“Du hast die Nase Deines Vaters.” Ein ganz normaler Satz, dessen Inhalt heute ebenso wie in vorwissenschaftlichen Zeiten einen Einfluss der Eltern auf ihre Kinder anerkennt, der nicht auf den Erziehungsstil zurückgeführt werden kann. Wir wissen seit langem, dass wir mit den Karten, die bereits vor unserer Geburt ausgeteilt werden, unser Leben lang spielen werden. Es würde die meisten doch sehr überraschen, wenn ein buddhistischer Koch und eine christliche Vermessungstechnikerin einen Koalabären zur Welt bringen würden. Und gleichzeitig ist uns klar, dass wir mehr oder weniger aus diesem Blatt machen können. Es würde uns wahrscheinlich Kopfschmerzen bereiten, wenn ein brutaler Mörder einen Freispruch erhielte mit Verweis auf den Genort Xq11-12 des X-Chromosoms, der irgendwie mit Testosteron zusammenhängt, welches wiederum irgendwas mit Aggression zu tun hat.
Weniger (selbst)verständlich werden die Antworten, wenn wir unsere Aufmerksamkeit weg von den Extremen – der einzelnen Handlung auf der einen und der über die gesamte Lebensspanne hinweg stabilen Eigenschaft auf der anderen Seite – hin zu einem mittleren Niveau lenken und hier die gleichen Fragen stellen: Meine Freundin ist besser als ich in Mathe; mein Kollege redet viel, fühlt sich auf Parties pudelwohl und hat zu Hause immer den Fernseher im Hintergrund laufen, ich gehe gern allein im Wald spazieren; Du trinkst Kaffee, ich trinke Tee – wie kommt das? Sind da die Gene am Werk in der Art eines Bauplans, in dem ich mit meinem einzigartigen Eigenschaftenmix von Anfang an vorprogrammiert war? Oder ist es meine Umwelt (Freunde und Familie, Sportverein, die Luft, die ich atme), die seit dem Moment meiner Entstehung meinem anfangs formlosen Selbst mit Lebenserfahrungen Konturen verleiht? Oder – und hier verlassen wir den Bereich des Simplistischen – ist es ein Zusammenspiel von beidem?
Mit solchen Fragen beschäftigen sich unter anderem Psychologen, genauer gesagt gehören sie in die biologische Psychologie oder in die Persönlichkeitspsychologie. Und es mangelt auch nicht an Antworten. Viele Studien finden Zusammenhänge zwischen bestimmten Genausprägungen und komplexen Konstrukten wie Extraversion oder Suchtrisiko. Aber bei dem Versuch, diese Antworten zu deuten, stößt das Alltagsdenken oft an seine Grenzen. “Wenn Intelligenz zu 50% erblich ist, dann muss das doch heißen, dass ich nur auf eine Hälfte meiner kognitiven Fähigkeiten Einfluss nehmen kann. Oder?” Und auf der anderen Seite hadern Wissenschaftler damit, dass ihre wertvolle Forschung so wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung bekommt. Experten sind oft geplagt vom ‘Fluch des Wissens’, d. h. sie können sich nur schwer vorstellen, wie es jemandem geht, der sich auf ihrem Fachgebiet nicht gut auskennt.
Was bedeutet es nun tatsächlich, dass Intelligenz eine Erblichkeit von 50% hat, und was bedeutet es nicht? Und was ist der praktische Wert der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Gen CRHR1 und dem Suchtverhalten von Menschen, was lässt sich mit sowas in der ‘echten Welt’ anfangen?
