Sprachlos im Geschichtsunterricht?

 

„Das Beherrschen der deutschen Sprache ist der Königsweg zur Bildung.“ Schlagzeilen wie diese begleiten die Diskussion der hoffnungsvoll stimmenden aktuellen PISA-Ergebnisse. Durchgängige Sprachförderung und sprachsensibler Fachunterricht scheinen demnach Schlüssel zum Bildungserfolg. Ungeklärt ist jedoch das Verhältnis von Fachlernen und Sprachlernen. Welches Potential birgt eine Wende von der Sprache der Geschichte zum Sprachhandeln der Schülerinnen und Schüler?

 

Von Alltagssprache und Schulsprache

Ein Feuilletonist feierte kürzlich die Schulkomödie „Fack ju Göhte“ als „hundertprozentige Injektion […] deutscher Wirklichkeit“, weil sie durch eine „absolute Zeitgemäßheit und Gegenwärtigkeit“ der Sprache besteche. „Ein grobes, derbes, wunderbar falsches Deutsch, das auf Anhieb einleuchtet“, heißt es da. Die verfilmten „feinen Unterschiede“ zwischen Schulsprache und Alltagssprache locken derzeit ein Millionenpublikum ins Kino, vielleicht weil hier ein allseits bekanntes Problem schulischen Sprachgebrauchs karikiert wird.1

Spracherwartungen als „geheimes Curriculum“

Doch die in den letzten Jahren wiederholte Forderung nach durchgängiger Sprachförderung reagiert nicht nur auf altbekannte Differenzen. Vielmehr erfährt die Rolle schulischen Sprachlernens eine Neubewertung. Nachdrücklich wird Sprachlernen als spezifische Herausforderung der Einwanderungsgesellschaft anerkannt, und sprachliche Kompetenzen werden als kulturelles Kapital der Kommunikations- und Wissensgesellschaft aufgewertet. Daher gewinnen die Sprachbildung und das Sprachhandeln der Schülerinnen und Schüler an Bedeutung. In der Lesart der funktionalen Linguistik eröffnet erst das Wissen um die Funktion sprachlicher Mittel Schülerinnen und Schülern sprachliche Wahl- und damit auch alternative Denkmöglichkeiten, die im Unterricht durch aktives und domänenspezifisches Sprachhandeln gefördert werden müssen. Diese integrale Betrachtung von Sprache und Denken, von Sprachlernen und Fachlernen wirft die Frage nach den fachspezifischen sprachlichen Anforderungen auf, die jenseits der Fachbegriffe im Unterricht selten erläutert werden. Im Fachunterricht erwarten Lehrerinnen und Lehrer vielmehr selbstverständlich sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die wachsende Zahl von Schülerinnen und Schülern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, und Lernende aus bildungsfernen Milieus treffen damit auf Sprachbarrieren und können die sprachlichen Lernchancen im Unterricht nicht hinreichend nutzen. Die sprachliche Erwartungshaltung der Schule bleibt so ein „geheimes Curriculum“, an dem viele Lernende durch Unkenntnis und mangelnde Förderung scheitern.

Von fachspezifischer Sprachpragmatik und fachsprachlichen Problemlagen

Aus geschichtsdidaktischer Sicht stellt der Zusammenhang von Sprache und Denken keine Neuentdeckung dar. Beim historischen Erzählen als Schlüsseloperation historischen Lernens fungiert Sprache als Erkenntnis- und Sinnbildungsstruktur, und narrative Kompetenz schließt die Reflexion über die sinnstiftende Funktion von Sprachhandlungen ein. Eigentlich hat gerade die Kompetenzdebatte für die Sprachgebundenheit historischen Lernens sensibilisiert: Als Beispiele seien Begriffslernen, Quelleninterpretation, Gattungskompetenz, Analyse von Darstellungstexten genannt – man könnte die Aufzählung beliebig fortsetzen. Doch, wie bereits Hilke Günther-Arndt anmerkte, steht eine Systematisierung des Verhältnisses von Sprache und historischem Lernen bislang aus.2 Zudem hat die geschichtsdidaktische Hinwendung zur Sprache im Fach zunächst wenig damit zu tun, dass Lernprobleme sprachlicher Natur sind. Sie ist vielmehr geschichtstheoretisch motiviert und vom Lerngegenstand her gedacht. Eine Analyse von Lehrer- und Schülersprache im Geschichtsunterricht, die Becher und Lucas bereits 1976 anmahnten, bleibt ein dringliches Desiderat. Eine fachspezifische Sprachpragmatik, eine Pragmatik des Lesens und Schreibens, steckt erst in den Anfängen.3 Was die sprachlichen Anforderungen des Geschichtsunterrichts betrifft, dann hinterlässt auch ein vergleichender Blick in die Curricula eher Ratlosigkeit.4 Dagegen erhärten empirische Befunde zum Schulbuchverständnis, zum Begriffsverstehen oder Untersuchungen von Abituraufsätzen die Einsicht, dass fachliche und sprachliche Problemlagen nicht zu trennen sind.

