02. Franziskus und die Frage nach Zeit oder Ewigkeit

Rituale im Flüsterton

Es ist schon ein paar Tage her, dass der katholischen Welt ein neues Oberhaupt beschert wurde und der Rest der Welt einen neuen Papst kennenlernte. Lassen wir an dieser Stelle die vielen Diskussionen um die Reformbedürftigkeit und Reformwilligkeit einer fast zweitausend Jahre alten Institution beiseite, all die Fragen um die Kompatibilität einer Heilsgarantieinstitution samt Alleinvertretungsanspruch mit den Gegebenheiten des frühen 21. Jahrhunderts. Als Unternehmensberater müsste man der katholischen Kirche wohl dringend raten, keinesfalls diesen Aufforderungen zur Anpassung an die Gegenwart nachzugeben, denn damit würde sie ihren unverwechselbaren Markenkern verlieren. Wo findet man so etwas noch, eine weithin etablierte Institution riesigen Ausmaßes mit einer gehörigen Anhängerschaft (wie aktiv oder passiv diese auch immer sein mag), die ganz offensichtlich in der Lage ist, ein bestimmtes menschliches Bedürfnis nach Ritual und Mysterium zu bedienen? Wie groß dieses Bedürfnis immer noch ist, kann man jedes Jahr an Weihnachten und eben bei jeder Papstwahl beobachten. Auch bei der Kür von Franziskus konnte man sich als Mensch mit einem halbwegs aufgeklärten Selbstverständnis nur wundern über die Berichterstattung diverser Medien. Da wurde über geheimnisvolle Rituale geraunt, wurden lateinische Formeln ausgedeutet und Jahrhunderte alte Traditionen mit gravitätischem Unterton auf ihre Bedeutungen hin abgeklopft. Insbesondere bei Fernsehliveübertragungen müssen sich die Berichtenden dann auch noch eines leichten Flüstertons befleißigen, um ja die Aura des Geschehens nicht über Gebühr zu stören. Man kam sich vor wie bei einem dieser schlechten Dan-Brown-Vatikan-Thriller. Sage mir einer angesichts dieses offensichtlichen Bedürfnisses nach dem Numinosen, das die katholische Kirche umgibt (und mit dem sie umgeben wird), sie sei nicht mehr von dieser Welt. Gut, sie ist nicht mehr von dieser Welt, aber gerade deswegen wird sie sich nicht ändern. Man muss sich entscheiden: entweder Mysterium und Weihrauch (inklusive Zölibat, sexuellen Missbrauchsfällen, Homophobie und einer Ungleichbehandlung der Geschlechter) oder eine „moderne“ Kirche, die mit beiden Füßen in der Gegenwart steht – dafür aber ohne Tamtam und Klimbim. Ich denke, die Chancen der katholischen Kirche, sich nicht ernsthaft modernisieren zu müssen, stehen nicht schlecht.

Der Wievielte?

Aber das soll hier ja gar nicht interessieren. Am Tag der Wahl von Franziskus, am 13. März 2013, gab es eine andere, marginal erscheinende Gelegenheit festzustellen, wie weit die katholische Kirche und die Welt des frühen 21. Jahrhunderts sich bereits auseinander entwickelt haben. Aufgrund der unsäglichen Unsitte, inzwischen auch recht gute Restaurants flächendeckend mit Flachbildschirmen zu tapezieren, wurde ich während eines Abendessens unfreiwilliger Zeuge der Liveübertragung von der Proklamation des neuen Papstes in Rom. Wie auf Knopfdruck titelten alle Medien, und das offensichtlich weltweit, der Name des neuen Papstes sei „Franziskus I.“. Wie inzwischen bekannt, war das nicht korrekt, widersprach auch den Angaben des Vatikans, der die Zählung an keiner Stelle erwähnte, und wurde innerhalb von 24 Stunden von den gleichen Medien auch als Irrtum erkannt und korrigiert. Es gibt zunächst einmal einen trivialen logischen Grund, warum der Titel „Franziskus I.“ keinen Sinn ergibt. Warum sollte man irgendjemand als den Ersten bezeichnen, wenn es nicht mindestens einen Zweiten gibt, von dem er sich unterscheiden könnte? Wenn man schon unbedingt eine Zählung einführen wollte, dann müsste Franziskus nicht „der Erste“, sondern korrekterweise „der bisher Einzige“ als Namenszusatz führen. Oder wenn wir schon bei unsinnigen Titulaturen sind, dann könnten wir ihn, in memoriam Michael Ende, auch Franziskus den Viertelvorzwölften nennen.

