De mensura astrolabii: wie und warum man sich ein Astrolab basteln sollte

Vor einigen Tagen habe ich den letzten Teil der kleinen Reihe zum geozentrischen Weltbild des Mittelalters geschrieben: über die Himmelssphäre und ihren Einfluss auf das tägliche Leben. Dass das nicht unbedingt der einfachste Artikel der Reihe war, liegt wohl vor allem an der Schwierigkeit, sich die abstrakt formulierten Vorgänge plastisch vorzustellen.

Das ging den Menschen im Mittelalter natürlich nicht anders. Auch sie taten sich häufig schwer, die Informationen in den lateinischen Texten zu einem großen gedanklichen Modell des Kosmos zu destillieren oder ein solches von den Erscheinungen am Himmel zu abstrahieren.

Gelehrter mit Astrolab. Psalter aus dem 13. Jahrhundert. Paris, BnF, Arsenal, ms. 1186 rés., fol. 1v.

Zum Glück fand ungefähr um das Jahr 1000 herum ein kleines orientalisches Hilfsmittel seinen Weg nach Europa: das Astrolab (im verlinkten Wikipedia-Artikel findet sich die wichtigste Literatur zum Einstieg). Dieses Gerät ist ein Mess- und Vorhersageinstrument für so ziemlich alles, was den hochmittelalterlichen Astronomus interessierte. Ein astronomisches Schweizer Taschenmesser, wenn man so will. Außerdem half es dabei, die komplexen Phänomene am Himmel zu veranschaulichen. Es ist also auch als didaktisches Tool für den Unterricht nutzbar.

TED Video zum Gebrauch des Astrolabs. Hier auch mit deutschem Untertitel.

Ein Astrolab besteht aus verschiedenen aufeinandergelagerten Scheiben, mit denen sich für einen jeweils bestimmten Punkt auf der Erde die wahrnehmbaren Abläufe am Himmel simulieren und vorhersagen lassen. Es zeigt zum Beispiel den Stand der Sonne an, den Sternenhimmel einer jeweiligen Position, die Länge des Tages zu einem bestimmten Datum, und und und.

Oxford, Bodleian Library, MS Ashmole 304, fol. 2v

So simpel Astrolabien zu nutzen sind, so schwierig ist ihre Herstellung. Damit meine ich weniger die Schmiedekunst an sich, sondern vor allem das Erstellen einer korrekten Himmelsprojektion, bei der man die wichtigen Informationen (Ekliptik, Wendekreise, Himmelspol, usw.) eines dreidimensionalen Kugelmodells auf eine zweidimensionale Scheibe projizieren muss (die Problematik ist bei Arianna Borrelli: Aspects of the Astrolabe, Stuttgart 2008 recht anschaulich erklärt). Dabei halfen zwar entsprechende Beschreibungen oder Abbildungen; da jedes Astrolab für eine bestimmte Position neu konstruiert werden musste, erforderte diese Herstellung trotzdem einen Meister seines Faches, der nicht nur eine umfassende Kenntnis der Astronomie, sondern auch der Geometrie besitzen musste – und außerdem ein sehr ausgeprägtes Vorstellungsvermögen.

Brügge, Öffentliche Bibliothek, Ms. 522, f. 61v. Hier ist allerdings lediglich die Rückseite des Astrolabs dargestellt, nicht die kompliziertere Projektion auf der Vorderseite. (Abbildung: Openbare Bibliotheek Brugge, Lizenz http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

Heute geht das glücklicherweise einfacher: Unter http://in-the-sky.org/astrolabe/ hat Dominic Ford Projektionen für diverse Breitengrade erstellt (die sich aber auch auf die eigene Koordinate ändern lassen), mit denen sich sehr einfach ein voll umfängliches Astrolabium erstellen lässt. Wie man das Gerät dann nutzt, hat er in einem kleinen Aufsatz erklärt: http://in-the-sky.org/astrolabe/astrolabe_jbaa.pdf

Das ganze ist nicht nur hilfreich, um sich die Grundlagen mittelalterlicher Astronomie zu erschließen, ein Astrolabium ist darüber hinaus auch ein schickes Statusobjekt und must have für den Gelehrten von Welt – meiner Meinung nach damals wie heute!