Von zweitem „linguistic turn“ und sprachlichen Normierungsprozessen

Braucht die Geschichtsdidaktik also einen zweiten „linguistic turn“? Die Frage scheint fast schon rhetorisch. Auf europäischer Ebene ist bereits ein Rahmen für die Sprachförderung in den einzelnen Fächern gezimmert.5 Daher ist das Fach Geschichte vielleicht bald PISA-reif und Sinnbildungsleistungen können entlang sprachlicher Marker endlich vermessen werden. Öffnet man so vielleicht unbewusst Raum für sprachliche Normierungsprozesse, wie ein Lehrer auf einer Kieler Fortbildung kritisierte? Wenn sprachliche Anforderungen zum Gradmesser fachlicher Leistungen werden – so sein Argument – dann werde die Ausgrenzung über Sprache zum bildungspolitischen Programm. Er verstünde auch ohne „Konjunktiv“ und relativierende Modalwörter, was seine Schüler meinten.

Dass mit dem Fall Jenninger der fehlende Konjunktiv bereits ein eigener Gegenstand historischen Lernens ist, steht auf einem anderen Blatt.6

 

 

Literatur

  • Becker-Mrotzek, Michael u.a. (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster u.a. 2013.
  • Schleppegrell, Mary J.: The Language of Schooling. A Functional Linguistics Perspective. Mahwah/NJ 2004.
  • Schrader, Viola: Geschichte als narrative Konstruktion. Eine funktional-linguistische Analyse von Darstellungstexten in Geschichtsschulbüchern. Münster 2013.

Externer Link

Auswahlbibliographie “Sprache und Geschichtslernen” bei historicum.net, verfügbar unter der URL http://www.historicum.net/kgd/auswahlbibliographie/theorien-und-grundlagen/#jumpLink4 (abgerufen am 5.1.2014).

 

Abbildungsnachweis
Bild Sprache(n) historischen Lernens, © Saskia Handro 2013

Empfohlene Zitierweise
Handro, Saskia: Sprachlos im Geschichtsunterricht? In: Public History Weekly 2 (2014) 1, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-957.

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Bilingualer Geschichtsunterricht. Ein Puzzle, das nicht passt?

 

Bilingualer Geschichtsunterricht liegt im Trend. Eltern und ihre Kinder erhoffen sich eine gute Vorbereitung auf die zunehmend internationalisierte Berufswelt, während viele Schulen mit ihm um die Gunst leistungsstarker SchülerInnen buhlen. Von GeschichtsdidaktikerInnen wird sein Mehrwert für das historische Lernen dagegen oft kritisch beurteilt. Es ist deshalb an der Zeit, neu und anders über bilingualen Geschichtsunterricht nachzudenken.

 

Entdeckung der Sprachlichkeit

Als guter Ausgangspunkt erweist sich hier die zunehmende Beschäftigung mit dem allgemeinen Verhältnis von Geschichte und Sprache in der Geschichtsdidaktik, sowohl auf theoretischer als auch auf empirischer Ebene. Sie hat unter anderem zu einer verstärkten Wahrnehmung von Forschungsansätzen aus dem englischsprachigen Raum geführt, die z.B. mittels funktional-linguistischer Ansätze Schülertexte analysieren und daraus Folgerungen für eine fachspezifische Sprachförderung im Geschichtsunterricht ableiten.1 Bislang beziehen sich diese Beiträge jedoch weitgehend auf Geschichtsunterricht, der in der Muttersprache der SchülerInnen erteilt wird.2

Wirklich nichts Neues an der Bilingualität?

Die spezifische geschichtsdidaktische Diskussion über bilingualen Geschichtsunterricht hat dagegen andere Schwerpunkte gesetzt. Verstanden als „eine Form des Sachfachunterrichts, in der neben der Muttersprache eine Fremdsprache in methodisch reflektierter Form als Material und Arbeitssprache verwendet wird“,3 attestieren die AutorInnen ihm vielfach ein besonderes Maß an „Multiperspektivität“ und „Fremdverstehen“, das vermeintlich auch empirisch nachgewiesen werden konnte.4 Immer wieder betont wird in diesem Zusammenhang, dass bilingualer Geschichtsunterricht sich nicht als Sprachunterricht instrumentalisieren lassen dürfe, sondern in erster Linie als Geschichtsunterricht konzipiert sein müsse. Es drängt sich dabei jedoch der Verdacht auf, dass eine weitgehende Reduktion dieses Diskurses auf die Kategorie des „Fremdverstehens“ das didaktische Potential des bilingualen Geschichtsunterrichts erheblich unterschätzt.