Zeit oder Ewigkeit

Aber mit der Zählung war ja schnell Schluss, schon am Tag nach der Wahl hieß der Papst ganz brav überall nur noch „Franziskus“. Mir scheinen die Medienvertreter weltweit aber nicht nur deswegen spontan mit der Bezeichnung „Franziskus I.“ reagiert zu haben, weil sie in ihrer Ausbildung leider gerade auf einem Betriebsausflug waren, als die Seminare „Logik I und II“ angeboten wurden, sondern weil hier zwei grundsätzlich verschiedene temporale Modelle aufeinandertreffen. Es geht um nichts weniger als den Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Fortschritts- und Heilsgeschichte. Und möglicherweise wird gerade an dieser Marginalie, ob man Franziskus nun als den ersten bezeichnen möchte oder nicht, deutlich, wie sehr sich die katholische und die nicht-katholische Welt unterscheiden. Mit einem säkularen Zeit- und Geschichtsverständnis könnte es durchaus sinnvoll erscheinen, Franziskus als den ersten zu bezeichnen. Schließlich muss und darf man davon ausgehen, dass die Geschichte der Menschheit (und der katholischen Kirche) auf Erden noch eine ganze Weile, um nicht zu sagen: unendlich fortgesetzt wird, so dass schon irgendwann ein zweiter kommen wird. Dieses subkutan vorherrschende historische Modell hat, so denke ich, zu den spontanen Tickermeldungen geführt, die den neuen Papst als den ersten seines Namens durchnummerierten. Übersetzt könnte das heißen: Er ist der erste Franziskus, aber ein zweiter wird schon noch kommen, selbst wenn wir ein paar Jahrhunderte warten müssen, aber die Zeit haben wir. Die katholische Kirche hingegen lebt in einer heilsgeschichtlich orientierten Welt, in der es einerseits die Zeit auf Erden gibt, andererseits eine göttliche Ewigkeit, eine transzendente Zeitentrücktheit, auf die Religion im eigentlichen Sinn konzentriert sein muss. Angesichts der Ewigkeit ist die Zeit auf Erden nicht nur eine zu vernachlässigende Marginalie, sondern sie ist auch noch endlich. Schließlich ist die Schöpfung mit einem heilsgeschichtlichen Verfallsdatum versehen, wird irgendwann an ihr Ende kommen, um der Ewigkeit Platz zu machen, wird irgendwann das Jüngste Gericht einberufen, nicht nur um seine Urteile zu fällen, sondern auch um die irdische Zeit in all ihrer Vergänglichkeit abzuschaffen. Und wer weiß, ob es bis dahin einen zweiten Franziskus gegeben haben wird? Sicherlich lässt gerade dieses Ewigkeitsmodell für eine erkleckliche Anzahl von Menschen die katholische Kirche, trotz aller Kritik, immer noch attraktiv erscheinen, weil sie sich einen verschwenderisch-entspannten Umgang mit der Zeit leisten kann, die den meisten Menschen – verstrickt in die Rundum-Ökonomisierung ihres Lebensalltags – abhandengekommen ist. Deswegen kann für die Papstkirche Franziskus eben nicht der erste sein, dem sicherlich ein zweiter nachfolgen wird, sondern muss der bisher einzige sein – der möglicherweise auch der letzte bleiben wird.