Jan van Eyck, Der heilige Hieronymus im Gehäuse von 1442

 

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/162

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Der mittelalterliche Bibliothekskatalog als Quelle

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Nachdem an dieser Stelle bereits auf die von mir genutzten Hilfsmittel im Bereich der mittelalterlichen Bibliothekskataloge hingewiesen wurde, möchte ich mich heute mit der ein wenig mit der Quelle selbst beschäftigen: Welche Fragen lassen sich mit ihrer Hilfe beantworten, welche spezifischen Gefahren muss man umschiffen und mit welchen Ergebnissen kann man rechnen? Abschließende Antworten auf diese Fragen habe ich (noch) nicht, dieser Artikel dreht sich daher eher um die Probleme, die ich bislang ausgemacht habe. Wie immer giere ich nach Kritik und Hinweisen.  

Es geht heute also um mittelalterliche Bibliothekskataloge aus dem deutschsprachigen Raum vor 1300. Diese Einschränkung ist sicherlich wichtig. Gerade  im späten Mittelalter setzen sich einige Entwicklungen in Gang, die, würde man sie weiterverfolgen, langsam aber sicher auf den modernen Bibliothekskatalog zusteuern, wie wir ihn heute kennen. Dieser Prozess führt langsam aber sicher zu Katalogen, die zunehmend

  • systematischer
  • standardisierter
  • umfassender im Sinne der Bestandserfassung
  • umfassender im Sinne der Beschreibung
  • besser zu durchsuchen

sind und in der Regel von professionellen Institutionen verwaltet werden. Im (frühen und hohen) Mittelalter, also vor diesen Entwicklungen, haben wir es aber mit Katalogen zu tun, die ganz anderen Bedürfnissen und einer ganz anderen Buch- und Bibliothekskultur verpflichtet waren. Einen tollen Einblick in diese Kultur bietet  dieses Video von Richard Gameson von der Universität Durham auf youtube. Ich beschränke mich hier auf den Hinweis, dass man mittelalterlichen Katalogen mit einem gewissen Sinn für ihre Andersartigkeit begegnen muss.

Um diese Andersartigkeit etwas näher zu bringen, möchte ich kurz (okay, das ist wohl gelogen) den hochmittelalterlichen Bibliothekskatalog des Prämonstratenserstifts Arnstein an der Lahn vorstellen. Zur Geschichte des Stifts, der Bibliothek und den überlieferten Handschriften hat Bruno Krings eine sehr umfangreiche Studie vorgelegt, die unten aufgeführten Literatur zu entnehmen ist.

Wie in allen mittelalterlichen Klöstern gab es in Arnstein im Prinzip drei getrennte Buchbestände, für die unterschiedliche Personen zuständig waren. Daher wurden auch meistens getrennte Listen geführt. Es gab die

  • liturgischen Bücher in der Sakristei unter dem Cantor,
  • die Schulbücher in der schule unter dem Schulmeister,
  • die Bücher für die lectio der Mönche in der eigentlichen Bibliothek unter dem Bibliothekar

Der Arnsteiner Katalog deckt lediglich die beiden letzten Bereiche ab, also die Gesamtbibliothek sowie den Schulbuchbestand. Drei Listen sind es, die zwischen 1200 und 1220 in eine Handschrift eingetragen wurden. Leider wurde gerade dieser Abschnitt nicht durch die British Library digitalisiert, da (anscheinend) langweilig (Was die Digitalisierung der BL betrifft, da kann man manchmal eh nur noch den Kopf schütteln). Zum Glück liegt eine ganz gute Edition durch Gottlieb vor, in die man jetzt zwei Minuten reinschauen könnte (nicht schummeln, auch in die Einleitung!).

Zunächst ein paar Gedanken zum großen Gesamtkatalog der Bibliothek: Der Katalog wurde durch Gottlieb zwar als Liste ediert, seiner Einleitung kann man aber entnehmen, dass dies nicht dem tatsächlichen Layout entspricht. Eigentlich ist der Katalog durch sechs Arkaden gegliedert, die einer bestimmten, typisch mittelalterlichen Systematik folgen. Nicht nach Sachgruppen, dem Alphabet, der Größe oder sonstigen Kriterien, sondern hierarchisch in die biblischen Schriften und besonders wichtiger Autoren oder vielleicht besser Autoritäten.

In der jeweiligen Arkade werden dann die vorlegenden Werke dieses Autors genannt – zumindest in der Theorie. Tatsächlich konnte dieses Prinzip in Arnstein nicht mal im Ansatz durchgezogen werden, da es schlicht nicht dem realen Bestand der Bibliothek entsprach. In die freien Räume wurden recht wahllos andere Titel eingetragen. Einen Rückschluss auf die tatsächliche Anordnung der Bibliothek lässt dieser Katalog oder vielleicht besser: dieses Inventar also nicht zu.

