Unordnung und spätes Leid
Nicolas Sarkozy hätte gerne seine Vergangenheit zurück. Bekommt er aber nicht. Der französische Kassationshof hat als höchste gerichtliche Instanz entschieden, dass die Vergangenheit des ehemaligen französischen Präsidenten wenn auch kein nationaler Erinnerungsort, so doch zumindest Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen ist. Also bleibt diese Vergangenheit vorerst in der Obhut des Staates – dessen Stärke bei der Verfolgung von Straftätern Sarkozy als aktiver Politiker, vor allem agiler Innenminister immer wieder so gern betont hat. Ganz Populist, sprach er damals davon, die Jugendkriminalität aus den banlieues herauskärchern zu wollen. Nun ist ihm der Hochdruckreiniger selbst auf den Fersen.
Es gibt ja auch einiges zu tun, selbst wenn im Moment noch nicht klar ist, was strafrechtlich davon übrigbleiben wird. Den Überblick über die Affären und Untersuchungsverfahren kann man derzeit leichthin verlieren. Hier ist nicht der Ort, um das im Detail nachzuerzählen – zumal noch nicht mit letzter Sicherheit geklärt ist, was denn nun tatsächlich wann passiert ist. Auf jeden Fall geht es um Geld und Wahlkämpfe, um dubiose Freundschaften und befremdliche Kanäle für Spenden und Informationen. Der Prozess wegen illegaler Parteispenden der L’Oreal-Erbin Ingrid Bettencourt wurde aus Mangeln an Beweisen bereits eingestellt, aber da steht ja noch der Verdacht im Raum, vom lybischen Diktator Gaddafi Geld angenommen zu haben (auch keine politische „Freundschaft“, mit der man aktuell noch in Verbindung gebracht werden möchte…). Zudem kam beim Abhören des Mobiltelefons von Sarkozy der Verdacht auf, er hätte Informationen von einem Mitarbeiter des französischen Kassationshofes erhalten. Schließlich ist auch noch nicht geklärt, wie Bernard Tapie zu der erheblichen Entschädigungssumme von 403 Millionen Euro kam – wobei sich der den Sozialisten nahestehende Tapie vor und nach dieser Entscheidung auffallend oft mit dem konservativen Sarkozy traf. Delikat ist schließlich auch Sarkozys ehemaliger Berater Patrick Buisson, der hunderte von Gesprächen mit seinem Chef mitschnitt. Wie praktisch, wenn man der Polizei das Mitlauschen abnimmt, indem man sich die lebende Abhöranlage gleich ins Haus holt.
Synchronisation von Unterschiedlichem
Um Ordnung in diesen Wust zu bekommen, interessieren sich die Ermittlungsbehörden nun für die Vergangenheit Sarkozys in ihrer dokumentierten Form: für seine Terminkalender. So ein Terminkalender ist ein seltsam‘ Ding. Eine Ansammlung weitgehend leerer Blätter, nur versehen mit den wichtigsten Informationen zu den Tagen, Wochen und Monaten. Ansonsten nichts. Und dafür darf man auch noch Geld bezahlen. Gut, spätestens mit den elektronischen Kalendern hat sich das mit dem Bezahlen erledigt, aber das formale Prinzip ist sich gleich geblieben. Und elektronische Kalender, so würde ich mal vermuten, gehen in Regierungskreisen gar nicht. Da könnte man deren Inhalt an alle Geheimdienste dieser Welt gleich selbst übermitteln. Also werden die so genannten politischen „Entscheider“ dieser Welt (einer der hässlichsten Neologismen der Welt) ihre Termine schön abhörsicher auf Papier führen.
Dank Sarkozy wird der Terminkalender endlich einmal in das Rampenlicht gestellt, das ihm gebührt. Dieses ansonsten so unscheinbare und selbstverständliche Medium ist eine der interessantesten Erfindungen der europäischen Kulturgeschichte, weil es Indiz für ein ganz bestimmtes Zeitwissen ist, das sich keineswegs von selbst versteht. Zeit als verfügbare und beplanbare Ressource hat sich – nimmt man die Existenz von Terminkalendern als Indiz – nicht vor dem späten 17. Jahrhundert als Idee durchgesetzt. Damit wurde es möglich, unterschiedliche Dinge zur gleichen Zeit zu synchronisieren – zum Beispiel Treffen mit diversen Wahlkampfspendern.