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/04/06/02-franziskus-und-die-frage-nach-zeit-oder-ewigkeit/

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Historischer Methodenstreit? Anthropologie vs. Sozialer Raum

Moderne Historiker/innen arbeiten vielfach mit Methoden der Soziologie und der Anthropologie – gerne auch mit beiden. Doch was passiert, wenn grundlegende Ansätze der Nachbarfächer eigentlich unvereinbar sind? So verhält es sich mit dem soziologischen Konzept des Sozialen Raums (Bourdieu) und grundsätzlichen Ausrichtungen der Anthropologie. Beide stehen für unterschiedliche Zugriffe, Beschreibungs- und Darstellungsebenen. Worin genau besteht der Unterschied zwischen den beiden Methoden? Und muss daraus ein Methodenstreit entstehen – oder gibt es einen dritten Weg der methodischen Integration?


Wie (un-)vereinbar sind Anthropologie und Sozialer Raum?

Ein rein anthropologischer Ansatz würde etwa für mein Dissertationsprojekt zu den altgläubigen Zugehörigkeiten und Kulturen bedeuten, dass ich mich zwischen meinen Quellen und Artefakten gleichsam wie ein Ethnologe bewege. Ich würde die Praktiken, Kommunikationsarten, sozialen Distinktionen, Deutungen und Selbstwahrnehmungen von innen heraus, aus der Perspektive der untersuchten Akteure nachvollziehen. Der Zugriff erfolgte im Rahmen von Mikrostudien speziell auf eine soziale Entität oder deren paradigmatische Figuren. Von den dort gemachten Beobachtungen – es geht der Anthropologie vielfach weniger um zeitlich diachrone Kausalitäten und Ereignisketten, sondern um Nachvollziehung und Beschreibung – wird bei dieser Methode vielfach auf allgemeine menschliche Verhaltenskonstanten und Strukturen geschlossen, die das situativ erfasste Handeln determinieren. Gerade die synchrone Arbeitsweise und die mitunter etwas rasche Ausweitung der Beobachtung auf generelle menschliche Verhaltensweisen dürfte für Historiker/innen problematisch sein.[1] Denn sie sind naturgemäß auf Quellen aus der Vergangenheit angewiesen, haben also keinen “unverfälschten” Zugriff auf Kulturen. Allerdings kennen auch Ethnologen dieses Problem, so Robert Scribner. “The mere presence of an observer changes the situation he or she intends to observe, indeed, the ethnologist may well find that what he or she observes is merely the natives observing him or her, so that access to any ‘native point of view’ is virtually impossible.”[2]

Einen bei genauer Betrachtung sehr verschiedenen Zugang zum Sozialen verkörpern Theorie und Methode zur Erfassung des Sozialen Raums, bekanntlich maßgeblich entwickelt von Pierre Bourdieu und der Schule der kritischen Soziologie. Wenden Historiker/innen diese Herangehensweise an, vollziehen sie nicht neutral “von innen”, also aus der Kultur der Studierten selbst heraus, nach. Vielmehr ordnen sie; zeigen, was die Protagonisten selbst nicht sehen; weisen Plätze zu. Entlang von distinktiven Praktiken, Verhaltensweisen, familiärer Herkunft und ökonomischem Kapitel setzt der Forscher die studierten Gruppen oder Personen auf verschiedene Positionen im  Sozialen Raum, der einen Gesamtüberblick “von oben” auf die Konfiguration der Gesamtgesellschaft ermöglichen soll. Dass die studierten Akteure sich selbst, ihr Tun oder andere Gruppen ganz anders oder manches gar nicht wahrnehmen, stört dabei nicht. Denn es ist der Historiker-Soziologe, der dekonstruiert und (be-)urteilt. Er lüftet den Vorhang für den Blick auf das, was die Gesellschaft im Innersten zusammen hält… und trennt. Gerade das wurde in den 1990er Jahren von Soziolog/innen wie Luc Boltanski und aktuell vom Anthropologen Didier Fassin kritisiert.[3] Doch Überblicke und Generalisierungen – kurz, das kritische Moment – sind ein zentraler Bestandteil von sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalysen. Ohne einen nicht an die Perspektiven der Akteure gebundenen Blick “von oben” ließe sich kein Konflikt mehr darstellen, geschweige denn zusammenfassen. Zudem gibt es ja unzweifelhaft verschiedene sozial-kulturelle Zugehörigkeiten, die von den Akteuren als solche bewusst oder unbewusst erkannt und ausgedrückt werden. Es gibt, möchte man sagen, vielleicht keinen Sozialen Raum. Sehr wohl aber Soziale Räume.

