Vor kurzem begonnen, hier nun weitergeführt: das Lexikon historischer Floskeln und Allgemeinplätze.
Das wird Geschichte machen!
Nein, wird es nicht! Es wird auch nicht Geschichte schreiben oder wie sonstige alternative Formulierungen dafür auch immer lauten mögen. Wer oder was die Geschichte „macht“, würde sicherlich einer etwas ausführlicheren Erörterung bedürfen. Man kann aber mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass Geschichtemachen nicht wie Kuchenbacken funktioniert. Jetzt wird Kuchen gebacken! – eine solche Aussage darf man, in Abhängigkeit von der Seriosität der Sprechenden, als durchaus ernsthafte Ankündigung verstehen, deren Erfüllung in der Zukunft (falls überhaupt) üblicherweise nur Unwesentliches im Weg steht. Bei der Aussage, etwas werde Geschichte machen, ist die temporale Relationierung etwas komplizierter. Immerhin versucht man damit, in der Gegenwart eine zukünftige Vergangenheit zu bestimmen. Man möchte also den Nachfahren vorsichtshalber schon einmal vorschreiben, welche Geschichte sie zu erzählen haben werden. Das wird nur in Ausnahmefällen funktionieren. Denn entweder erweist sich vermeintlich Epochemachendes für die Nachgeborenen als irrelevant – oder sie machen es tatsächlich zu einem Teil ihrer Geschichte, dann aber, weil sie sich dazu entschieden haben, und nicht weil es von welchen Vorfahren auch immer dekretiert wurde.
Zugegeben, die Chance aktuelle Ereignisse als „historisch“ einstufen zu können, wächst mit der diskursiven Macht der Sprecher/innen. Bestimmte Aussagen sind schwerer zu überhören als andere. Aber auch mit einer hinreichenden Menge an Machtfülle gibt es keine Erfüllungsgarantie.
Steht nur noch die Frage im Raum, wann diese Unsitte, ja eigentlich arrogante Attitüde ihren Anfang genommen hat, in der Gegenwart bereits die Geschichte von morgen festlegen zu wollen. Eine mögliche Antwort betrifft einen üblichen Verdächtigen: Als Goethe am 20. September 1792 bei der Kanonade von Valmy zugegen war, bei der die französische Revolutionsarmee sich gegen Preußen durchsetzen konnte, soll er bekanntlich gesagt haben, dass von diesem Ereignis eine neue Epoche der Weltgeschichte ausgehen werde und die Anwesenden später einmal sagen könnten, sie seien dabei gewesen. So behauptete er zumindest später. Denn dass er sein „Das wird Geschichte machen!“ bei dieser Gelegenheit gesagt haben soll, dokumentierte er selbst erst Jahrzehnte später, als er um 1820 seine „Kampagne in Frankreich“ schrieb. Die Moral von der Geschicht‘? Was morgen gestern sein wird, wissen wir heut‘ noch nicht.
In die Geschichte eingehen
Hängt ganz eng mit dem Geschichtemachen und Geschichteschreiben zusammen, ist aber aufgrund der zumeist passivischen Verwendung – etwas wird in die Geschichte eingehen – anders gelagert. Spricht man davon, dass etwas Geschichte machen werde, präsentiert sich diese „Geschichte“ als ein weißes, noch zu beschreibendes Blatt Papier, für das aber die Arbeitsnotizen bereits hier und heute gesammelt werden. Wenn jemand oder etwas jedoch in die Geschichte eingehen soll, dann scheint es sich bei dieser „Geschichte“ eher um einen exklusiven Klub zu handeln, zu dem nun wahrlich nicht jeder und alles Zutritt hat. Die Einlassbedingungen sind streng, aber hat man es erst einmal am Türsteher vorbei geschafft, darf man sich der Unsterblichkeit erfreuen – zumindest im angenommenen Gedächtnis der Nachgeborenen. Eine Unsterblichkeit allerdings mit häufig begrenztem Haltbarkeitsdatum. Man wird aus diesem Klub üblicherweise nicht mit großem Tamtam rausgeschmissen, man kann seine Mitgliedschaft aber durch ein leise dahindämmerndes Vergessen verlieren. Das wäre dann der Moment, in dem die nächste Floskel zum Einsatz kommen kann: „Das ist Geschichte!“
Die „Geschichte“, in die etwas eingehen soll, gemahnt an einen Aufbewahrungsort toter Wirklichkeiten, an eine Lagerhalle vergangenen Geschehens, in der man verstauen kann, was man aktuell nicht mehr benötigt, das sich aber aus Gründen der Bildung, Selbstvergewisserung und Identitätsbildung vielleicht noch einmal verwenden lässt. Eine solche Geschichte ist tote Geschichte. Sie entspricht der Art und Weise, wie nicht wenige Museumsbesucher mit diesen Containern des Gestern umgehen: Eine gewisse Bildungsbeflissenheit oder der schiere Zwang (Stichwort: Schulausflug) nötigen einen dazu, entsprechende Einrichtungen zu besuchen – aber mit dem eigenen Leben hat das wenig bis gar nichts zu tun. Wenn in einer Kultur die dominierende Auffassung von Geschichte darauf hinausläuft, dass es sich nur um das tote Gestern anstatt um die recht lebendige Anordnung unterschiedlicher Zeiten im Hier und Heute handelt, dann dürfte diese Kultur ein Problem haben.
