Musik im Fangnetz von Politik und Ideologie – Ein Augenzeugenbericht

In diesem Post geht es ausnahmsweise nicht um die Musik der 1950er Jahre, sondern um ein extremes Beispiel politischer Instrumentalisierung von Musik, wie sie im Kontext des Nationalsozialismus üblich war. Der erinnernde Bericht, den ich hier zitieren möchte, stammt aus dem Jahre 1960. Anlass ist eine Umfrage in der Zeitschrift Melos, bei der es um die (damals aktuelle und mit Ernst diskutierte) Frage geht, ob die musikalische Avantgarde „echt“ oder aber von geldgierigen Managern „gemacht“ sei. Alfred Schlee (1901-1999), Musikwissenschaftler und Musik-Verleger bei der Universal Edition, fühlt sich bei dieser Frage an eine Situation erinnert, die sich in den 1930er Jahren in Wien zutrug. Er berichtet 1960:

Ich hörte sie [die Frage] zum erstenmal, als ich in den dreißiger Jahren, erst kurz in der Universal-Edition tätig, im Auftrag der Direktion, eine politische Versammlung in Wien besuchte. Das Thema hieß „Kulturprogramm“. Der Redner behandelte hauptsächlich die zu beseitigenden Mißstände. Er enthüllte, entlarvte und riß vor allem Emil Hertzka (Anm. d. Red.: damals Direktor der UE) die Maske vom Gesicht. Er wußte nicht nur, wie Hertzka alle damals avantgardistischen Komponisten „machte“, er wußte auch, warum Hertzka es tat. Der Redner war klug genug, vorauszusetzen, daß es unglaubwürdig erscheinen würde, als Triebfeder solchen Managements Geschäftsinteressen anzusehen. Er brachte Beweismaterial, daß Hertzka und sein Verlag als Handlanger des Weltjudentums und der Kommunisten arbeiteten und im Gesamtplan der Ausrottung des Ariertums die deutsche Musik zu vernichten übernommen hätten. Zu diesem Zwecke habe Hertzka einige immerhin talentierte Komponisten um sich geschart und einem jeden Spezialaufträge gegeben. Schönberg: Vernichtung der deutschen Tonkunst durch Beseitigung der Tonalitäten. Berg, „Wozzeck“: Verspottung soldatischen Geistes. Krenek, „Jonny spielt auf“: Triumph der schwarzen über die weiße Rasse. Weill: Nihilismus und Klassenhaß. Schreker: Entmannung der Jugend durch zügellose Sinnlichkeit. Auch Webern wurde genannt. Doch habe dieser, so sagte der Redner, Hertzka verstimmt, weil Webern durch Übersteigerung des Häßlichen sich lächerlich gemacht und dadurch den gewünschten Zersetzungserfolg in Frage gestellt habe. Wir haben damals – wie sich später zeigte fälschlicherweise – viel gelacht, zumal jemand das Gerücht aufbrachte, dieser Redner sei ein von Hertzka abgewiesener Komponist gewesen.1

Da Emil Herztka 1932 starb, ist anzunehmen, dass diese politische Veranstaltung vor 1932 stattfand. Als Augenzeugenbericht (fast 30 Jahre später) sind die Angaben aus wissenschaftlicher Sicht freilich mit Vorsicht zu behandeln. Doch geben sie ein eindrückliches und anschauliches Beispiel dafür, wie Kunst im Allgemeinen und Musik im Besonderen von den Nationalsozialisten instrumentalisiert wurde. Außerdem bieten sie einen komprimierten Überblick darüber, was in der nationalsozialistischen Ideologie als „entartete“ Musik galt.

Etwa Arnold Schönberg: Dass er in radikaler Neuerung an die Stelle des Systems der Dur-Moll-Tonalität die Atonalität und Zwölftontechnik setzte, wurde interpretiert als Rückfall in Chaos und Anarchie und als Beispiel für den Verfall der Musik in der Moderne. In der Ablösung der Tonalität, so legt der obige Text nahe, würde Schönberg die deutsche Musik vernichten wollen. Neben dem offenkundigen Antisemitismus mutet dieses Argument absurd an, da Schönberg gerade in bewusster Fortführung der deutsch-österreichischen Musiktradition seine kompositionstechnischen Neuerungen vollzog. Golan Gur wies in seiner Dissertation Orakelnde Musik darauf hin, dass die Ursprünge von Schönbergs Idee des musikalischen Fortschritts nicht in seinem jüdischen Erbe, sondern in der deutschen Geistesgeschichte zu suchen sind.2

