Buchbesprechung: Why Nations Fail

Von Stefan Sasse

"Why nations fail" verspricht bereits im Titel eine umfassende Gesamtanalyse. Große Theoriegebäude, die den Anspruch haben Erklärungen für politische Phänomene quer durch die Jahrhunderte und Kontinente zu bieten sind seit Karl Marx etwas aus der Mode gekommen, aber Daron Acemoglu und James A. Robinson unternehmen genau das. Das Ergebnis überzeugt, vor allem deswegen, weil die Theorie, die sie entwerfen, relativ simpel ist und nur ein Fundament für folgende Detailstudien bietet. In ihrer Erklärungskraft aber ist sie beeindruckend und verdient mindestens eine tief gehende Betrachtung. Die Autoren gehen in ihrem Buch dabei so vor, dass sie ihre Theorie kurz skizzieren und dann anhand zahlloser, meist historischer Beispiele empirische Evidenz zu schaffen versuchen. Die Frage, um die sich alles dreht, ist dabei die folgende:
Im 15. Jahrhundert war der Prosperitätsunterschied in allen Regionen der Erde nicht besonders groß - selbst Menschen im Kongo genossen mindestens 25% des Lebensstandards in Europa. Heute liegt diese Schere bei einem Faktor, der etwa bei 30 liegt - also etwa 3% des Lebensstandards. Die Schere entwickelt sich aber Industriellen Revolution auseinander. Warum also beginnt die Industrielle Revolution ausgerechnet in Großbritannien und erfasst dann die gesamte westliche Welt, während der Rest der Welt bis heute kaum in der Lage scheint, diese Entwicklung nachzuvollziehen? Die Beispiele Koreas und Japans zeigen, dass es keine Frage des Technologievorsprungs sein kann, denn den holten sie relativ schnell auf.

Die Antwort der Autoren ist interessant: es steht und fällt mit der Ausgestaltung politischer und ökonomischer Institutionen. Beide charakterisieren sie entweder als inkludierend oder als extraktiv. Eine inkludierende politische Institution erlaubt möglichst vielen Gruppen eine Teilhabe an der Macht - etwa in unseren modernen Demokratien, wo prinzipiell jede Gruppe ihre Anliegen frei vertreten (nicht zwingend durchsetzen) kann. Extraktive politische Systeme beschränken die Macht auf eine kleine Elite und erlauben keine Teilhabe der Mehrheit, etwa in Diktaturen, dem autoritären Russland und China oder den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Inkludierende wirtschaftliche Institutionen haben niedrige Einstiegsschwellen, breitere Einkommensstreuung und erlauben kreative Zerstörung; extraktive Systeme haben hohe Eintrittshürden (häufig politische Beziehungen), sichern Besitz nicht und ziehen Reichtum zugunsten einer kleinen Elite ab. Besitzt ein Land extraktive Institutionen, kann es nicht wachsen - es gibt keinerlei Anreize für Innovationen und Investitionen.

Die Autoren erklären außerdem, dass auf Dauer Verbindungen extraktiver und inkludierender Systeme nicht möglich sind - das heißt, wenn ein Land sein ökonomisches System inkludierend gestaltet, um Wirtschaftswachtum zu erzeugen, werden entweder seine politischen Institutionen ebenfalls inkludierend werden müssen, oder aber das Wirtschaftssystem wieder extraktiv werden. Ein Beispiel hierfür ist England: Die Liberalisierung der Wirtschaft (inkludierendes System) wird von einer stetigen Ausweitung politischer Rechte (ebenfalls inkludierend) gefolgt, weil die Gewinner der wirtschaftlichen Entwicklung (neue Eliten) diesen Erfolg auch politisch sichern wollen, während die Verlierer (alte Eliten) ihren bewahren möchten. Gewinnen die alten Eliten diesen Konflikt, wird die Wirtschaft wieder extraktiv. Am Beispiel Englands: Die frühen Fabrikanten und Großhändler erhalten Mitsprache im Parlament (neue Eliten), der Adel (alte Eliten, wirtschaftlich auf Landwirtschaft fixiert) verliert an Macht. Den neuen Eliten gelingt es aber nicht, ihren eigenen Status zu bewahren, als neue Innovationen aufkommen - stattdessen erhalten neue Gruppen Mitspracherecht, und so weiter und so fort. Die Autoren nennen dies den "tugendhaften Kreislauf"; ein Erfolg gebiert den nächsten. Das Gegenteil des Ganzen ist der "Teufelskreis", in dem extraktive Systeme neue extraktive Systeme gebieren. Beispiele dafür finden sich in der Kolonialgeschichte. Die europäischen Kolonialherren entmachten die regionalen Despoten und führen ein eigenes Ausbeutungssystem ein. Als die Kolonien unabhängig werden, treten neue Ausbeuter auf den Plan. Eine extraktive Institution wird von der nächsten abgelöst. Historisch ist der Teufelskreis wesentlich häufiger, denn der "tugendhafte Kreislauf" kann jederzeit unterbrochen werden: Sobald eine Gruppe ihre eigene Machtstellung absichert, indem sie neue Eliten ausschließt (und damit Kreative Zerstörung verhindert), werden die Systeme extraktiv. Microsoft hätte beispielsweise alle Mitbewerber ausschalten können, wenn das US-Kartellamt das nicht verhindert hätte und diesen Markt extraktiv gestalten können.

