Vom Münchner Petersturm in die Vorstädte: München im 19. Jahrhundert

Cover von: Elisabeth Angermair, München im 19. Jahrhundert. Frühe Photographien 1850-1914, Hg. vom Stadtarchiv München. Mit einer Einleitung von Michael Stephan, Schirmer/Mosel, München 2013.
Cover von: Elisabeth Angermair, München im 19. Jahrhundert. Frühe Photographien 1850-1914, Hg. vom Stadtarchiv München. Mit einer Einleitung von Michael Stephan, Schirmer/Mosel, München 2013.

Cover von: Elisabeth Angermair, München im 19. Jahrhundert. Frühe Photographien 1850-1914, Hg. vom Stadtarchiv München. Mit einer Einleitung von Michael Stephan, Schirmer/Mosel, München 2013.

Ein Zug von Elefanten mit orientalisch bekleideten Reitern und Treibern bewegt sich durch eine – wie die Bildunterschrift verrät – Münchner Straße. Diese Momentaufnahme aus dem Großstadtleben des späten 19. Jahrhunderts verwundert auf den ersten Blick und gehört mit Sicherheit zu einer der ungewöhnlicheren Szenen, die der 2013 erschienene Bildband „München im 19. Jahrhundert. Frühe Photographien 1850-1914“ enthält. Die Fotografie zeigt Elefanten einer Kaufmannsgruppe im Festzug zur Centenarfeier für König Ludwig I. im Jahr 1888, die entlang zahlreicher Schaulustiger durch die Neuhauser Straße in der Münchner Innenstadt zieht.

Die Elefanten der Kaufmannsgruppe im Festzug zur Centenarfeier, 1888.

Die Elefanten der Kaufmannsgruppe im Festzug zur Centenarfeier, 1888.

Doch auch die rund 270 übrigen Fotografien des Bildbands bieten spannende und facettenreiche Einblicke in das Alltagsleben der Münchner, die Stadtentwicklung der bayerischen Hauptstadt und historische (Stadt-)Ereignisse von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg.

Historischer wie auch konzeptueller Ausgangspunkt für den im Schirmer/Mosel Verlag veröffentlichten Band bildet das von Georg Böttger 1858 zusammengestellte Fotopanorama. Dabei handelt es sich um eine 360-Grad-Aufnahme, die Böttger vom Turm der Peterskirche – zwischen Viktualienmarkt und Marienplatz gelegen – aufgenommen hat. Sie besteht aus elf Einzelaufnahmen und bietet aus der erhöhten Position einen Aus- und Überblick über das damalige Münchner Stadtbild. Diese erste fotografische Gesamtaufnahme Münchens zeigt deutlich die Ränder der damals noch überschaubaren Residenzstadt. Die langsam in die Stadt hineinwachsenden Dörfer erscheinen am Horizont, und einige der bis heute das Stadtbild prägenden Gebäude ragen aus dem Dächermeer der Innenstadt als Orientierungspunkte heraus.

Das Panorama entstand zu einer Zeit des strukturellen Umbruchs, wie Michael Stephan in seiner Einleitung deutlich macht. Sein Text liefert den (stadt-)historischen Kontext der Aufnahmen, indem er die unter den Königen Max I. Joseph (1806-1825), Ludwig I. (1825-1848) und Maximilian II (1848-1864) vollzogenen Veränderungen von einer „beschaulichen Residenzstadt“ zur „ansehnliche(n) Hauptstadt des Königreichs Bayern“ mit seinen Prachtstraßen und Monumentalbauten schildert. Stephan beschreibt die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam wachsende Einflussmacht der Bürger, die mit einer schwindenden Selbstverwirklichung der Regenten einherging. Ab 1880 bis in die 1910er-Jahre entwickelte sich München schließlich zu einer modernen Großstadt mit einer „vorausschauenden und innovativen Stadtentwicklungspolitik“ , die großteils von den Bürgern angestoßen wurde. Durch die Einleitung wird deutlich, dass die im Band versammelten Aufnahmen in einer Zeit entstanden, die von immensen städtebaulichen Veränderungen und sozialen, politischen sowie gesellschaftlichen Umstrukturierungen geprägt war. Die Stadt wuchs sowohl in der Fläche als auch hinsichtlich ihrer Bewohner und bekam in nur wenigen Jahrzehnten die sie heute prägende Struktur. Welche Bauvorhaben und Modernisierungen innerhalb der Periode realisiert wurden, fasst Stephan in einer Liste anschaulich zusammen.

Bis auf das Böttger-Panorama als Ausgangspunkt seiner Ausführungen finden Fotografien in Stephans Einleitung keine Erwähnung. Dies wird in der zweiten Einführung von Elisabeth Angermair nachgeholt. Ausgehend von Böttger und seiner Tätigkeit als Fotograf führt Angermair in ihrem Text mit dem Titel „ »alltäglich Kleinigkeiten, die (…) für die Kulturgeschichte von Wert sein können und werden«. Photographien von und für München“ in den Wirtschaftszweig der Fotografie und in die Münchner Fotografenkreise ein. Neben Böttger werden weitere Fotografen, deren Aufnahmen in den Band aufgenommen wurden, vorgestellt: Alois Löcherer, Franz Hanfstaengl, Joseph Albert, Johann Baptist Obernetter, Friedrich Sauer. Anhand deren Tätigkeit wird der ursprüngliche Entstehungskontext der Aufnahmen rekonstruiert. So entstanden sie zum Teil für die Münchner Stadtchronik, als Auftragsarbeiten oder für Verkaufszwecke. Deutlich wird auch, dass sich in der aufstrebenden Stadt eine lebendige Fotografieszene etablierte. Schließlich geht Angermair noch auf die Fotosammlung des Münchner Stadtarchivs ein und legt dar, aus welchen Beständen sich die historisch gewachsene Sammlung zusammensetzt, aus der die Aufnahmen dieses Bandes ausgewählt wurden.

