Die wortkargen Spuren ländlicher Politik


„Bernried am 6. Dezember 1891. Gegenstand der Beschlußfassung: Aenderung der bestehenden Fleischaufschlaggebühren. Die bisher bestehenden Fleisch-Aufschlaggebühren abzuändern und folgende Sätze zu normiren:

Von einem Ochsen M. 3

Von einem Stiere oder Kuh M. 1,30

Von einem Jungrinde M 1,30 […]“ (Gemeindearchiv Bernried am Starnberger See [GAB], Best. B2-3, S. 206)

„Bernried am 20. Sept. 1896. Gegenstand der Beschlußfassung: Dachreparatur an der Lehrerwohnung. Die Firstziegel auf der Westseite des Daches des Lehrerwohnhauses, welche bei Wind immer locker werden u. herunterfallen, sollen durch Firstbleche ersetzt werden. Die diesbezügl. Arbeiten sollen durch Spänglermeister Hr. Wiedemann in Weilheim, welcher 2 M. für den lfd. Meter verlangt, ausgeführt werden.“ (GAB, B2-4, S. 25)

Zwei (fast) zufällig ausgewählte Gemeinderatsprotokolle aus einer kleinen oberbayerischen Landgemeinde. Nicht nur, dass sie alle unsere Vorurteile gegenüber Kommunalpolitik zu bestätigen scheinen, nein, sie sind darüber hinaus auch ziemlich wortkarg. Warum werden die Gebühren geändert? Welche Interessen treffen in dieser Frage aufeinander? Gibt es Diskussionen im Gemeinderat, und wer setzt sich schlussendlich durch? Das Gleiche in der zweiten Episode: Wir erfahren weder etwas über den Kontext des Problems, noch darüber, wie es zu einem des Gemeinderats wird, noch gibt es Hinweise auf das Zustandekommen der Entscheidung.

Das ist einer der Gründe, weshalb Gemeinderatsprotokolle so selten als Quellen verwendet werden – sie verraten einfach nicht besonders viel. In der Regel findet man lediglich Ergebnisprotokolle, die wenig Hinweise auf den Gang der Verhandlungen geben. Strittige Punkte werden nicht verdeutlicht, Konflikte unsichtbar gemacht.

Ich habe sie dennoch zum zentralen Korpus meiner Mikrostudien gemacht. Denn sie haben für mich einen unschlagbaren Vorteil: Ich kann sie ziemlich gut diachron auswerten. Ich versuche ja, über einen langen Zeitraum, zwischen 1850 und 1950 (Ja, Mediävist*innen und Co., lacht über meinen „langen“ Zeitraum!), möglichst nah an die politischen Akteure vor Ort herankommen. Da bietet es sich an, zunächst einmal einen Quellentyp auszuwerten, der über fast den gesamten Zeitraum vorliegt (so die Überlieferung will, aber das ist ein anderes Thema).

Die Protokolle bieten mir also die Möglichkeit, Gemeinden in ihrem „Normalzustand“ über einen langen Zeitraum sichtbar zu machen. Gerade die vermeintlich langweiligen Themen, die dort verhandelt werden, werden dann interessant, denn ich kann sehen, womit sich die Akteure vor Ort überhaupt befassten. Ginge ich anders vor, etwa über Konflikte wie Beschwerden, Gerichtsverfahren usw., könnte ich diese Normalität gar nicht sichtbar machen.

Derzeit bin ich damit beschäftigt, diese Normalität in ihrer ganzen Langatmigkeit zu erheben. Ich sichte die abfotografierten Protokolle und erfasse Daten und Betreffzeilen in einer Tabelle, die ich im Folgenden verschlagworte. So kann ich die Häufung und Konjunkturen bestimmter Problematiken verfolgen, aber auch sehen, wie sich Zuständigkeiten verändern. Problemfälle werden genauso sichtbar, nämlich dann, wenn in kurzen Zeitabständen immer wieder die gleichen Themen verhandelt werden.

So sieht ein Teil meiner Auswertungstabelle derzeit aus.

So sieht ein Teil meiner Auswertungstabelle derzeit aus.

Diese erste Auswertung auf der Oberfläche ermöglicht es mir dann, bestimmte Themenfelder zu identifizieren, die für die ländlichen Gemeinden von besonderer Bedeutung waren. Diese kann ich dann mittels weiterer Quellen genauer aufrollen, denn dann sind tatsächlich die wenigen Worte, die ein Gemeinderatsprotokoll macht, nicht mehr ausreichend für meine Analysen.

Beim genaueren Sichten fällt aber schon auf, dass die Protokolle möglicherweise doch etwas gesprächiger sind, als es auf den ersten Blick scheint. So wird beispielsweise über Ausstreichungen oder Hinzufügungen manchmal deutlich, wie sich im Laufe einer Gemeinderatssitzung die Kompromisse oder Mehrheitsmeinungen erst herausgebildet haben. Auch wenn keineswegs im Protokoll zu lesen ist, dass man sich nach ausführlicher Beratung und der Abwägung von Alternativen auf einen bestimmten Modus geeinigt habe, so kann man das doch an der Form der Protokollierung ablesen.

Ausstreichungen und Hinzufügungen in einem Gemeinderatsprotokoll

Ausstreichungen und Hinzufügungen in einem Gemeinderatsprotokoll

Auch andere Informationen über die Praxis gemeindlicher Politik kann man aus der seriellen Auswertung dieser Gemeinderatsprotokolle ziehen. So fällt etwa auf, dass sich in der Gemeinde Bernried am Starnberger See (meine bayerische Untersuchungsgemeinde), erst langsam aber sicher ein fester Sitzungstermin des Gemeinderates herausbildeten, an dem mehrere Themen verhandelt wurden. Vorher wurden, zum Teil im Abstand von nur wenigen Tagen, offenbar ad hoc Sitzungen abgehalten, um jeweils nur eine, gerade akute Frage zu verhandeln.

Vermutlich haben sich im Zuge dieser Bündelung auch andere Formen der gemeindlichen Politik verändert. Vielleicht hatte das Gründe in den Gemeindesatzungen, vielleicht waren das aber auch Effekte einer anderen Zusammensetzung des Gemeinderats. Wenn etwa neue Mitglieder gewählt wurden, die nicht zu einer Gruppe gehörten, die ohnehin ständig zusammensaß, könnte das Effekte auf die Sitzungspraxis gehabt haben. Über die Form der Gemeinderatssitzungen gibt es leider keine Aufzeichnungen, aber die wenigen Hinweise, die die Protokolle (gerade in ihrer Masse) geben, können als Indizien weitere Recherchen anstoßen – und das müssen sie auch. Und zwar nicht nur, um herauszufinden, was es mit den Fleisch-Aufschlaggebühren auf sich hat.

Nun zu Euch, meinen unbekannten Leser*innen: Kennt Ihr Arbeiten, die ähnlich verfahren? Habt Ihr vielleicht Ratschläge und Erfahrungen, wie man eine solche Auswertung möglicherweise optimieren kann?

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/33

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