Dem modernen Betrachter mag außerdem seltsam erscheinen, dass der Katalog trotz einer Reihe von Korrekturen und Nachträgen nicht systematisch fortgeführt und aktualisiert worden ist. Spätestens ab Mitte des Jahrhunderts verzeichnete man keine Neuzugänge mehr. Der Katalog bleibt, wie andere zeitgenössische Kataloge auch, eine Momentaufnahme. Für eine vergleichende Untersuchung stellt das ein großes Problem dar: Die Wissensbestände eines Kataloges von 1120, der die Neuzugänge einer Bibliothek nicht kontinuierlich verzeichnet, kann man nicht wirklich mit den Beständen eines Kataloges von 1180 vergleichen. Einen Lösungsansatz für dieses Problem suche ich noch.

Zu den Schulbuchlisten: Für mich sind natürlich besonders die Schulbücher des Stifts interessant und hier scheint der Arnsteiner Katalog auf den ersten Blick mit zwei vollständigen Listen durchaus ergiebig zu sein. Aber auch hier ist aber Vorsicht geboten und der Teufel steckt im Detail! Aus den Überschriften der Listen geht nämlich hervor, dass diese eben kein Gesamtkatalog der Schule darstellen. Stattdessen stellen diese Listen eine Art Schenkungsnotiz dar. Hier wurden „lediglich“ Büchern verzeichnet, die durch die Gelehrten Richolf und Eberhard bei ihrem Eintritt in das Stift mitgebracht worden sind. Die Listen geben streng genommen also gerade nicht Auskunft über die monastische Bildungskultur im frühen 13. Jahrhundert, sondern lediglich über das spezifische Bildungsinteresse zweier Gelehrter dieser Zeit.

Zusammenfassend lässt sich also sagen:

  • Kataloge bilden nicht zwangsläufig die reale Bibliotheksordnung ab
  • Kataloge bilden fast nie den gesamten Buchbestand ab
  • Kataloge stellen häufig nur eine Momentaufnahme dieses Bestandes dar

So viel zur allgemeinen Aussagekraft hochmittelalterlicher Kataloge. Auch auf der Ebene der einzelnen Einträge lauern einige Schwierigkeiten. Weder gab es im hohen Mittelalter einheitliche Standards zwischen den verschiedenen Katalogen, auch innerhalb einer einzigen Liste wurde das gewählte System nicht immer einheitlich angewandt. Folgendes Beispiel soll das verdeutlichen:

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Die Gliederung der einzelnen Einträge erfolgt hier vor allem über die Interpunktion und die et-Ligatur. Nach „hic est liber qui dicitur obstrusa grammatica“ wird der Eintrag mit einem Punkt geschlossen und ein neues Werk durch die et-Ligatur eingeleitet. Gleich ein paar Einträge später sieht das ganz anders aus: der Eintrag „Epistola alexandri. Ad aristotilem. De monstris indie“ bezieht sich mit Sicherheit auf einen zusammengehörenden Titel. Dieser verwirrende Gebrauch der Gliederungszeichen erschwert zuweilen die Identifikation einzelner Titel, wie im folgenden Fall: „liber magistri hvgonis de sancto victore. De honeste uiuendo & liber triplex capiendi consilii de liberatio(ne) & dicta antiquorum philosophorum.

Zwei Lesarten sind hier zumindest theoretisch möglich: Man kann, wie das etwa Bruno Krings getan hat, den Punkt ignorieren oder als Doppelpunkt verstehen und im et die entscheidende Zäsur sehen. Dann hätte man drei Titel:

  1. liber magistri hvgonis de sancto victore. De honeste uiuendo
  2. liber triplex capiendi consilii de liberatio(ne)
  3. dicta antiquorum philosophorum

Wird allerdings die Trennfunktion des Punktes betont, dann kommt man auf zwei ganz andere Titel:

  1. liber magistri hvgonis de sancto victore.
  2. De honeste uiuendo & liber triplex capiendi consilii de liberatio(ne) & dicta antiquorum philosophorum.

Meiner Ansicht nach wurde hier zum einen das Didascalicon von Hugo von St. Victor, zum anderen das Moralium dogma philosophorum eines ungeklärten Autors verzeichnet. Allein durch die Katalogsystematik lässt sich diese Frage nicht lösen.