Werbepause
Wir unterbrechen unsere Argumentation an dieser Stelle für einen kurzen Werbeblock: Vielleicht nicht ganz passend zur französischen Staatsaffäre, aber durchaus passend zum größeren thematischen Zusammenhang möchte ich gänzlich unbescheiden an dieser Stelle auf mein neues Buch aufmerksam machen: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert. Zugegeben, es handelt nicht von Sarkozy oder sonstigen mehr oder minder tagesaktuellen Angelegenheiten. Tatsächlich konzentriert es sich mit dem 17. Jahrhundert sogar auf einen Zeitraum, der nun tatsächlich verhältnismäßig weit weg von unserer eigenen Gegenwart zu sein scheint. Aber Aktualität bemisst sich ja nicht nur nach diachroner Nähe oder Ferne, sondern nach Relevanz für unser Hier und Heute! Und da denke ich, dass uns das 17. Jahrhundert einiges zu bieten hat. Zum Beispiel den Terminkalender! Und die Gegenwart! Beides wurde nämlich, so versuche ich in diesem Buch zu zeigen, im Verlauf des 17. Jahrhunderts „erfunden“, mit Folgen, die Sarkozy gerade zu spüren bekommt. Wie man im 17. Jahrhundert mit Zeit umgegangen ist, was das mit uns heute zu tun hat und was (Termin-)Kalender uns darüber verraten können – das und einiges mehr wird in diesem Buch verhandelt. Ende der Werbepause.
Illusion des Kalenders
Wenn nun die französische Polizei die Terminkalender von Sarkozy beschlagnahmt hat, dann könnte es allerdings sein, dass die Hoffnungen auf ein eindeutiges Ermittlungsergebnis enttäuscht werden. Denn Terminkalender teilen die Schwierigkeiten aller Medien, die uns aus einer Vergangenheit überliefert sind. Sie stellen zwar bestimmte Verbindungen zwischen gegenwärtigen und vergangenen Wirklichkeiten her, diese müssen aber keineswegs eindeutig sein. Wenn in den Terminkalendern von Sarkozy ein Treffen mit Bettencourt, Tapie oder Gaddafi eingetragen ist, muss es dann zwangsläufig um Parteispenden gegangen sein? Vielleicht wurden mit guten Freunden auch nur ein paar Beziehungsprobleme diskutiert? Vielleicht hat das Treffen auch gar nicht stattgefunden, denn nur weil ein terminkalendarischer Eintrag vorhanden ist, muss dem nicht zwangsläufig ein Ereignis in der außerkalendarischen Welt entsprechen. Wir haben es also mit bestimmten Übertragungsleistungen zu tun, die das historische Material erbringt, bei denen das Ausgangsmaterial aber auch jedes Mal verändert wird, ohne dass sich die Transformationen bis ins Letzte ausleuchten lassen. Erst unser Zeit- und Geschichtsverständnis bastelt aus Gründen der Nachvollziehbarkeit daraus im Nachhinein eine eindeutige Erzählung.
Und auch hierbei spielt der Kalender wieder eine wesentliche Rolle. Denn er gibt mit seinem strengen zeitlichen Nacheinander der Illusion weitere Nahrung, wir hätten es bei unserem eigenen Leben mit einem stringenten „Lebenslauf“ zu tun. Wenn man nur Tag für Tag etwas hineinschreibt, ergibt sich quasi von selbst eine Geschichte. [1] Aber nicht weil diese Geschichte tatsächlich so passiert ist, sondern weil wir diese Geschichte so erzählen. Helmut Kohl hat mit seinen Erinnerungen unter anderem vorgemacht, wie das geht. Nicht zuletzt deswegen sind die Terminkalender für Sarkozy so wichtig. Sicherlich geht es um Dokumente, die im Moment aus juristischen Gründen für ihn problematisch werden könnten. Darüber hinaus geht es aber auch um die Deutungsmacht über seine Biographie und seine Präsidentschaft. Jetzt könnte es nämlich sein, dass diese nicht mehr bei ihm selbst liegt, sondern von anderen übernommen wird. Wenn Sarkozy also irgendwann die Terminkalender wieder ausgehändigt bekommt, wird er dadurch wohlmöglich nicht mehr seine Vergangenheit zurückbekommen. Er könnte stattdessen eine bereits fertig geschriebene, aber nicht seinen Interessen entsprechende Geschichte vorgesetzt bekommen.
[1] Michael Rutschky: Das Merkbuch. Eine Vatergeschichte, Berlin 2012.
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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2014/03/17/21-sarkozy-und-die-terminkalender/