Bürger drängen in die Kathedrale von Bourges. Drinnen feiert der Bischof eine Messe – Kulturformen und soziale Praktiken, die dem Historiker nur auf Umwegen zugänglich sind. Doch wie soll man auf sie zugreifen? (Bild: Henfflin-Werkstatt, um 1470)

Bleibt für das theoretisch-methodische Gerüst einer historischen Studie also getrennt, was prinzipiell unvereinbar scheint? Nein, wenn man beide Ansätze ausgleichend kombiniert und integriert. Der Mehrwert aus der praktischen Vereinigung übersteigt meiner Ansicht nach die letztlich unüberwindlichen theoretischen Antagonismen. Mehrere Ansatzpunkte sind hier denkbar, auf einige greife ich auch in meiner Dissertation zurück.

1. Ich sehe mich grunsätzlich einer auf das Soziale gerichteten, konstruktivitischen Kulturwissenschaft und historischen Anthropologie verpflichtet. Es geht mir um den Nachvollzug von innen und unten, um Praktiken, Sinngebungsprozesse und soziale Konfigurationen. Interessant ist für mich die Beschreibung der Aktualisierung altgläubiger Kulturen aus deren Kultursystem selbst heraus. Das bedingt die von Didier Fassin für anthropologisch-soziale Studien geforderte Aussetzung des Urteils (“suspension du jugement”). Ich setze also beim inneren Nachvollzug einer Teilgruppe im fiktiven Sozialen Raum an, natürlich im Bewusstsein um dessen Vielschichtigkeit und Komplexität.

2. Gerade diese Komplexität des Sozialen verdeutlicht, dass sich etwas Eigenes nicht bildet, menschliche Kultur nicht funktionniert, ohne Alterität. Es gibt keine abgeschottete, “reine” Kultur, die man ohne ihre inneren und äußeren Auseinandersetzungen und Abgrenzungen in Bezug auf “die Anderen” im Sozialen Raum untersuchen könnte. Die Fixierung auf nur eine Gruppe, ohne die distinktiv-heterogene Dimension des Sozialen zu berücksichtigen, ist eine Sackgasse. Deshalb versuche ich zudem, den Blick der von mir untersuchten Altgläubigen auf das langsam und situativ konstruierte Andere zu untersuchen. Gleichzeitig ist das sozial-kulturelle Handeln von Altgläubigen aus der Perspektive der “Anderen” (etwa bei reformatorischen Visitationen) oder von “Dritten” (etwa bei Verhören zweier streitender Gruppen) zu untersuchen. Denn ein Merkmal des Eigenen ist es, dass es vielfach so internalisiert ist, dass es “normal” wird. Das Eigene sagt man nicht – außer im Moment der Auseinandersetzung. So verrät auch der Blick der Anderen etwas über kulturelle Eigenheiten der studierten Gruppe. Bei einem rein nachvollziehend-anthropologischen Ansatz würden diese Erkenntismöglichkeiten wegfallen.

3. So sollte die Methode des Vergleichs besondere Beachtung finden. Dies kann der Vergleich zwischen den Wahrnehmungen oder Praktiken verschiedener, jeweils allein aus sich selbst (also anthropologisch) nachvollzogener Gruppen sein. Dies kann durch den gekreuzten Blick der “Anderen” auf das “Eigene” entstehen. So lässt sich zumindest ansatzweise auf die nachvollziehende Rekonstruktion der Sozialen Räume in den verschiedensten Wahrnehmungen, Deutungen, Überlagerugnen und Wiedersprüchen hoffen. Das Soziale ließe sich dann nur noch im Plural schreiben.

