Das Psychologische in der Kunst: Über Spannung und Entspannung beim Kunsterlebnis

Studienzeichnung Borghesischer Fechter - Friedrich von Gärtner - 1809Zur Analyse der ARTigo-Farbtags ist zunächst die Erläuterung folgender psychologischer Komponenten des Kunsterlebnisses nötig:

  • Theorien zum Kunsterlebnis
  • Das Modell der Homöostase
  • Die Theorie zum Kunsterlebnis von Kreitler & Kreitler (1972)

Danach werde ich in einem gesonderten Artikel darauf eingehen, wie sich der Aspekt der Spannung auf die ARTigo-Spieler und die von ihnen vergebenen Farbtags auswirkt. Um das richtig einordnen zu können, ist diese kurze Einführung in die Thematik nötig.

Theorien zum Kunsterlebnis – ein paar Basics

Die Psychologie ist die Wissenschaft, die das Erleben und Verhalten des Menschen erforscht. Dazu gehört auch das Kunsterlebnis, für dessen Erklärung man zunächst allgemeine Theorien, die zum Verständnis von Persönlichkeit und Verhalten des Menschen aufgestellt worden waren, heranzog.  Die folgenden Abschnitte geben einen kurzen Überblick über diese Theorien.

Die Psychoanalyse fragt nach der Ursache der Lust des Betrachters. Für sie stellt die Wahrnehmung von Kunstwerken eine Ersatzbefriedigung von kindlichen und primitiven Trieben dar, die auf diese Weise in sublimierter Form erfolgt. Für Freud war die Befriedigung dieser Lust aber lediglich eine „milde Narkose“, und er schrieb „Der Genuß an der Schönheit hat einen besonderen, milde berauschenden Empfindungscharakter.“ [1]

Der psychoanalytische Ansatz wurde in der Wissenschaft vielfach diskutiert und kritisiert und stellt keinen ernstzunehmenden Beitrag zur Erklärung des Kunsterlebnisses dar [2]. Trotzdem scheinen mir die Äußerungen Freuds interessant. Darauf werde ich in einem späteren Artikel gesondert eingehen.

Die Gestaltpsychologie (Ehrenfels, Köhler, Koffka, Wertheimer) postuliert, dass „das Ganze mehr als nur die Summe seiner Teile oder der Relationen zwischen seinen Teilen“ ist. Hier geht es um die Wirkung der Gestalt, die nicht auf individuelle, sie ausmachende einzelne Elemente reduziert werden kann, sondern als Ganzes wirkt. Die Gestaltpsychologie sucht nach den Bestandteilen, die unsere Wahrnehmung organisieren.

Ihr Beitrag zum Verständnis des Kunsterlebnisses liegt in der Schaffung einer Ordnung der formalen Gesichtspunkte eines Kunstwerks. Trotz der Untersuchung der formalen Aspekte von Kunstwerken löste sie sich nicht vom Inhalt der Werke.

Der Behaviorismus postuliert, dass es sich beim Kunsterlebnis um „ein als Bevorzugungserklärung reflektiertes Geschmacksurteil handele, und dass der Grad der Bevorzugung für das Gesamtkunstwerk die Summe seiner Bevorzugungen für die vereinzelten und einzeln zu betrachtenden Elemente sei“. Ein Kunstwerk besteht also aus vielen einzelnen Elementen, deren positiver Eindruck bei der Betrachtung quasi aufaddiert wird. Die Gesamtsumme macht dann das Geschmacksurteil des Betrachters aus und führt wohl letztlich zu Aussagen wie:“ Das spricht mich an / das finde ich toll / oh wie schrecklich“.

Innerhalb des Behaviorismus nahm Berlyne an, eine besondere Eigenschaft eines Kunstwerks sei, dass es im Betrachter für einen Anstieg der Erregung mit einer nachfolgenden Entspannung sorgen würde. Das Ansteigen der Erregung kommt dabei über den Grad der Neuartigkeit und der Komplexität zustande. Das genaue Betrachten und Erforschen eines Werkes sorgt für Entspannung, wobei der Anstieg der Erregung von Lust begleitet sein kann. Berlyne stellte erstmals fest, dass ein Kunstwerk „Reizvariablen“ enthält, wie Neuartigkeit, Komplexität, Überraschung und Vielartigkeit von Elementen.