Viel Gewicht der Autoren liegt auf dem Prozess der Kreativen Zerstörung. Neue Innovationen zerstören stets alte Strukturen, und die alte Elite hat daran kein Interesse und versucht es zu verhindern. So wurden mechanische Webstühle ähnlich dem Weberschiffchen, die zu den Zündungsfunken der Industriellen Revolution wurden, bereits im Römischen Weltreich und Elisabeth I. erfunden und den jeweiligen Monarchen präsentiert. Sowohl der römische Kaiser als auch die englische Königin reagierten gleich: Sie ließen die Erfindung vernichten und den Erfinder kaltstellen. Sie fürchteten die Kreative Zerstörung, denn die Erfindung würde viele Handwerker arbeitslos machen und ihre politische Machtstellung gefährden (Unruhe gefährdet politische Macht immer, man blicke nur auf den aktuellen Prozess von Internet-Partizipation und dem Aufstieg der Piraten als harmloses Beispiel). Daher auch die lange Phase der Stagnation in Technik im römischen Kaiserreich, dem Mittelalter und durch die Neuzeit hindurch in Europa. Die Eliten bewahren das Bestehende und erlauben keine kreative Zerstörung. Ein besonders krasses Beispiel ist ein Königreich in Afrika im 17. Jahrhundert, in dem die Menschen nicht einmal das Rad und den Pflug einführten. Da die Besitzrechte nicht gesichert waren und der König in extraktiver Tradition allen Besitz auf sich konzentrierte, bestand für Bauern nie ein Anreiz, effizienter zu arbeiten. Weder Rad noch Pflug waren in dem Königreich verbreitet, obwohl sie als Konzept durchaus bekannt waren.

Es ist wichtig, dass die Autoren die Möglichkeit von Wirtschaftswachstum unter extraktiven Systemen in ihre Theorie einbezogen haben. Das beste Beispiel hierfür, über das sie auch lange berichten, ist die Sowjetunion, die zwischen dem Ende der 1920er und dem Ende der 1960er Jahre eine Phase beispiellosen Wirtschaftswachstums erreichte, das bei etwa 5% jährlich lag und viele Ökonomen auch in der westlichen Welt von der Überlegenheit des sowjetischen Modells sprechen ließ. In den 1950er Jahren gingen viele seriöse amerikanische Ökonomen davon aus, dass die Sowjetunion Ende der 1980er Jahre die USA an Wirtschaftsleistung und Lebensstandard überflügeln würde. Stattdessen rutschte die Sowjetunion in den 1960er Jahren in eine Rezession, aus der sie nie wieder herauskam. Der Grund dafür liegt laut den Autoren darin, dass das forcierte Wirtschaftswachstum in einem extraktiven System wie der Sowjetunion (die Gewinne kamen hauptsächlich der Parteielite zugute) quasi aus der Substanz erfolgt. Das russische Zarenreich lag weit unter seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Sowjets konnten also ein Wirtschaftswachstum dadurch forcieren, diese gigantischen Potenziale zu erschließen. Da sie es ohne Rentabilitätsgedanken taten, fraßen sie dabei aber die Substanz auf (man denke nur an die aus dem Boden gestampften, sinnlos riesigen Industriekomplexe mitten im Nirgendwo). Dieses Wachstum kann nicht nachhaltig sein.

Dieses Argument ist für die Autoren zentral in ihrer Bewertung des chinesischen Wirtschaftswachstums. Sie sagen, dass es sich um extraktive Institutionen handelt und das Wachstum daher nicht nachhaltig sein kann. Macht China so weiter wie bisher, wird es ebenfalls irgendwann deutlich stagnieren - und zwar sicher, bevor es den Westen eingeholt hat. Es ist wichtig, dass dies kein Automatismus ist - würden die Chinesen etwa ihr politisches System inkludierender gestalten, so wäre es durchaus möglich, dass das Wachstum nachhaltig wird. Nur, derzeit ist ihr System extraktiv, und unter diesen Bedingungen kann kein nachhaltiges Wachstum entstehen, da die alten Eliten sich der einhergehenden Kreativen Zerstörung versagen werden.

Die Lektüre des Buchs ist mehr als nur gewinnbringend. Selbst wenn man den Thesen nicht zustimmen sollte, bietet das Buch in seinen zahllosen historischen Beispielen hochinteressanten Lesestoff, muss man sich mit dem Gedankengebäude doch auseinandersetzen und es argumentativ durchdringen. Ich kann jedem nur empfehlen, sich den Gedanken der Autoren zu widmen; der Gewinn ist kaum zu messen.