4. Nicht nur auf die Wiedersprüche und Abgrenzungen bei der Aktualisierung und Disktinktion verschiedener Kulturen ist Wert zu legen, sondern auch auf Formen und Folgen von Interaktion und gegenseitiger Beeinflussung. Diese müssen nicht immer “freundschaftlich” oder bewusst kooperativ erfolgen, sondern entstehen auch in der Ablehnung oder dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher sozialer, ökonomischer oder geographischer Kulturformen. Schließlich entsteht auch Distinktion in der Interaktion. Solche Ansätze verfolgt seit gut zehn Jahren die histoire croisée (Michael Werner). So können etwa in Gesellschaften Kämpfe um Denominiationen oder Begriffsbildungen für Ereignisse, Gruppen, Devianzen usw. dargestellt werden. Daraus könnte sich eine an das soziale gebundene, aus dem Sozilen entstehende und das Soziale bzw. Distinktive gleichzeitig schaffende Repräsentationengeschichte ergeben.[4]

5. Die Zugriffsebene ist in meinen Forschungen die Mikroebene. Ich untersuche Konflikte, Spannungen, Praktiken und Begriffskonstruktionen entlang von präzisen Fällen, Auseinandersetzungen und Fragen in einem klar abgesteckten geographischen Rahmen. Gerade im Reich kann “Mikroebene” freilich nicht bedeuten, nur die lokalen Bezüge zu untersuchen. Dazu sind zu schnell und zu oft zu viele Akteure unterschiedlicher herrschaftlicher, hierarchischer oder rechtlicher Ebenen involviert. Microstoria bedeutet heute die Bezogenheit auf einen Fall oder eine Auseinandersetzung. Gerade für die Lösung des hier beschriebenen Methodenstreits hat Didier Fassien den Bezug auf enjeux vorgeschlagen.[5]

Letztlich ergibt sich bei der durchaus möglichen Verbindung von Anthropologie und Sozialem Raum ein Blick auf die Kulturen des Sozialen und das Soziale der Kulturen, wie sie eben sind: vielfältig, wiedersprüchlich und veränderbar. Die Verirrtheit in Komplexität, das ständige Suchen und (vergebliche) Festhalten am Bekannten sind somit wohl eine der wenigen Konstanten der Menschheitsgeschichte.

 

[1] Historiker/innen bleiben letztlich nach dem Ende der Strukturgeschichte bei Fällen, die sie diachron und kontextuell einordnen, ohne sich wirklich von diesen Einzelfällen zu entfernen. Über das Verhältnis und die Unterschiede zwischen Geschichtswissenschaft und Anthropologie vgl. Bensa, Alban: “Anthropologie et histoire”, in: Delacroix, Christian u.a. (Hg.), Historiographies. Concepts et débats, Bd. 1 (Folio histoire inédit), Paris 2010, 42-53.

[2] Scribner, Robert: “Historical Anthropology of Early Modern Europe”, in: Ders./Hsia, Ronnie Po-Chia (Hg.), Problems in the Historical Anthropology of Early Modern Europe (Wolfenbütteler Forschungen 78), Wiesbaden 1997, 11-34, hier 31.

[3] “Donner à comprendre signifie-t-il pour autant se placer dans une position surplombant d’où le savant verrait ce que les autres ne discernent pas et révélerait ce qu’ils se dissimulent à eux-mêmes?” Fassin, Didier: “Sur le seuil de la caverne. L’anthropologie comme pratique critique”, in: Haag, Pascale/Lemieux, Cyril (hg.), Faire des sciences sociales. Bd. 1, Critiquer, Paris 2012, 263-287, hier 270.

[4] Vgl. dazu Cavaillé, Jean-Pierre: Pour un usage critique des catégories en histoire, in: Faire des sciences sociales. Bd. 1, Critiquer, hg. v. Haag, Pascale/Lemieux, Cyril, Paris 2012, 121-147.

[5] Fassin, Anthropologie, 284-285.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/465

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Religiöse Zeitlichkeiten im 16. Jahrhundert

Selten wird in der westeuropäischen Religionsgeschichte die Frage nach der Zeitlichkeit so brisant wie in der Reformationszeit. Es ist eine eschatologische, ja apokalyptische Zeit. Für die einen ist der Antichrist schon auf Erden, nämlich als römischer Papst. Für die Anderen bringen die lutherischen “Vorläufer des Antichristen” den Zorn Gottes und das Ende der Welt näher. So oder so, die Welt dreht sich schneller.