Alban Berg war zwar nicht jüdischer Abstammung, dennoch galt seine Musik als entartet und er als Bolschewist. „Kulturbolschewismus“ war ein Begriff, hinter dem sich u.a. die Angst vor der Moderne äußerte, und den sich die Nazis als Kampfwort und Feindbild zunutze machten. Die Abgrenzung des Bolschewistischen vom Jüdischen war dabei nicht immer klar. Insbesondere Bergs Wozzeck wurde als entartet angesehen: Die Oper, die noch in der Weimarer Republik große Erfolge feierte, erzählt die Geschichte der an seinen Lebensumständen gebrochenen Figur des Soldaten Wozzeck und verbindet klassische Formen und Satztechniken mit Atonalität.

Ernst Kreneks (Zeit-) Oper Jonny spielt auf gehörte zu den erfolgreichsten Opern der 1920er Jahre. Im NS-Staat galt sie dann als prominentes Beispiel für entartete Kunst und war auch auf der Begleitbroschüre zur Ausstellung „Entartete Musik“ in Düsseldorf 1938 abgebildet (siehe Abbildung). Im Falle Kreneks zielte der Rassismus nicht auf seine (österreichische) Herkunft, sondern auf die Jazzelemente, die er in seiner Musik verwendete und die Handlung der Oper, die sich um einen afroamerikanischen Musiker dreht. Auch hier wurde in der Kunst eine Bedrohung gesichtet: Amerika vs. Europa, schwarz vs. weiß, Jazz vs. deutsche Musik.

 

Kurt Weill ist insbesondere bekannt für seine Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. Dabei entstand unter anderem die Dreigroschenoper, die sich durch ihre eingängigen Songs (statt Arien) mit gesellschaftskritischem Impetus (Stichwort: Verfremdungseffekt) auszeichnet. Für die Nazis ein eindeutiger Fall von Kulturbolschewismus und damit Entartung. – Die Musik Franz Schrekers wurde aufgrund seiner jüdischen Abstammung verboten, darüber hinaus wurde ihr vorgeworfen, in ihrer gesteigerten Sinnlichkeit einen schlechten Einfluss auf die Menschen auszuüben.

„Vernichtung“, „Verspottung“, „Nihilismus“, „Entmannung“ – all dies seien Gefahren, die von der entarteten Musik ausgehen. Und mehr noch: Es seien Aufträge, welche die Komponisten von dem jüdischen Verlagsleiter Hertzka erhielten, um die deutsche Musik zu zerstören und Judentum und Kommunismus in der Welt zu verbreiten. Dass die Opern von Berg, Weill und Krenek jeweils individuelle Antworten darstellen auf die Herausforderung, der Oper im 20. Jahrhundert eine zeitgemäße Form zu verleihen, hat freilich keinen Platz in diesen, nur Propaganda-Zwecken folgenden Ausführungen.

Aus meiner heutigen Perspektive finde ich es erschreckend zu sehen, wie Musikgeschichte hier selektiv, einseitig-ideologisch, ausgerichtet auf politische Funktionalisierung, und – so muss ich doch sagen – äußerst plump gedeutet wurde. Diese Interpretation wäre, wie Schlee erwähnt, eigentlich ein Grund zum (Aus-) Lachen, wenn sie nicht zur traurigen Wirklichkeit der nationalsozialistischen Kulturpolitik gehörte.

Was bedeutet es nun, dass Schlee im Kontext der Melos-Umfrage auf die Verfemung Neuer Musik durch die Nazis verweist? Damit möchte er wohl zeigen, dass der Vorwurf, die musikalische Avantgarde sei eine lukrative Modeerscheinung und durch Musik-Manager (gemeint: Rundfunk-Redakteure, Festivalleiter u.a.) gesteuert, nicht auf eine rationale Argumentation, sondern auf ähnliche ideologische Motivationen zurückzuführen sei wie die repressive und zerstörerische Kulturpolitik im NS-Staat. Die verbale Auseinandersetzung für und gegen die zeitgenössische Musik wurde in den 1950er Jahren – so zeigt sich mir fast täglich in meiner Quellenarbeit – mit starken Geschützen gefochten.

 

1Alfred Schlee, „Die Frage ist nicht neu“, in: Melos 27 (1960), S. 181.

2Golan Gur, „Orakelnde Musik. Schönberg, der Fortschritt und die Avantgarde, Kassel 2013 (Musiksoziologie, 18), S. 149.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/193

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