Von Zwillingen und Adoptionen
Um bei dieser alten Frage, ob die Veranlagungen oder die Lebensumgebung schwerer wiegen, mitreden zu können, ist es hilfreich sich (zumindest gedanklich) auf mögliche Wege zu ihrer Beantwortung zu begeben. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, die weite Verbreitung von Studien mit genetischen Markern und Knockout-Mäusen – dies sind relativ junge Entwicklungen, beruhend auf hochentwickelten Methoden, die auf tiefes Hintergrundwissen zurückgreifen. Untersuchungen zur Erblichkeit lassen sich jedoch auch mit herkömmlichen Mitteln und ganz wenigen Vorkenntnissen anstellen. Man braucht lediglich ein Messinstrument, z. B. einen IQ-Test, und den Wissensschnipsel, dass eineiige Zwillinge genetisch identisch sind, also 100% ihres Genmaterials gemeinsam haben, während zweieiige Zwillinge (und auch sonstige Geschwister) genau 50% ihres Genmaterials teilen. Mit diesen zwei Bausteinen kann jeder, der Zeit und Lust hat, Studien zur Erblichkeit von Persönlichkeitseigenschaften entwerfen und so der Frage nach Anlage und Umwelt nachgehen. Außerdem lässt sich auf dieser Basis viel von dem nachvollziehen, was Psychologen in den letzten hundert Jahren so getrieben haben:
Nehmen wir an, Lisa und Betti sind eineiige Zwillinge. Durch eine Verkettung teils unglücklicher und teils seltsamer Umstände wurden sie bald nach ihrer Geburt getrennt. Lisa landete in Schottland, wo sie nahe der Ostküste als einziges Kind eines Künstlerpaares aufwuchs. Betti hingegen verschlug es in die Ukraine, wo sie zusammen mit ihren fünf Adoptivgeschwistern oft im Restaurant ihrer Adoptiveltern aushalf. Im Alter von fünfzehn Jahren werden beide von einer Forschergruppe kontaktiert und füllen einen Intelligenztest aus. Die Forscher gehen vielen solcher Fällen nach und vergleichen jedesmal die IQ-Werte der getrennt lebenden Zwillingsgeschwister. Sie stellen fest, dass die Werte nicht immer, aber doch sehr oft nah beieinander liegen, obwohl das familiäre, schulische und landschaftliche Umfeld der Zwillinge sich mitunter stark unterscheidet. Die Wissenschaftler erklären sich dieses Phänomen mit dem genetischen Einfluss, denn sie finden keinen anderen Grund dafür, dass die kognitiven Leistungen der Zwillinge sich ähnlich entwickeln sollten. Aber um sicher zu gehen, fangen sie das ganze Prozedere nochmal von vorne an. Diesmal jedoch knöpfen sie sich zweieiige Zwillinge vor, die bei der Geburt getrennt wurden. Denn wenn da wirklich die Gene am Werke sind, dann sollten die IQ-Werte der zweieiigen Zwillinge sich genau halb so ähnlich sein wie die der eineiigen Zwillinge, weil die genetische Gleichheit ja auch genau halb so groß ist. Und tatsächlich bestätigt sich diese Vermutung: Die zu 50% genetisch gleichen Geschwister sind im Durchschnitt ähnlich klug, aber der Effekt ist nur ungefähr halb so stark wie bei den zu 100% genetisch gleichen Geschwistern.
Nicht alle Schicksale sind so auseinandertreibend wie die von Betti und Lisa. Die meisten Kinder werden von ihren biologischen Eltern großgezogen. In diesem Falle teilen sie nicht nur ihr Genmaterial, sondern auch einen Großteil ihrer Umwelt. Das ist übrigens eine der Grundannahmen der Zwillings- und Adoptionsforschung: dass die Familie einen großen Teil der Umgebung von Kindern und Jugendlichen ausmacht. Darum nehmen die Forscher auch lieber zweieiige Zwillinge als Vergleichsgruppe. Denn obwohl normale Geschwister ebenso 50% ihrer Gene gemeinsam haben, sind sie zu verschiedenen Zeiten geboren und das familiäre Umfeld, in das das zweite Kind hineingeboren wird, unterscheidet sich von dem, in das das erste Kind hineingeboren wurde (nicht zuletzt dadurch, dass es bereits ein großes Geschwisterkind gibt). Bei zweieiigen Zwillingen trifft aufgrund ihrer relativ synchronen Uterusentschlüpfung die Annahme der gleichen Umwelt eher zu.