Das ist der Lauf der Geschichte
Einspruch! Ist er nicht! Man kann im mehr oder minder akademischen Gerede und Geschreibe über das Historische so oft und so viel gegen die Zielgerichtetheit des historischen Prozesses (auch noch im Singular!) anschreiben wie man möchte, die Teleologie scheint einfach nicht auszurotten zu sein. Wohlgemerkt, damit sollen bei weitem nicht nur diejenigen angesprochen sein, die unbeleckt von tiefergehenden geschichtstheoretischen Weihen davon ausgehen, es gebe einen Sinn und ein Ziel der Geschichte, sondern vor allem diejenigen, die es eigentlich besser wissen sollten, aber von solchen Floskeln weiterhin fröhlich Gebrauch machen.
Hatten wir schon „die Geschichte“ als unbeschriebenes Blatt Papier und als exklusiven Klub, dann erweist sich „der Lauf der Geschichte“ als eine Fortbewegung auf Eisenbahnschienen. Es gibt gewisse historische Gesetzmäßigkeiten, so lässt sich dieser Ausspruch verstehen, die ein Ausscheren nach rechts oder links nicht vorsehen. Der historische Weg zum Zielbahnhof wird auf diese Weise zum Schicksal erhoben, denn ist der Fahrschein erst einmal gelöst, kann man nicht mal eben die Fahrtrichtung ändern. Ungewiss ist dann höchstens noch – ganz wie bei der Deutschen Bahn – wann der Zug tatsächlich einläuft.
Solche Formulierungen mögen durchaus nachvollziehbar, weil unmittelbar einsichtig sein, sie lassen im Zusammenhang einer Untersuchung historischer Floskeln aber vor allem Rückschlüsse auf das dahinter liegende Zeitmodell zu. Und wie schon im ersten Teil des Histofloxikons festgestellt, wird vielfach immer noch von temporalen Vorstellungen ausgegangen, die dem Zeitstrahl entsprechen. Durchaus naheliegend, auf diesem Strahl einen Lauf der Geschichte zu vermuten oder dort Schienen zu verlegen und irgendwo ein – wenn auch unvorstellbar weit entferntes – Ziel anzunehmen. Selbst wenn dieses Ziel nicht mehr heilsgeschichtlich verbürgt ist, so gibt es doch ausreichend säkularisierte Alternativen, welche die Funktion des einstigen christlichen Paradieses übernommen haben (Kommunismus, Weltfrieden, Wohlstand für alle).
Wenn man nun die ketzerische Frage stellte, was mit einer Welt denn weiter geschehen solle, in der tatsächlich der utopische Zustand erreicht wäre, dass alle in Sicherheit und Zufriedenheit leben würden, so könnte das zu (mindestens) zwei Reaktionen führen: entweder läge der Vorwurf des blanken Zynismus nahe oder man sollte beginnen, ganz grundsätzlich das eigene/vorherrschende Zeitmodell zu überdenken.
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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2014/03/01/20-histofloxikon-zweite-lieferung/