Die Informationstheorie betrachtet Kommunikation unter einem technisch-mathematischen Konzept. Das bekannte Sender-Empfänger-Modell von Shannon & Weaver (1949) beschreibt, wie Information zwischen einem Sender und Empfänger übertragen wird und nennt einige Bedingungen, wie passende Kodierung oder Störungen, unter welchen Information durch einen Kanal fließt.

Auf die Kunst angewandt bedeutet dies, dass bei ihrer Betrachtung Information übertragen wird. Beinhaltet die Information Ungewissheit, so kann dies zur Frustration (also Spannung) beim Betrachter führen. Ideal ist also Information, die über eine gewisse Dichte verfügt. D.h., enthält sie wiederholte Inhalte, die redundant sind, dann langweilt sie. Enthält die Information zu viel Inhalte, ist also zu wenig redundant, dann überfordert sie den Betrachter und löst Chaos aus.

Die Informationstheorie bietet nur in begrenztem Maß eine Erklärung für das Kunsterlebnis. Sie analysiert zwar einige Aspekte der formalen Struktur von Kunstwerken, und ein informativer Aspekt ist Kunst sicher nicht abzusprechen, aber die Reduzierung des Erlebnisses „auf Auslösung, Frustrierung und Bestätigung von Erwartungen“ (Meyer, 1959) ist zu wenig.

Gemeinsamkeiten der Theorien

Alle Theorien haben folgende Gemeinsamkeiten:

  • Sie erklären das Kunsterlebnis mit allgemeinen Konzepten der Psychologie
  • Sie legen das homöostatische Modell zugrunde (sh. folgender Abschnitt)
  • Sie nehmen an, dass das Erleben von Kunst durch Spannung und Entspannung wesentlich beeinflusst wird [2].

Das Modell der Homöostase

Ein Organismus ist auf das Herstellen eines Gleichgewichtszustandes ausgelegt. Ein Regelkreis, der durch innere oder äußere Störungen, die Spannung vermitteln, beeinflusst wird, verwertet dazu die Information über das Maß und die Art von Veränderung seiner Umwelt und reagiert darauf, um einen Ausgleich, also Entspannung, wiederherzustellen. Das Herstellen des Ausgleichs kann einen Lernprozess oder eine Entwicklung (Evolution) einschließen, da nicht nur das Wiederherstellen eines Gleichgewichts erreicht wird, sondern durch das Lernen zur Einrichtung von stabilen Gleichgewichtszuständen kommen kann [3].

Als Beispiel wäre zu nennen, dass der Organismus bei starker Sonneneinstrahlung und Wärme mit Schweißabsonderung reagiert, um sich abzukühlen. Als Lernprozess könnte folgen, dass er zukünftig eine zu starke Wärme vermeiden wird.

Die Homöostase können z.B. folgende Zustände stören:

  • Bestehende, nicht gelöste Probleme,
  • Unvollendete Aufgaben,
  • Figuren, die das Gestaltprinzip verletzen [2] ,
  • Unzufriedenheit über Lebenssituationen oder –umstände,
  • Der eigene Minderwert, ob bewusst oder unbewusst vorhanden.

Dabei ist zu bemerken, dass die Aussicht des Individuums, den Spannungsausgleich wiederherzustellen, häufig von Lust begleitet wird oder zumindest als angenehm empfunden wird. Z.B. gehört die Aussage „Vorfreude ist die schönste Freude“ in diesen Zusammenhang [2].

Die Theorie zum Kunsterlebnis von Kreitler & Kreitler (1972)

Wie bereits erwähnt, wurden die vorstehenden Theorien aufgestellt, um das Erleben von Menschen in einem allgemeinen Kontext zu erklären.

Hier noch einmal eine grafische Darstellung des Prinzips bezüglich Spannung und Entspannung der o.g. Theorien :

Theorie1

Das auf Ausgleich angelegte Individuum empfindet Spannung, die es aufzulösen gilt, was ein von Lustempfinden begleiteter Prozess sein kann.

