Wozu eine wissenschaftliche Fragestellung?

Fragestellung, Forschungsstand und historische Argumentation – oder: warum tun sich viele Geschichtsstudentinnen und -studenten so schwer damit, „richtig“ Geschichtswissenschaft zu betreiben?

Von Christine Roll

Als ich im Februar die Themen für die Examensklausuren formulierte, stieg wieder die Unsicherheit in mir auf, ob wir unsere Studentinnen und Studenten eigentlich gut ausgebildet haben. Werden sie mit der Aufgabenstellung etwas anfangen können? Werden sie in der Lage sein, ihr Wissen als Argument einzusetzen? Oder werden auch dieses Mal wieder viele der Examenskandidatinnen und -kandidaten den gelernten Stoff einfach chronologisch heruntererzählen, ohne die strukturierenden Gesichtspunkte und analytischen Kategorien zu berücksichtigen, die ihnen die Themenstellung anbietet? Und werden sie ihre Klausuren mit einleitenden und abschließenden Reflexionen über das Thema in den Rang einer geschichtswissenschaftlichen Darstellung heben oder werden sie auf dem Niveau eines Schulaufsatzes bleiben?

Ähnliche Überlegungen gehen mir auch dann durch den Kopf, wenn ich die Seminararbeiten eines vergangenen Semesters korrigiere. Natürlich habe ich viel Freude an den gelungenen und klugen studentischen Arbeiten; aber in etwa der Hälfte der Gutachten, die ich zu jeder Hausarbeit formuliere, steht im Grunde dasselbe: „Gute Kenntnisse im Detail, auch recht gute Ideen, aber es fehlt ein Forschungsbericht; folglich fehlt auch die Herleitung der Fragestellung aus der Forschungssituation. Zudem wird die Fragestellung nicht konsequent durchgehalten“. Eine so begutachtete Arbeit kann dann nicht besser als mit „3“ bewertet werden, meistens steht leider sogar eine schlechtere Note darunter.

Solche Ergebnisse sind für die Studierenden wie für mich gleichermaßen unbefriedigend. Auch Kolleginnen und Kollegen klagen über diese Schwächen bei ihren Studentinnen und Studenten. Diese wiederum scheinen oftmals gar nicht zu verstehen, „was sie da falsch gemacht“ und warum sie keine bessere Note bekommen haben. Angesichts dessen erscheint es mir lohnend, grundsätzlich darüber nachzudenken, warum sich Studierende so schwer damit tun, ihre Ausführungen an einer leitenden Fragestellung zu orientieren, einen Forschungsbericht zum Thema ihrer Arbeit zu verfassen, einen Zusammenhang zwischen dem Forschungsstand und der eigenen Fragestellung herzustellen und eine schlüssige geschichtswissenschaftliche Argumentation aufzubauen. Zudem handelt es sich keineswegs um eine neue Beobachtung: Ich kann mich gut an entsprechende Klagen meines Konstanzer Doktorvaters aus den 1980er und 1990er Jahren erinnern. Immerhin dürften die Fähigkeiten der Studierenden seither nur graduell schlechter geworden sein; hier muss also nicht der Untergang des Abendlandes herbei geredet werden. Aber nach wie vor gibt es zu viele lausige Historiker/innen und Geschichtslehrer/innen, ein Ende des Teufelskreises ist also nicht zu erkennen. Woher rühren also diese Schwierigkeiten mit der Geschichte als Wissenschaft? Vier Thesen stelle ich zur Diskussion.

1. Untaugliche akademische Lehrer, studentische Lebenshektik und pädagogikfeindliche Studienordnungen – die Missstände des Studienalltags

Wir wissen es alle: Bis heute gibt es in Deutschland Historische Institute, an denen Studierende ihr Geschichtsexamen ablegen können, ohne je mit dem Anspruch auf Fragestellung und Forschungskontext konfrontiert worden zu sein; leider ist ja sogar in Publikationen von Professorinnen und Professoren haltloser Enzyklopädismus anzutreffen; von solchen Kolleginnen und Kollegen kann folglich „richtige“ Geschichtswissenschaft nicht gelernt werden.

Zugleich unterliegen die Studierenden einer neuartigen Lebenshektik: Gesellschaftlicher Jugendwahn, die Ökonomisierung der Universitäten zu einem geradezu akademischen Kapitalismus1 und die neuen Studiengänge suggerieren den jungen Leuten, „fertig werden“ mit dem Studium sei wichtiger als gut ausgebildet zu sein. Und die Lehramtsstudiengänge mit Modulprüfungen auch im Staatsexamen (wie sie in NRW zwar bald auslaufen, aber noch üblich sind) senden ganz falsche Signale: Sie fordern die Studierenden auf, möglichst bald Teilprüfungen abzulegen – und eben auch Examensklausuren zu schreiben –, und zwar schon bevor sämtliche Seminare absolviert, bevor also auch die entsprechenden Hausarbeiten geschrieben sind! Die Verfasser/innen der Prüfungsordnung haben offenbar gemeint, dass die Studierenden lediglich etwas über die Frühe Neuzeit lernen, wenn sie eine Hausarbeit über Luther schreiben; dabei lernen sie doch ebenfalls, wie man Hausarbeiten schreibt, wie man historisch argumentiert! Wenn sie die anderen Examensteile bereits abgeschlossen haben, können sie diese Fertigkeit aber gar nicht mehr anwenden – weshalb sie ggf. sogar wieder verloren geht! Und die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge zwingen die Studierenden, ihre Seminararbeiten drei Wochen nach Semesterende abzugeben. Wir Lehrende wiederum können die Arbeiten nur noch benoten, wir dürfen aber nicht, jedenfalls nicht offiziell, Korrekturen einfordern, Korrekturen, mit denen die Studierenden zeigen könnten, das sie aus ihren Fehlern gelernt haben. Wie soll sich unter diesen Bedingungen das gerade für das Argumentieren so wichtige implizite Wissen in den studentischen Köpfen anreichern?