Drachen und Tiere aus der “Cloister Apokalypse” (1405-08). Metropolitan Museum of Art, New York. 

Und überhaupt: die Veränderungsfrage. Selten zuvor und danach war sie so stark zeitlich aufgeladen. Veränderungen finden in der Religion des 16. Jahrhunderts statt, das ist allen Beteiligten klar. Nur der Ort und die Bewegungen der Zeitlichkeiten sind umstritten. Die Altgläubigen sehen sich als die, die beim alten Glauben – das heißt dessen Praktiken und materiellen Artefakten – bleiben. Sie bleiben in dieser Sicht in einer linearen und weder veränder- noch entwickelbaren zeitlichen Kontinuität der Religionskultur. Die halten sie für legitimiert durch die Praktik seit “uralten” Zeiten. Dabei ist ihnen nicht klar, wie sehr sich die Sinnzuschreibungen, (nun zusätzlich z.B. Konfessionen distinguierende) Bedeutungen und sicher auch Inszenierungen der tatsächlichen Praktiken verändern und nuancieren. So wird selbst-wahrgenommene Konservierung beim Blick auf das gesamte soziale Feld ebenso zur Aktualisierung.

Und natürlich kollidiert diese Zeitkultur der Altgläubigen mit jener der evangelischen “Neuerer”. Doch die verwehren sich gegen den Vorwurf der Neuheit. Im Gegenteil, sie sehen die Papisten als die wahren Neuerer, denn die hätten die urchristliche Religion mit neuen “Aufsetzungen” und “Zusetzungen” immer mehr auf die schiefe Bahn gebracht. Die Reformatoren wollen durch Veränderung bzw. “Reform” zurück zum reinen, alten, wahren Christentum, basierend auf dem “puren, lauteren Wort Gottes”. Sie sehen in den Praktiken der Christen um 1500 keine zeitliche statische Kontinuität des wahren Christentums, sondern gehen von einer stattgefundenen, qualitativen “Verschlechterung” der Religion im Fortschreiten der Zeit aus. Das macht die zeitliche Rückkehr zur wahren, alten Religion nötig. Oder vielmehr: das Wahre, Alte soll in das Jetzt geholt werden.

Nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch in der Selbstsicht der Akteure finden im 16. Jahrhundert also “Gleichzeitigkeiten” (Achim Landwehr) bei den Zeitauffassungen statt. Altgläubige und Protestanten, ganz zu schweigen von den “radikalen” evangelischen Gruppen, leben gleichzeitig in verschiedenen, sich mitunter auch gezielt wiedersprechenden religiösen Zeiten. Und da sich Zeitlichkeiten als kulturelle Konstrukte immer dann besonders schnell wandeln, wenn sich die Kulturen, die sie hervorbringen, schnell wandeln, sind auch die Aktualisierungen der religiösen Zeitlichkeiten im 16. Jahrhundert besonders schnell – und unterschiedlich, ja gezielt antagonistisch.

Es findet eine beschleunigte Aktualisierung und Diversifizierung der Zeitkulturen statt. Diese sind dabei so plural und wiedersprüchlich wie auch der Ort von Zeit und Kultur: der Mensch.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/229

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Für längere Dauern, größere Räume und materiellen Determinismus?

Turns gibt es viele in der Geschichtswissenschaft. Ihr Rhythmus scheint sich mit der Beschleunigung der globalisierten Welt selbst zu beschleunigen. Wir erleben “Gleichzeitigkeiten” (Achim Landwehr) von Wenden bezüglich der Interessenschwerpunkte, Theorien und Methoden.

Mir scheint aber, dass diese turns mehr gemeinsam haben, als es auf den ersten Blick scheint. Nicht immer, wenn in der Historiographie eine neue Seite aufgeschlagen wird, beginnt auch immer ein neues Kapitel. An vier Punkten will ich versuchen, die Gleichartigkeiten der turns seit der kulturalistischen Wende der 1970er Jahre (in Frankreich und Italien) bzw. der 1990er Jahre (in Deutschland) zu bezeichnen. Meine Einlassungen zu diesen vier Merkmalen der aktuellen Kulturgeschichte sind freilich nur flüchtige Überlegungen – zumal auch ich eigentlich auf der kulturwissenschaftlichen Methodenseite stehe.