Die bunten Balken veranschaulichen mögliche Ergebnisse solcher ‚Zwillingsforschung mit geteilter Umwelt’. Die Höhe der Balken gibt Auskunft über die Ähnlichkeit von Zwillingspaaren. Wenn die IQ-Werte der Geschwister im Durchschnitt nah beieinander liegen, ist der Balken hoch. Wenn die Intelligenzquotienten der Geschwister nichts miteinander zu tun haben, ist er niedrig. So können wir schon mal ablesen, dass eineiige Zwillinge sich im Durchschnitt ähnlicher sind als zweieiige Zwillinge, die sich wiederum ähnlicher sind als Adoptivgeschwister. Die Gene spielen also bei allen der drei abgebildeten Eigenschaften eine Rolle. Welcher Anteil der Balkenhöhe, also der Zwillingsähnlichkeit, ist nun erblich und wieviel davon lässt sich auf die Familie zurückführen? Eine Möglichkeit, den Umwelteinfluss zu bestimmen, ist, ihn von den blauen Balken abzulesen. Adoptivgeschwister teilen keinerlei Gene, darum muss jede Ähnlichkeit zwischen ihnen auf nichtgenetischen Faktoren beruhen. Eigenschaft A ist sehr stark durch die Umwelt beeinflusst. Die Eigenschaften B und C nicht so sehr. Die Ähnlichkeit eineiiger Zwillinge setzt sich aus dem genetischen Einfluss + dem Familieneinfluss zusammen. Wenn wir jetzt den Familieneinfluss abziehen, bleibt der Anlageneffekt übrig. Roter Balken – blauer Balken = genetisch bedingte Ähnlichkeit. Die Eigenschaften A und C sind nur sehr wenig erblich. Eigenschaft C ist aber im Gegensatz zur Eigenschaft A auch kaum von der Familie beeinflusst. Hier müssen also andere Faktoren maßgeblich beteiligt sein, z. B. Schule, Freunde, Sportverein. Eigenschaft B ist wenig vom familiären Umfeld und stark von den Genen geprägt – so ungefähr würde sich das entsprechende Balkendiagramm für Intelligenz darstellen.
Nach einigen Monaten, viel Arbeit und mit der neu erlernten Fähigkeit, eineiige Zwillinge auseinanderhalten zu können, stehen die Forscher mit verschiedenen Messergebnissen für die Erblichkeit von Intelligenz da. Die Werte befinden sich alle in der Nähe von 50%. Und da die Wege zu den Antworten ganz unterschiedlich waren (es sieht aus wie Schokolade, es riecht wie Schokolade, es schmeckt wie Schokolade), können die Wissenschaftler auch mit gewisser Zuversicht sagen, dass dieser Wert stimmt. Toll!
Und jetzt?
Meta-Punkt 1: Wer ist eigentlich dieser Durchschnitt?
Wie so oft in der psychologischen Forschung haben wir es nun mit einer einzigen Zahl zu tun, die eine Gruppe beschreibt und die in der Anwendung letztlich dem Einzelnen zugute kommen soll. Genau gesagt bedeuten diese 50% Erblichkeit, dass wir höchstwahrscheinlich weniger Fehler machen, wenn wir die IQ-Werte eineiiger Zwillinge mit den IQ-Werten ihrer Zwillingsgeschwister schätzen, als wenn wir den allgemeinen Durchschnitt für die Schätzung verwenden. “Die Varianz der Intelligenz lässt sich zu 50% mit genetischen Unterschieden erklären” heißt das Ergebnis im Fachjargon. ‘Varianz’, ‘weniger Fehler’ – Ausdrücke, die umso weniger verlässlich sind, je kleiner die Gruppe ist, auf die sie angewendet werden. Und am einzelnen Fall zerschellen die Quantifizierungsversuche schließlich ganz.
Die blauen Punkte zeigen beispielhaft IQ-Werte von 22 eineiigen Zwillingspaaren. Links ist der IQ des einen, unten der des anderen Zwillings abgetragen. Die grüne Linie ist die Vorhersage der Psychologen. Man beachte, dass sie für keinen der eingetragenen Fälle zutrifft. Aussagen zur Erblichkeit sind nicht eins zu eins in die individuelle Sphäre übertragbar. Ich brauche also nicht alle Hoffnung auf geistige Höhenflüge fahren zu lassen, bloß weil ich meinen (biologischen) Eltern beim Kreuzworträtseln zugeguckt habe. Andererseits liegen die meisten Punkte ziemlich nah bei der Linie. Wenn ich meine Zukunft realistisch einzuschätzen versuche, ist es nicht unklug, meine Verwandten als Basis meiner Erwartungen mitzudenken. Der Apfel fällt nicht oft in Alaska.
