Gerade im Mittelalter gab es eine große Vielfalt. Die höfische Gesellschaft, also die Oberschicht, war überhaupt nicht familiär organisiert. Anstelle der Kernfamilie gab es viele Erwachsene, Kinderstuben, in denen Kinder ganz unterschiedlicher Abstammung zusammen aufwuchsen, viele Kindermädchen, viele Liebespaare kreuz und quer. [...]
Wenn ein Bauer im Mittelalter sagt: „Ich liebe die Frau mit den dreißig Kühen“, dann sollten wir nicht so sicher sein, dass da kein Gefühl dabei ist. Es geht da auch um Codes. Der Bauer drückt sich einfach anders aus als jemand aus dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Der würde vielleicht eher sagen: „Ich liebe die Frau, mit der ich eine tiefe Übereinstimmung spüre, weil wir beide Goethe lesen und Schubert hören.“ Implizit stehen Goethe und Schubert aber auch für die Zugehörigkeit zur gleichen Klasse und einen vergleichbaren Kontostand. Im Mittelalter kamen Ehen zwischen sozial Ungleichen – etwa einem reichen Mann und einer ärmeren Frau – relativ oft vor. Am Ende des 18. Jahrhunderts breitete sich die Heirat zwischen sozial Gleichgestellten aus. [...]
Wenn wir den Hofklatsch des 18. Jahrhunderts anschauen, dann sehen wir zahlreiche Geliebten-Arrangements. Es ist damals selbstverständlich, dass der Zeugungspartner nicht der Liebespartner ist und dass beide wiederum wenig mit den Partnern in der Kindererziehung zu tun haben. Die drei Elemente zu koppeln, ist eine Setzung unserer Zeit – und somit auch eine Restriktion, die wir uns selbst auferlegt haben. Unsere Möglichkeitsspielräume sind heute gar nicht so grenzenlos, wie wir meinen.
Haben Sie ein Beispiel?
Die Toleranz gegenüber einem Familienvater, der nebenher eine schwule Beziehung unterhält, ist heute enorm klein – sowohl unter Schwulen als auch bei anderen Eltern und in der Spielgruppe. Im vormodernen Adel war das alles aber unter Umständen kein Problem. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich wünsche mir die heimlichen Geliebten, die versteckten Schwulen und die betrogenen Ehefrauen nicht zurück. Aber diese Geschichten zeigen, dass wir uns in den letzten Jahrzehnten nicht nur immer mehr Freiheiten erlaubt, sondern auch neue Normen und Grenzen auferlegt haben.
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