Kreitler & Kreitler erschien dieses Prinzip aber unlogisch und sie stellten in der Folge eine eigene Theorie auf, die speziell das Kunsterlebnis erklären sollte. Sie fragten sich, warum ein nach Ausgleich strebender Organismus von sich aus nach Spannung suchen sollte? Deshalb postulierten sie, „daß eine der Hauptmotivationen der Kunst Spannungen sind, die in dem Betrachter bereits vor seiner Beschäftigung mit dem Kunstwerk bestehen. Das Kunstwerk vermittelt die Erleichterung und Entspannung dieser bereits existierenden Spannungen durch die Schaffung neuer spezifischer Spannungen.“ [2]

Theorie2-

 

 

 

Kreitler & Kreitler (1972) stellten somit die Hypothese auf, dass die Beschäftigung mit Kunst deshalb gesucht wird, weil eine im Betrachter bereits bestehende Spannung durch die Betrachtung der Kunstwerke verstärkt wird, was dann zu einer Lösung der vorbestehenden Spannung führt und ein von Lust begleiteter Prozess ist [2].

Um dies besser verstehen zu können, möchte ich als Beispiel die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson anführen. Bei Stress und Spannungsgefühlen ist dies eine seit etwa 90 Jahren bewährte Therapie. So bewährt, dass die Übungen an vielen Volkshochschulen gelehrt werden.

Bei dieser Methode spannt man verschiedene Muskelgruppen für einige Sekunden stark an und lässt dann abrupt wieder los, was zu einer Lockerung der bereits bestehenden (Ver-)spannung führt. Beim Lösen der bewusst herbei geführten Anspannung verbreitet sich sofort ein sehr angenehmes Wohlgefühl in der Muskelpartie.

Wie bei der Progressiven Muskelentspannung, die auf physischer Ebene wirkt, soll das Betrachten von Kunst also auf psychologischer Ebene wirken. Die vorbestehende diffuse Spannung (rote Schrift) soll durch Zugabe der Spannung, die durch Kunstwerke vermittelt wird (schwarze Schrift) aufgelöst werden.

Meine weiteren Betrachtungen hinsichtlich der Spannung, die durch das Kunsterlebnis vermittelt werden, werde ich auf Basis der Theorie von Kreitler & Kreitler vornehmen, weil mir diese – im Vergleich zu den anderen genannten Theorien – schlüssiger und vollständiger erscheint. Gleichzeitig frage ich mich aber, ob und in welchen Fällen die vorbestehende Spannung mit aufgelöst wird. Im Gegensatz zu Kreitler & Kreitler sehe ich in diesem Punkt weiteren Differenzierungsbedarf.

Spannung und Entspannung bei Farbkombinationen

Um Spannung und Entspannung von Farbkombinationen zu untersuchen, ließen Kreitler & Kreitler ihre Probanden Farbkärtchen sortieren. Die Quintessenz ihrer Ergebnisse bezüglich des Untersuchungsgegenstandes Farbe lautet, dass bestimmte Farbkontraste, wie der Komplementärkontrast oder zwei einander ähnliche Farbtöne, Spannung vermitteln. Entspannung wird hingegen von Zwischentönen und Grautönen vermittelt.

Natürlich gibt es seitens des Betrachters sowie des Kunstwerks einige Variablen. Das Vorwissen des Betrachters ist wichtig oder auch wie sehr er sich auf das Kunstwerk einlassen oder einfühlen kann. Davon hängt ab, wie stark die Spannungen des Kunstwerks sind, die es vermittelt. Sind sie zu stark, wendet er sich ab, reagiert verärgert oder mit Angst, sind sie zu schwach reagiert er mit Langeweile, wenn der Grad an Neuem nicht ausreicht. Trotzdem kann man ganz allgemein feststellen, dass Farbe in Kunstwerken Spannung im Betrachter hervorruft [2].

Für mich schließen sich zwei Fragen an, die ich in den folgenden Artikeln klären möchte:

  1. Kann man einen Hinweis auf die Spannung, die Farbe vermittelt, auch bei ARTigo-Spielern finden?
  2. Welcher Art müssen die diffusen, im Betrachter vorbestehenden Spannungen sein, damit sie bei der Kunstbetrachtung aufgelöst werden können? Welche Spannungen können nicht aufgelöst werden?

Literatur

[1] Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, 1930

[2] Hans Kreitler und Shulamit Kreitler: Psychologie der Kunst, 1980

[3] Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, 1977

Bild: Friedrich von Gärtner, Studienzeichnung Borghesischer Fechter, 1809, München, Architekturmuseum der Technischen Universität

Digitale Bildquelle: www.artigo.org

Quelle: http://games.hypotheses.org/?p=1743

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