1. Mikrostudien. Der große räumliche Wurf wird nur mehr selten gewagt. Die Skalierung von Studien bezieht sich auf kleinteilige Räume: Städte, Landgerichte, kleine und mittlere Reichsterritorien oder Regionen, einzelne Klöster oder Zwischenräume wie Fenster, Brücken und Türen. Freilich gibt es Ausnahmen, die mir in der französischen Forschung mit ihrer alten Tradition der grands espaces noch am häufigsten scheinen. Aber auch dort herrscht der Mikrotrend. Friaul mit Käse und Würmern statt totaler Mittelmeergeographie.

2. Eher kurze Dauer.
100 Jahre sind lang, länger werden nur Minimalthemen oder (quellenmäßg) rare Phänomene behandelt. Thesen, die mehrere Jahrhunderte umfassen, werden seltener – abgesehen von den wild wuchernden Epochen-Überblicksbänden für Studienanfänger. Ein zeitlicher und auch konzeptuell fassbarer Großblick à la temps des réformes eines Pierre Chaunu würde womöglich nicht mehr ernst genommen werden.

3. Materialität und Grundbedingungen. Eigentlich erlebt Materialität gerade wieder ein Comeback, allerdings in einer kulturalisierten theoretischen Form. Es geht heute um die Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungne zu Artefakten, deren “Materialität und Präsenz” in Ding-Raum-Mensch-Geflechten. Was ich aber meine, ist eine andere Art von Materialität: natürliche, geographische, ökonomische, klimatische Bedingungen für die Lebenswelt der Menschen. Grundbedingungen im eigentlichen Sinne, die menschliches Handeln und Wahrnehmen prägen, möglich machen, formen und konditionieren. So unkonstruktivistisch wie möglich!

4. Wehe den Determinsimen…! rufen dann viele. Der Mensch sei der Ort der Geschichte und allen Handelns, Wahrnehmens, aller Bedeutung und Sinnhaftigkeit. Aber müsste die Postmoderne nicht ein wenig von diesem anthropozentrischen Geschichtsbild abrücken? Ist es nicht tatsächlich so, dass Berge mit ihren klimatisch-geographischen Bedingungen die Landwirtschaft, Ökonomie und sogar die Zahl der Menschen dort stärker beeinflussen als umgekehrt? Präzise gefragt: Konstruiert der Mensch den Berg oder nicht doch der Berg den Menschen? Ist Geschichte bis zur Moderne nicht eine der langen Zeit und starren (da, ja, determinierten) faktischen Strukturen?

So sind doch die meisten aktuellen turns keine historiographischen Wenden, die in Bedeutung und Umbruch dem Wandel von der Politik- zur Sozial- zur Kulturgeschichte gleichen würden. Seit der kulturalistischen Wende, beginnend mit den mental und linguistic turns, schwanken Interessen. Die Grundausrichtungen aber bleibt.

Kann es überhaupt etwas anderes geben als die aktuelle kulturalistisch-anthropologische Geschichtsschreibung? Vielleicht täte es gut, mal wieder einen Blick in seinen Braudel oder – für die Deutschen – ihren Wehler zu werfen. Was mir vorschwebt ist freilich keine Rückkehr zur alten Sozialgeschichte der 1950er und 60er Jahre. Aber ein verstärkter Rückgriff auf längere Dauern, größere Räume, essentiell-materielle Lebensbedingungen und Determinismen für das menschliche Leben in der Vormoderne wäre womöglich eine Perspketive. Nicht zuletzt, um mal wieder einen fundierten und fruchtbaren Theorie- und Methodenstreit in der forschenden Zunft zu provozieren. Denn der vergangene Historikertag in Mainz war doch arg harmonisch.

Fernand Braudel, der Entdecker der longue durée und des Mittelmeers.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/205

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