Rezension: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael – Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970

 

Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael - Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970

Ich erinnere mich noch gut daran, im Wintersemester 2006/2007 mein erstes Hauptseminar bei Anselm Doering-Manteuffel belegt zu haben: "Profile der 70er Jahre". Damals war die Erforschung dieser Epoche gerade in den Anfängen. Die Zeitgeschichte hat immer das Problem, dass sie, wenn sie zu nahe an die Gegenwart rückt, nicht nur unter dem fehlenden Zugang zu Quellen leidet (die Sperrfristen der Archive sind unerbittlich), sondern dass zeitgenössische Debatten und Begrifflichkeiten die Diskussionen beeinflussen und verundeutlichen. Zusammen mit Lutz Raphael hat Doering-Manteuffel deswegen schon 2008 den Band "Nach dem Boom: Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970" vorgelegt, der vor allem dazu dient, ein neues Grundgerüst für die Forschung über jene Epoche aufzubauen. Natürlich sorgte der Band in der Fachgemeinschaft für rege Diskussion, und so überarbeiteten die Autoren ihn und schärften ihre Argumente. Ich habe die dritte Auflage von 2010 gelesen und rezensiere diese hier.



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Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2022/11/rezension-anselm-doering-manteuffellutz.html

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Rezension: Kyle Harper – Fate of Rome: Climate, Disease, and the End of an Empire

 

Kyle Harper - Fate of Rome: Climate, Disease, and the End of an Empire (Hörbuch)

Spätestens seit Edward Gibbon lässt die Frage, warum das Römische Reich fiel, die westliche Welt nicht los. Zu faszinierend ist das Narrativ von Zivilisation und Dekadenz, von Hochkultur und Niedergang. Allzu offensichtlich ließen sich Parallelen zur stets als prekär empfunden eigenen Lage ziehen, im deutschen Sprachraum am bekanntesten in Oswald Spenglers "Untergang des Abendlands". Die moralisch überhöhten Untergangsnarrative hat die Forschung (wenngleich nicht die populäre Wahrnehmung) mittlerweile glücklicherweise hinter sich gelassen. Trotzdem bereitet der Untergang als Ereignis immer noch zahlreiche Fragen. Kyle Harper legt mit diesem Buch eine neue These vor, die er explizit als komplementär zu bestehenden Argumentationen sieht, für die er aber zuversichtlich einen erhöhten Erklärungsbedarf sieht: das Römische Reich fiel, weil es ihm nicht gelang, ein Gleichgewicht zwischen Ausbeutung und Natur zu schaffen. Es war eine Kombination aus Viren und Klimakrise. Es ist eine starke These, aber es dürfte unbestreitbar sein, dass dies bisher in Narrativen über den Untergang des Reiches keine große Rolle gespielt hat.



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Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2022/10/rezension-kyle-harper-fate-of-rome.html

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Bei Netflix nichts Neues

 

Seit 1979 ist der weltberühmte Roman "Im Westen nichts Neues" nicht mehr verfilmt worden. Zuvor war der Stoff 1930 in einer oscarprämierten und mindestens ebenso berühmten (wenngleich in meinen Augen völlig überschätzten) Version verfilmt worden. Nun hat sich Edward Berger des Stoffes angenommen und für Netflix mit einem Budget von immerhin 16 Millionen Euro verfilmt. Dafür bekommt man eine Folge "House of the Dragon" und immerhin rund 57 Minuten "Herr der Ringe - Die Ringe der Macht". Aber für eine deutsche Produktion ist das ein ordentliches Preisschild, und die Produzierenden gehen auch entsprechend hausieren. Der Film ist der deutsche Beitrag für die Oscar-Verleihung, und niemand macht einen Hehl daraus, dass man den Auslandsfilm-Oscar gewinnen möchte. Darin liegt auch der Grund, dass der Netflix-Film in Deutschland in ausgewählten Kinos läuft - was mir wiederum die Chance gegeben hat, ihn zusammen mit rund 140 Schüler*innen im eigens reservierten Kinosaal anzusehen. Es ist eine Erfahrung, auf die ich lieber verzichtet hätte.