Ein weiteres Problem liegt in der häufig ungenauen Beschreibung eines Titels. Mal nennt der Katalog lediglich den Autor, mal den Titel, mal wird nur ein incipit gegeben oder sogar lediglich der Inhalt grob beschrieben (z.B.: “libri de phisica“). Eine genaue Identifikation der Wissensbestände ist daher häufig nicht möglich.

Das liegt nicht an der Blödheit der Zeitgenossen, sondern an den Besonderheiten einer handschriftenbasierten Textkultur. Viele Texte nannten ihre Autoren oder ihren Titel schlicht nicht oder waren nur in Ausschnitten vorhanden. In solchen Fällen blieb dem Bibliothekar nichts anderes übrig, als etwa von “libri de phisica” zu sprechen oder einen Titel als “valde utilem ad docendum” zu bezeichnen. Vermutlich war das für den Bibliotheksalltag auch völlig ausreichend.

Aber selbst wenn sich ein Eintrag genau identifizieren lässt, bleibt eine Restunsicherheit erhalten, wie man am Eintrag „Liber isidori ethimologiarum“ feststellen kann. Gottlieb hat ihn zu recht als den Verweis auf eine Handschrift der British Library identifiziert (Die Handschrift aus einer Frauengemeinschaft ist übrigens an sich sehr sehr spannend, vor allem ihre Glossen! Diesmal ist auch an der Digitalisierung nichts auszusetzen). Sie enthält aber nicht, wie der Katalog suggeriert, lediglich Isidors Etymologien, sondern  auch weitere texte, wie sein Werk De natura rerum, das gerade für meine Fragestellung aufschlussreich ist. Mittelalterliche Kataloge benennen in der Regel nicht alle Texte einer Bibliothek, sondern die konkreten Handschriften. Diese können durchaus mehrere Texte enthalten, die nicht alle im Katalog genannt sein müssen.

Nach diesen Überlegungen muss man doch etwas ernüchtert feststellen: Mittelalterliche Kataloge geben nur bedingt verlässliche Auskunft über Art und Umfang eines mittelalterlichen Buchbestandes und auch die Vergleichbarkeit ist nicht ohne Weiteres gegeben. Lohnt sich ihre Untersuchung dann überhaupt? Aber sicher, denn „[t]rotz ihrer Inventar- und Verwaltungsfunktion, trotz der Tatsache, daß nicht alle mittelalterlichen Bibliotheken ausreichend viele Bücher und entsprechende Kataloge besaßen, trotz ihrer nicht immer befriedigenden Überlieferung, Erfassung und Veröffentlichung sind diese Bücherverzeichnisse eine sehr aussagefähige und daher nicht hoch genug einzuschätzende Quellengattung für das kulturelle Leben vom Beginn des 9. Bis zum beginn des 16. Jahrhunderts.“ (Milde 1995, S. 478).

Die Kataloge können unser Wissen um die Bestände ganz wesentlich ergänzen. Gerade in Arnstein, wo sich keine einzige Schulhandschrift erhalten hat, stellen die Listen den einzigen Nachweis dar, den wir über die Schule haben. Wir wissen nun zum Beispiel, dass es in Arnstein um 1220 eine Kopie der Quaestiones naturales gab oder dass der Stiftsbruder Eberhard ein gesteigertes Interesse am Quadrivium besaß und dieses Wissen vermutlich aus Frankreich ins Stift gebracht hat – ein spanender Beweis des Austausches zwischen Kloster und den hohen Schulen. Sicherlich muss man sich davor hüten, die Kataloge als Quelle nicht über Gebühr zu belasten. Gerade im Verbund mit überlieferten Handschriften besitzen sie aber doch eine wertvolle Aussagekraft und bleiben, bei aller gebotenen Vorsicht, eine Schlüsselquelle für die Geistes- und Kulturgeschichte des Hohen Mittelalters.

Verwendete Literatur:

  • Krings, Bruno: Das Prämonstratenserstift Arnstein a. d. Lahn im Mittelalter (1139-1527). Wiesbaden 1990.
  • Milde, Wolfgang: Mittelalterliche Bibliothekskataloge als Quellen der Bildungsgeschichte: das Beispiel Hamersleben im 12./13. Jahrhundert. In: Luckhardt, Jochen/Niehoff, Franz/Biegel, Gerd (Hg.): Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1235. München 1995, TB. 2, S. 478-483.
  • Gottlieb, Theodor: Über mittelalterliche Bibliotheken. Leipzig 1890.

Bild im Titel: Der heilige Hieronymus im Gehäuse von Antonella da Messina (um 1450). (The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH.)

 

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/76

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