2. Wikipedisierung der Geschichtswissenschaft? Die Ordnungen des Wissens und die Unordnung im Internet

Was macht das Internet, was macht Wikipedia mit unserem Fach? Ich werde nicht müde zu betonen: Wikipedia wird immer besser! Wikipedia bietet schnell – zumeist – verlässliche Informationen, auf die auch ich gar nicht mehr verzichten könnte. Wikipedia entwickelt auch Gesichtspunkte – und immer bessere Gesichtspunkte –, nach denen der Stoff geordnet wird, aber, Johan Schloeman hat unlängst darauf hingewiesen: Die Gliederung von Online-Ressourcen greift in die Ordnung des Wissens ein.2 Ob wir uns dessen immer bewusst sind? Denn Google-Funde sind nicht schon Geschichtswissenschaft! Denn es geht um Kategorien und um Problemorientierung statt um Vollständigkeit und um die Reflexion des Erkenntnisfortschritts – für den Einzelnen und für die Wissenschaft! Hier bleibt online noch viel zu tun.

3. „Bin ich denn Teil der Forschung?“ Ein Problem des studentischen Selbstverständnisses

Warum fühlen sich Studierende aber so selten als Teil eines Forschungsdiskurses? Oft fällt mir in der Sprechstunde eine übertriebene Ehrfurcht vor der Forschungsliteratur auf: „Ich bin doch nur ein kleines studentisches Licht! Ich kann doch dazu keine Position beziehen…“. Doch, gerade Du! Auch „du als Studi“ gewinnst in der Auseinandersetzung mit Texten, also mit Forschungsliteratur und Quellen, neue Einsichten. Du gewinnst diese Erkenntnisse zunächst nur für Dich, denn Du als Individuum betreibst Geschichtswissenschaft, interessierst Dich, willst etwas wissen, etwas zeigen und reflektierst kritisch andere Forschungspositionen – genau dadurch wirst Du Teil des Forschungsdiskurses!“
Nach meiner Einschätzung müsste sich diese Scheu der Studierenden durch die Mitarbeit an Wissenschaftsblogs reduzieren lassen, das käme den Studierenden zugute und täte auch den Blogs gut, denn in Blogs zählt, wie in der „richtigen“ Wissenschaft, die eigene, gut begründete Stellungnahme, die eigene, mutig vorgetragene These. Gute Geschichtswissenschaft kann man nämlich nur betreiben, wenn man sich selbst und seine eigenen Fragen an die Vergangenheit ernst nimmt und für wichtig hält.

4. Schließlich: die erkenntnistheoretische Herausforderung einer eigenen Fragestellung

Das vermutlich am tiefsten sitzende Problem vieler Studierender – und zugleich das ihnen am wenigsten bewusste – ist die Ahnung, ja: die Befürchtung, dass sich durch eine eigene Fragestellung das eigene Geschichtsbild ändern wird. Mit der eigenen Fragestellung nimmt man eine eigene Perspektive auf das Geschehen ein – mit der „Gefahr“ des Aufbrechens des eigenen Vorverständnisses! Aber nur, wenn man dieses Risiko auf sich nimmt, kommt man weiter. Denn dieses Risiko verweist auf die erkenntnistheoretische Grundlage unseres Fachs, auf den Konstruktionscharakter von Geschichte: „Geschichte ist stets das, was ein geschichtskonstruktivistisches Subjekt zu ihr macht“.3 Darin besteht der einzigartige Reiz der Geschichtswissenschaft.
Die beste Versicherung gegen zu viel Risiko ist übrigens wiederum die eigene Fragestellung! Der Historiker/die Historikerin erlangt Sicherheit im Umgang mit der Fülle an Empirie allein durch die Methode, durch das historische Handwerk: Fragestellung, Forschungsstand, These, Argumente und Begründungen, Ergebnisse, deren Einordnung in die Forschung – diese Arbeitsschritte sind Voraussetzung dafür, dass aus ungeordneten Mengen von Informationen „richtige Geschichtswissenschaft“ werden kann. Haben Sie also Mut, sich zu Wundern! Erstaunen – sei es über die Formulierung in einer Quelle, sei es über die Äußerung eines Historikers – ist eine wichtige Voraussetzung für Geschichtswissenschaft! Es kommt auf Sie an! „Der Kern wissenschaftlichen Arbeitens sind nicht Gänsefüßchen; es geht darum, ob das eigene Denken Hand, Fuß und Substanz hat“.4

Übrigens: unter den sieben Staatsexamensklausuren, für die ich im Februar die Themen formuliert habe, waren zwei richtig gut. Nur zwei. Die anderen haben die Fragestellung ignoriert, nicht argumentiert und folglich keine eigenen Ergebnisse gewonnen. Geschichtswissenschaft aber ist Argument – oder sie ist nicht.

  1. Vgl. etwa Richard Münch: Akademischer Kapitalismus. Über die politische Ökonomie der Hochschulreform, Berlin 2011.
  2. Johan Schloemann, „Server oder Sammelband“, Süddeutsche Zeitung, 4. Februar 2013, Feuilleton.
  3. Das beste Buch über die Geschichte der Historiographie, das mir seit langem untergekommen ist: Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860, Berlin etc. 1996, das Zitat auf S. 274.
  4. Heribert Prantl, „Belehrte Unwissenheit“, Der Fall Schavan, Kommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 7.2.2013.

Quelle: http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1408

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