekanntlich auch dazu mehrere Alternativvorschläge.5 Besonders plausibel scheint mir derjenige von Arie Wilschut zu sein: Er schlägt vor, einen Referenzrahmen aufzuspannen. Dieser enthält das, was man wissen sollte, um zu historischem Denken fähig zu sein, und er ermöglicht den Aufbau eines orientierenden Wissens an historischen Daten und Fakten. Für ihn und in den Niederlanden ist der Referenzrahmen ein Zehn-Epochen-System, das in erster Linie einen Umriss schaffen soll, mit der Absicht, dass sich die Lernenden und Mitglieder einer Gesellschaft in der Zeit orientieren können.6 Dies erlaubt es den Wissenden, sich vom “Pflock des Augenblicks”7 zu lösen. Gegen solch einen emanzipatorischen Akt, gegen solch ein fachspezifisches deklaratives Wissen an historischen Daten und Fakten, wird wohl niemand etwas haben. Also doch: Kill your darlings! Kippen wir die Kompetenzen!

Notwendige “Grammatik” der Geschichte

Gemach! Wie für sinnvolles Schreiben die Kenntnis des Alphabets nicht reicht, so reicht auch für historisches Lernen das deklarative Wissen allein nicht. Es braucht eine Grammatik, also prozedurales Wissen zum Umgang mit Geschichte, ebenso metakognitives Wissen, welches erst zu einem vertieften Verständnis von Geschichte führt und das Handeln von Menschen in ihrer jeweiligen Gegenwart steuert. Unentbehrlich sind zudem sachbezogene Interessen und solche Einstellungen, die eine Beschäftigung mit Geschichte als lohnenswert erscheinen lassen. Erforderlich sind darüber hinaus kommunikative Fähigkeiten, um Geschichten verstehen und erzählen zu können – kurz: notwendig sind Kompetenzen. Damit ist all das oben Aufgezählte mitgemeint.

“Weisheit der Praxis”

Wer die neuen kompetenzorientierten Lehrpläne aufmerksam studiert und auch das Umfeld betrachtet, erkennt schnell: Die “Weisheit der Praxis”8 hat sich durchgesetzt. Es kommen all die erwähnten Kompetenzaspekte vor. Weil die Strukturen der Lehrpläne und die Traditionen der Unterrichtssteuerung in den verschiedenen Ländern unterschiedlich sind, ist zum Beispiel das deklarative Wissen, sind Inhalte und Themen, Begriffe und Konzepte, auf je spezifische Art erwähnt. In der Schweiz ist das deklarative Wissen in die Kompetenzformulierungen hinein verwoben. Das entspricht am saubersten der umfassenden Weinert’schen Kompetenzdefinition9, scheint aber schwer verständlich und kompliziert. Im Südtirol wurde eine Mischform gewählt: In einzelnen Kompetenzformulierungen findet sich deklaratives Wissen, in erster Linie aber müssen die einzelnen Schulen ihr Curriculum vor Ort selber entwickeln und die Begriffe und Konzepte festlegen, die vermittelt werden sollen. Das scheint für die zentralen Steuerungsverantwortlichen eine bequeme Lösung zu sein, weil die schwierige Arbeit der Inhaltsauswahl und der immer damit verbundene “Schwarze Peter” zu den Lehrpersonen vor Ort wandern. Überzeugender scheinen Modelle, die das deklarative Wissen in einer separaten Spalte aufführen. In Hessen etwa geschieht dies mit den aufgezählten Basisnarrativen.

Uns liegen jetzt also verschiedene Vorschläge für kompetenzorientierte Geschichtslehrpläne vor, und so gilt denn auch hier wie so oft in der Didaktik: Gut ist, was funktioniert. Gut ist, wenn sich SchülerInnen gerne mit bedeutsamen geschichtlichen Themen auseinandersetzen und dabei viel lernen. Ob das klappt, sehen wir im konkreten, alltäglichen Geschichtsunterricht. Schauen wir also genau hin!

 

 

Literatur

  • Barricelli, Michele u.a.: Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Barricelli, Michele / Lücke, Martin (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Band 1. Schwalbach/Ts 2012, S. 207-235.
  • Bernhardt, Markus u.a.: Historisches Wissen – was ist das eigentlich? In: Kühberger, Christoph (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundung zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts 2012, S. 103-117.
  • Künzli, Rudolf u.a.: Der Lehrplan – Programm der Schule, Weinheim und Basel 2013.

Externe Links

 

 


Abbildungsnachweis
Kompetenzen für historisches Lernen – ein kulturübergreifendes Konzept. Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht in Seoul, Südkorea (Dezember 2013). © Peter Gautschi.

Empfohlene Zitierweise
Gautschi, Peter: Lehrplanentwicklung: Kill your darlings? In: Public History Weekly 2 (2014) 12, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1694.

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