Sprachsensibler Geschichtsunterricht

Sinnvoll wäre es vielmehr, sprachliches und historisches Lernen nicht als Gegensatzpaar, sondern als zusammengehörige Größe ein- und desselben Phänomens zu begreifen und die Diskurse über Sprachlichkeit und Bilingualität im Geschichtsunterricht zusammenzuführen. In methodischer Hinsicht könnte dies bedeuten, die Anregungen von Caroline Coffin (2006) für einen sprachsensiblen Geschichtsunterricht aufzugreifen und auf das historische Lernen in der Fremdsprache zu übertragen. Auch ein verstärkt interdisziplinärer Blick auf bilinguales historisches Lernen erscheint dabei hilfreich – dies kann anhand eines Blicks auf verschiedene Formen schriftlicher und mündlicher Kommunikation im Fremdsprachen- und im Geschichtsunterricht gezeigt werden.

So passt das Puzzle: Coffin (2006)

Wie wichtig Kenntnisse über Konventionen verschiedener Textgattungen für das historische Lernen sind, hat Coffin für den Bereich der Rezeption und Produktion schriftlicher Texte eindrucksvoll herausgearbeitet. Die Unterscheidung zwischen recording, explaining und arguing genres erlaubt es Coffin, nicht nur inhaltliche, sondern auch sprachliche Kriterien für die Beurteilung von Schülertexten zu identifizieren. Das bedeutet, dass SchülerInnen auch im Geschichtsunterricht lernen können, welche strukturellen, grammatischen und lexikalischen Aspekte beim Verfassen historischer Texte zu beachten sind – und sie kennen ein solches Vorgehen in der Regel schon aus ihrem Fremdsprachenunterricht. So enthalten z.B. viele Lehrmaterialien für den Englischunterricht umfangreiche Übungen, die SchülerInnen Schritt für Schritt an das Schreiben eines argumentative text heranführen, indem sie zunächst zur Identifizierung einer Textstruktur im Ganzen auffordern, um anschließend die Rolle von topic sentences und supporting sentences innerhalb eines einzelnen Absatzes erarbeiten zu lassen. Für den bilingualen Geschichtsunterricht bietet Coffins Buch zahlreiche Beispieltexte, die bei entsprechender Erarbeitung im Unterricht auch deutschen SchülerInnen einen bewussteren Umgang mit der (englischen) Sprache beim Verfassen von historischen Texten ermöglichen können. Die Entwicklung entsprechender Lehrmaterialien steht allerdings noch aus.

Sprechen!

Schwerpunktmäßig ist bilingual erteilter Geschichtsunterricht jedoch in der Sekundarstufe I als sog. mündliches Fach anzutreffen, sodass das schriftliche Verfassen historischer Texte in der Regel nicht im Zentrum des Unterrichtsalltags steht. Darum bietet im Bereich der mündlichen Kommunikation ein Blick auf aktuelle Entwicklungen im Fremdsprachenunterricht Anregungen für den Ausbau eines sprachsensiblen bilingualen Geschichtsunterrichts. Im Bemühen, Fremdsprachenlernen möglichst alltagsnah zu gestalten, steht das Bestreben im Mittelpunkt, vermehrt die mündliche Kommunikationsfähigkeit der Lernenden zu fördern. Um der Akzentverschiebung von schriftlichen auf mündliche Sprachleistungen Gewicht zu verleihen, werden bereits jetzt an vielen Schulen auf eigene Initiative (ab 2014/2015 dann von NRW-ministerieller Seite verordnet) mündliche Prüfungen als Klassenarbeitsersatz im Fremdsprachenunterricht durchgeführt. Nach vorherigen Übungsphasen zu diesem neuen Prüfungsformat werden häufig visuelle Materialien als Impulse für monologisches und dialogisches Sprechen als Partner- oder Kleingruppenaufgabe verwendet. Ein ähnliches methodisches Vorgehen könnte auch für den bilingualen Geschichtsunterricht in mehrfacher Hinsicht ertragreich sein, indem Verfahren der Bildinterpretation im bilingualen Geschichtsunterricht ritualisiert in mündlichen Unterrichtsphasen eingesetzt werden. Neben methodischen und narrativen Kompetenzen könnten so auch (fremd)sprachliche kommunikative Kompetenzen eine fachspezifische Ausrichtung erhalten.

Methodischer Realismus

Selbstverständlich sollte bilingualer Geschichtsunterricht weiterhin auch Angebote zur Förderung eines besseren Verständnisses fremder Kulturen bereithalten, was auch sonst? Realistisch erreichbar ist dieses Ziel aber nur durch einen sprachsensiblen Unterricht, der die hohen Hürden historischen Lernens in einer Fremdsprache ernst nimmt und den SchülerInnen unterrichtsmethodische Hilfestellungen für die schriftliche und mündliche Verständigung über Geschichte gibt.

 

 

Literatur

  • Coffin, Caroline: Historical Discourse. The Language of Time, Cause and Evaluation, London/New York 2006.
  • Handro, Saskia: Sprache und historisches Lernen. Dimensionen eines Schlüsselproblems des Geschichtsunterrichts. In: Becker-Mrotzek, Michael et al. (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen, Münster 2013, S. 317-333.

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
© Rainer Sturm / pixelio.de

Empfohlene Zitierweise 
Schlutow, Martin: Bilingualer Geschichtsunterricht. Ein Puzzle, das nicht passt? In: Public History Weekly 2 (2014) 1, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1035.

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