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Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/01/buchbesprechung-why-nations-fail.html

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Buchbesprechung: Dietmar Herz – USA verstehen

Von Stefan Sasse

USA verstehenDie USA sind auch 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges immer noch die mächtigste und wichtigste Nation der Welt. Ohne sie lässt sich kaum etwas durchführen. Gleichzeitig sind die Amerikaner, trotz der Ähnlichkeiten in Kultur und Sprache, ein Volk mit einer anderen Mentalität als die Europäer. Nur wenige Europäer können verstehen, warum die Amerikaner so sensibel auf das Recht auf Waffenbesitz reagieren, wie sie ernsthaft Abtreibungsrechte verweigern oder die Stars-and-Stripes überall wehen sehen wollen können. Dietmar Herz, der sich als Journalist bereits seit langem mit den Amerikanern, ihrer Geschichte und ihrer Politik innen wie außen beschäftigt, versucht nun mit „USA verstehen“ diese Lücke zu füllen.

Das Buch umfasst 413 eng beschriebene Seiten in solidem, schön gestaltetem Hardcover. In chronologischer Reihenfolge führt Herz den Leser ausführlich durch die Geschichte der USA, bevor er kurz Regierungs- und Wirtschaftssystem sowie die Medien- und Universitätslandschaft skizziert. Genau hier aber liegt das Problem des Buchs: wer darauf hofft, danach einen besseren Blick auf die oben aufgeworfenen Verständnisprobleme gewonnen zu haben dürfte enttäuscht werden. Denn letztlich liegt der Fokus auf einer umfassenden Darstellung der amerikanischen Geschichte, der einige grundlegende Strukturinformationen zum besseren Verständnis nachgestellt werden. Mentalitäts- oder kulturgeschichtliche Aspekte finden allenfalls am Rande statt. 

Damit keine Missverständnisse auftauchen: die Geschichte der USA in Herz‘ Darstellung ist kompetent geschrieben, kompakt und gut recherchiert auf vergleichsweise aktuellem Stand. Auch die Einführungen am Ende des Buchs sind kompakt, verständlich und flüssig geschrieben. Trotzdem wirkt die Verteilung letztlich, als ob der Autor sich nicht recht habe entscheiden können, was er eigentlich schreiben wollte. Zu 90% liest das Buch sich nicht wie „USA verstehen“, sondern wie eine „Einführung in die Geschichte der USA“. Wer sich hier nicht bereits sehr gut auskennt, wird von Herz viele neue Informationen geliefert bekommen und danach eine Rundum-Bildung auf diesem Gebiet haben. Dies kann nicht bezweifelt werden, und Herz‘ Schreibe macht das Buch unter diesem Aspekt auch interessant genug. 

Allein, hat man die erste Enttäuschung über die inhaltlichen Leerstellen für das Thema „USA verstehen“ überwunden, so bleiben zwei Kritikpunkte zurück. Der erste ist die arge Knappheit der Zusatzinformationen im letzten Viertel des Buchs (die ersten 300 Seiten umfassen die Geschichte, nur die letzten hundert den Rest). Hier wäre etwas mehr durchaus mehr gewesen. Die Themen werden nur sehr eingeschränkt angerissen, und besonders bei den Medien- und Universitätssystemen merkt man den beschränkten Platz sehr deutlich, da die einzelnen Bundesstaaten hier deutlich divergieren. Zusätzliche hundert Seiten hätten hier sicherlich geholfen, die Einführung über die reine Skizze hinaus zu gestalten. 

Der andere Kritikpunkt betrifft die Geschichtsdarstellung selbst. Obwohl umfangreich recherchiert und flüssig geschrieben und dabei durchaus kompakt, konzentriert sie sich allzu stark auf die Präsidenten und ihre Handlungen und lässt etwa Gesellschafts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte größtenteils außen vor. Dies fällt besonders in jenen Epochen auf, in denen die Präsidenten besonders schwache Figuren waren, etwa n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während für die Zeit des Ost-West-Konflikts eine solche Darstellung durchaus Sinn macht und Verständnis fördernd ist, fällt sie hier deutlich zu kurz. 

Mit diesen Einschränkungen ist Herz‘ Buch jedoch trotz allem zu empfehlen. Als Einführung für den bisher unkundigen Leser oder auch als Auffrischung für auf dem Feld erfahrenere Zeitgenossen hat es deutliche Tugenden. Nur ist man nach der Lektüre noch lange nicht beim „USA verstehen“ angelangt - dafür braucht es doch noch mehr. 

Rezension im Auftrag des Roten Dorn. Mit freundlicher Genehmigung. 

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/01/buchbesprechung-dietmar-herz-usa.html

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