Meta-Punkt 2: Das ‘gemäßigte-Breitengrade’-Paradigma
Die meiste sozialwissenschaftliche Forschung findet innerhalb desselben gesellschaftlichen Rahmens statt, den sie zu erhellen trachtet. Und je mehr dieser Rahmen sich verändert, umso mehr verlieren die alten Ergebnisse an Gehalt. Stellen wir uns z. B. vor, dass Lisa und Betti nicht nur bei ihrer Geburt getrennt wurden, sondern dass Betti darüberhinaus im Alter von sieben Jahren tödlich verunglückt ist. Tot zu sein wirkt sich meistens nicht vorteilhaft auf das Ausfüllen eines Intelligenztests aus. Müsste ihr Wert nicht eigentlich mit 0 in die Berechnungen eingehen und der IQ-Abfall als Umwelteinfluss gedeutet werden? Anderes Beispiel: Die Chorea Huntington ist eine fiese Krankheit, die von psychischen Beschwerden über Bewegungsstörungen bis hin zur Demenz heranwächst und im Durchschnitt 15 Jahre nach Auftreten der ersten Symptome mit dem Tod des Betroffenen endet. Etwas Besonderes an dieser Krankheit ist, dass sie 100%ig erblich ist und durch ein einziges Gen verursacht wird. Wer das Gen hat, wird früher oder später krank. Wer es nicht hat, wird nicht krank. Heute gibt es keine Heilung. Aber denken wir hundert Jahre voraus und stellen uns vor, im Vereinigten Europa des frühen 22. Jahrhunderts ist sie heilbar. Was ist in der Zwischenzeit mit der 100%igen Erblichkeit der Symptome passiert?
Forschungsergebnisse sind nicht statisch. Es ist nicht so, dass wir nach unserem Ausflug in die Erblichkeit der Intelligenz den Wert 50% in eine Steintafel einritzen und im Keller aufbewahren können, um diese Weisheit für die nachfolgenden Generationen zu erhalten. Als dynamischer Teil der Gesellschaft sollten wissenschaftliche Erkenntnisse für das (Zusammen)Leben relevant sein. Wenn wir wissen, dass Menschen mit einer bestimmten Ausprägung auf dem Gen CRHR1 eher zu Suchtverhalten neigen, können wir z. B. Interventionsmaßnahmen für Jugendliche besser auf diejenigen ausrichten, denen sie von Nutzen sein können. Gleichzeitig darf Forschung nicht trivial sein, also etwas bereits Bekanntes thematisieren. Herauszufinden, dass die meisten Unterschiede zwischen Menschen und Koalabären auf genetische Faktoren zurückzuführen sind, bringt einfach nicht weiter. Und drittens können Studienergebnisse umso mehr Menschen zugute kommen, je weiter der Rahmen ist, in dem sie gelten. Die Grundmechanismen des Lernens sind bei allen lebenden Organismen gleich; ob das Antwortformat eines Logiktests einen Einfluss auf die Selbsteinschätzungen bzgl. der eigenen Leistung im Test hat, ist hingegen nur für wenige Menschen interessant.
Wenn wir uns mit Psychologie beschäftigen, ist es gut im Kopf zu behalten, dass ein Großteil der Erkenntnisse nur für psychisch ‘gemäßigte Breitengrade’ stimmen und dass in extremen Situationen, z. B. in Kriegsgebieten oder in Armut, ganz andere Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge wirksam sind als in unseren Wohlstandsgesellschaften.
Fazit
Gene und Lebensumgebung formen jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit. Und während unser Nichtkoalabärentum uns ein Leben lang erhalten bleibt, ist keine einzelne, spezifische Handlung genetisch determiniert. Interessant sind Fragen auf einem mittleren Abstraktionsniveau: Wie spielen Anlage und Umwelt bei Eigenschaften wie Extraversion, Intelligenz oder Suchtrisiko zusammen? Um solchen Fragen nachzugehen, bietet sich eine Kollaboration mit Zwillingen und Adoptionsfamilien an, weil sich so die gesamte Spannbreite von genetischen und Umgebungsfaktoren untersuchen lässt, von 0 zu 100%iger genetischer Gleichheit und von gleichen zu sehr unterschiedlichen familiären Settings.
Die sich ergebenden Erblichkeitsschätzungen sind jedoch keine statischen Größen. Statt dessen lassen sie sich als eine Art Gesellschaftsdiagnose verstehen, die helfen kann, Lebensumwelten besser an die Dispositionen ihrer Bewohner maßzuschneidern.
Quelle: http://psych.hypotheses.org/26