„Vive la France, vive la République, Mort aux Prussiens“: Deutsche Aufenthaltsgesuche aus Lille (1870/71)

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Un officier de cavalerie française garde soldats bavarois capturés

Bei Recherchen für meine Masterarbeit an der Universität Mannheim über die deutschstämmige Familie Kolb aus Lille, habe ich im Archiv des Departments Nord Quellen aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges (1870/71) gefunden (Signatur: M176/7), die ich hier kurz vorstellen möchte.

Nach Kriegsausbruch und der Niederlage von Sedan (02.09.1870) wendeten sich zahlreiche Deutsche des Departments Nord nach Aufforderung an die französischen Behörden, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Es wurde versucht, eine kriegsbedingte Ausweisung abzuwenden. In den alphabetisch nach Nachnamen geordneten Akten des Departmentsarchivs Lille findet man entweder ein standardisiertes Formular der Behörden, oder der Antragsteller/ die Antragstellerin wendete sich schriftlich mit einem Brief an die Präfektur. Der Bestand umfasst rund 180 solcher Aufenthaltsgesuche, darunter etwa 50 von Frauen.

Die Schreiben enthalten den vollständigen Namen, den Geburtsort, das Geburtsdatum, den Beruf, den Wohnsitz und seit wann man sich in Frankreich aufhielt. Außerdem wurde gefragt, ob die Person verheiratet war. Dabei wurde besonders hervorgehoben, wenn eine Eheschließung mit einer Französin / einem Franzosen erfolgt war sowie die Anzahl der Kinder genannt. Darüber hinaus mussten französische Gewährspersonen genannt werden. Dadurch konnte es vorkommen, dass dem Antrag patriotische und antipreußische Aussagen hinzugefügt wurden, z. B.: „Vive la France, vive la République, Mort aux Prussiens“ (Charles Birth aus Cateau-Cambrésis, Nord, 18. September 1870). In der Regel wurde jedoch auf gemäßigtere Weise, die Loyalität gegenüber Frankreich betont. Bei den Gewährspersonen handelte es sich beispielsweise um Bürgermeister, Arbeitgeber, Geistliche oder Personen aus dem persönlichen Umfeld. Außerdem befinden sich in den Akten auch Auskünfte der Polizeibehörden.

 

Auszug aus einem standardisierten Bogen:

„[…] Md. Hartwig Emma, né le 16 avril 1846 à Hagen (Prusse) résident en France depuis le 25 8ten [octobre] 1866 dans la commune de Lille rue de Paris No 99 depuis le 25 8ten [octobre] 1866 profession de femme de chambre, célibataire.

Vu le décret du 16 septembre 1870, concernant les étrangers appartenant aux puissances avec lesquelles la France se trouve actuellement en guerre, a l’honneur de solliciter de M. le Préfet du Nord l’autorisation spéciale prescrite par l’article 2 du décret, pour séjourner en France, dans la commune de Lille, Le 18 octobre 1870
(signature du demandeur)
Emma Hartwig

La demande ci-dessus est appuyée par les soussignés : 1o le sieur Monier-Leclercq, âge de 66 ans, profession de négociant demeurant à Lille rue de Paris No 99 : 2o le sieur Dechin âge de 31 ans, profession commis-négociant demeurant à Lille rue Massena 22 […], qui déclarant, sous leur responsabilité personnelle, bien connaitre la Md. Hartwig Emma et se porter garants de sa conduite. »

 

Monsieur Monier-Leclercq war Inhaber eines Bekleidungsgeschäftes und Emma Hartwig verwendete bei der weiteren Korrespondenz mit den Behörden auch sein Briefpapier, da sie in seinem Haushalt arbeitete.

Der Quellenfund gibt einen Überblick zu den Herkunftsgebieten, dem französischen Wohnsitz, der Verteilung und der Sozialstruktur der Deutschen des Departments Nord, einer französisch-belgischen Grenzregion. Besonders interessant sind die persönlichen Briefe an die Behörden, die oft über den üblichen Inhalt der standardisierten Bögen hinausgehen. Deutschstämmige Geschäftsleute oder Ladenbesitzer benutzten ihr Firmenbriefpapier und unterstrichen damit ihre Integration in das französische Wirtschaftsleben oder es wurden von den Antragstellern/Gewährspersonen Verbindungen zur französischen Armee betont. Diese Verbindungen zu Frankreich waren auch wichtige Faktoren, die bei einem anschließenden Einbürgerungsantrag ins Gewicht fallen konnten.

Die Schriftstücke verdeutlichen das Identitätsproblem, dem die Deutschen des Departments Nord nach Ausbruch des Krieges ausgesetzt waren. Diejenigen, die sich bis 1870 nicht einbürgern ließen, waren nun der Gefahr einer Ausweisung ausgesetzt und versuchten die Behörden von ihrer loyalen Haltung zu überzeugen.

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Zur weiteren Lektüre:

Dornel, Laurent, Être étranger en France à la fin du Second Empire, Migrance 35 (2010), S. 13-22.

König, Mareike, Les immigrés allemands à Paris 1870/71: entre expulsion, naturalisation et lutte sur les barricades, in: Migrance 35 (2010), S. 60-70. Autorenversion unter: http://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-00979336

Parisot, Guillaume, De la négociation comme instrument d’occupation pacifiée et d’exploitation économique efficace pendant la guerre de 1870–1871, in: Chanet, Jean-François / Crepin, Annie / Windler, Christian (Hg.), Le Temps des hommes doubles. Les arrangements face à l’occupation, de la Révolution francaise à la guerre de 1870, Rennes 2013, S. 279–302.

Rack, Katrin, Tagungsbericht: La Commune et les étrangers, 29.01.2010, DHI Paris.

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Abbildung: Jean-Baptiste-Édouard Detaille, Un officier de cavalerie française garde soldats bavarois capturés (1875) – Wikimedia Commons.

 

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/1769

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