Wie bereits in den beiden einführenden Texten bildet das Böttger-Panorama auch für den nachfolgenden Bildteil den Ausgangspunkt. Für die Publikation wurde es in seine elf Einzelaufnahmen zerlegt, die jeweils als Ausgangspunkt der den Band gliedernden Kapitel fungieren. So nimmt jedes Kapitel seinen Anfang bei Böttgers Standort auf dem Petersturm und erstreckt sich entlang seines Blicks in die jeweilige Richtung aus dem Zentrum hinaus. Anhand der folgenden Tafeln dringen die LeserInnen und BetrachterInnen beim Blättern in die einzelnen Stadtteile vor und werden auf eine Reise entlang der Blickrichtung Böttgers von St. Peter über die inneren Bezirke bis an die Stadtgrenze mitgenommen: der Neuhauser Straße folgend nach Westen; über das Kreuzviertel auf das spätere Westschwabing; durch das Tal und nach Neuhausen; vom Viktualienmarkt in die Au und nach Giesing.

 

Josef Zechbauer, Kinder vor einem Vorstadthaus an der heutigen Reitmorstraße, 1895.

Josef Zechbauer, Kinder vor einem Vorstadthaus an der heutigen Reitmorstraße, 1895.

Dabei wechseln sich Aufnahmen von Alltagsszenen, wie Kinder vor einem Vorstadthaus an der heutigen Reitmorstraße im Lehel oder Kunden auf dem Töpfermarkt der Auer Dult, mit Architekturaufnahmen vom Sendlinger Tor, dem erleuchteten Neuen Rathaus oder dem Maximilianeum ab. Einige Fotografien dokumentieren die städtebaulichen Veränderungen wie den Bau der Corneliusbrücke oder den Kopf der Bronzestatue Bavaria auf ihrem Transport zum heutigen Standort am Rand der Theresienwiese. Die Fotografien zeigen die mitunter großen sozialen Unterschiede zwischen der Bevölkerung in den Arbeitervierteln Haidhausen oder Westend und dem Bürgertum in Bogenhausen oder Nymphenburg. Zahlreiche Fotografien dokumentieren religiöse Feste, Faschingsumzüge und militärische Paraden sowie die Freizeitvergnügen im winterlichen Englischen Garten und ein sommerliches Bad in einem der vielen Stadtbäche.

Alois Löcherer, Der Kopf der Bavaria, vorbereitet für den Transport zur Theresienwiese, 7. August 1850.

Alois Löcherer, Der Kopf der Bavaria, vorbereitet für den Transport zur Theresienwiese, 7. August 1850.

Die Aufnahmen wurden großformatig auf den Seiten reproduziert und mit einer erläuternden Bildunterschrift wie auch dem Namen des Fotografen versehen. Die Einzelaufnahmen des Panoramas erstrecken sich am Anfang jedes Kapitels über den Falz auf zwei Seiten, sodass ein besserer Einblick in die vielen Details möglich ist. Gerade in Hinblick auf Angermairs Einleitung, die auch auf die unterschiedlichen fotografischen Verfahren und den Wandel der Fototechnik innerhalb des Zeitraums eingeht, verwundert es, dass jegliche Angaben über das Herstellungsverfahren, die Bildmaße und die Materialität der diesbezüglich mit Sicherheit recht unterschiedlichen Aufnahmen fehlen. Bei genauerer Bildbetrachtung fallen dennoch Details auf, die frühen Fotografien aus technischen wie auch ästhetischen Gründen zu eigen sind: Schatten, die auf sich zu schnell bewegende Personen schließen lassen, Unschärfen an den Bildrändern oder Stempel der einzelnen Fotografen.

Die auf dem hinteren Buchdeckel und der letzten Seite gegenübergestellten Stadtpläne von 1858 und 1908 visualisieren nochmals das von Stephan beschriebene rasante Wachstum der Stadt. Für diejenigen LeserInnen, die München nicht kennen, wäre es jedoch wünschenswert gewesen, einen größeren Stadtplan zu integrieren.

Davon abgesehen, bietet der Bildband sowohl Münchner StadtbewohnerInnen als auch Freunden der Stadt eine vielseitige und spannende Entdeckungsreise in das Stadtbild und -geschehen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Bekannte Orte können entdeckt werden, deren Aussehen sich entweder kaum oder aber grundlegend geändert hat. Im Vergleich zwischen dem heutigen Aussehen und den Fotografien wird spürbar, wie sich eine Stadt – bedingt durch historische Ereignisse, Strukturveränderungen und Modernisierungen – aus sich selbst heraus verwandelt: Altes wird mit Neuem kombiniert, und verschiedene Zeitschichten lagern sich in einem gewachsenen Stadtbild übereinander.
Ermöglicht wird dieser lebendige Einblick durch die frühen Fotografien, von denen der Bildband lebt. Auf diese Weise stärkt die Publikation nicht zuletzt die Bedeutung historischer Aufnahmen als wichtige Quelle für Historiker, Architekten, Städteplaner, Soziologen und Kulturwissenschaftler.

 

Elisabeth Angermair
München im 19. Jahrhundert.
Frühe Photographien 1850-1914
Hg. vom Stadtarchiv München.
Mit einer Einleitung von Michael Stephan
320 Seiten, 278 Abbildungen in Duotone
ISBN 978-3-8296-0654-7
49,80 Euro, (A) 51,20 Euro, 66,90 CHF

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/07/21/vom-muenchner-petersturm-in-die-vorstaedte-muenchen-im-19-jahrhundert/

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