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Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2022/10/bei-netflix-nichts-neues.html

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Rezension: Andrei Soldatov – The New Nobility: The Restoration of Russia’s Security State and the Enduring Legacy of the KGB

Andrei Soldatov - The New Nobility: The Restoration of Russia's Security State and the Enduring Legacy of the KGB (Hörbuch)

Der russische FSB genießt einen schier legendären Ruf, der zu guten Teilen auf einer langen Traditionslinie beruht: der gefürchtete zaristische Geheimdienst stellte sich nach 1917 lückenlos als NKWD in die Dienste der kommunistischen Diktatur und wurde bald darauf in den KGB umstrukturiert, der nicht nur ein Repertoire an Antagonisten für James Bond zu stellen wusste, sondern auch für das Funktionieren der Diktatur unabdingbar war. Über 200.000 hauptamtliche Mitarbeiter*innen und vermutlich Millionen Zuträger*innen schufen den Polizeistaat der Sowjetunion. Unter Jelzin gab es Versuche, den KGB zu entmachten und demokratischer Kontrolle zu erstellen. Doch bald waren diese beendet, und 2000 übernahm mit Wladimir Putin der ehemalige Chef des nun in FSB umbenannten Geheimdiensts das höchste Amt im Staat. Er belohnte seine Weggefährten fürstlich: ein neuer Adel entstand, der dem vorliegenden Buch von Andrei Soldatov den Namen gegeben hat.



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Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2022/10/rezension-andrei-soldatov-new-nobility.html

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Rezension: M. E. Sarotte – Not one inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate

 

M. E. Sarotte - Not one inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate (Hörbuch)

In der Krise um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022/23 brachten die Gegner*innen einer Sanktionspolitik gegenüber Russland und Unterstützungspolitik für die Ukraine häufig das Argument vor, dass die NATO zumindest eine Mitschuld an dem russischen Angriff trage, da sie durch ihre Osterweiterung und damit eine Verschiebung der strategischen Peripherie nach Russlands Grenzen hin einen sicherheitspolitischen Druck erzeugt habe, den Moskau durch eigene Handlungen erleichtern zu suchen müsste. Sie beklagen das Verpassen einer Chance, Russland in eine europäische Sicherheitsarchitektur einzubunden. Ich habe über den Mythos, dass die Osterweiterung der NATO gegen Versprechen des Westens während des Falls des Eisernen Vorhangs verstoßen habe, schon einmal thematisiert. M. E. Sarottes Buch war nun eine willkommene Gelegenheit, um sich näher mit dieser Epoche und der Diplomatie darin zu beschäftigen.



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Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2022/09/rezension-m-e-sarotte-not-one-inch.html

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Rezension: Dan Diner – Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942

 

Dan Diner - Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942

Wir haben sowohl hier in Deutschland als auch im Westen allgemein einen verzerrten Blick auf den Zweiten Weltkrieg. Wir Deutschen betrachten ihn meist mit uns selbst als Zentrum: Westfeldzug, Barbarossa, die Peripherie mit Balkan, Nordafrika (exotisch!) und Griechenland. Jahrzehnte triumphaler popkultureller US-Einflüsse haben uns außerdem sattsam mit dem Unternehmen Overlord und Market Garden gemacht. Dan Diner will von diesen wohlausgetretenen Narrativen nichts wissen. Stattdessen stellt er das jüdische Palästina in den Zentrum seiner Betrachtung der Jahre 1935 bis 1942, die auch nicht eben die übliche chronologische Einordnung des Zweiten Weltkriegs sind. Dafür gibt es gute Gründe, denn dieser Fokus ermöglicht ihm einen faszinierenden Blick auf diesen Konflikt und seine Auswirkungen, der wenig mit den eher deutschzentrischen Sichtweisen, an die wir gewöhnt sind, zu tun haben.



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Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2022/09/rezension-dan-diner-ein-anderer-krieg.html

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Rezension: Thomas Sandkühler – Das Fußvolk der »Endlösung«. Nichtdeutsche Täter und die europäische Dimension des Völkermords. »Aktion Reinhardt«: die Rolle der »Trawniki-Männer« und ukrainischer Hilfspolizisten

 

Thomas Sandkühler - Das Fußvolk der »Endlösung«. Nichtdeutsche Täter und die europäische Dimension des Völkermords. »Aktion Reinhardt«: die Rolle der »Trawniki-Männer« und ukrainischer Hilfspolizisten

Obwohl der Holocaust wohl eines der best-rezipierten Themen der deutschen Geschichte ist, gibt es in der Forschung immer noch zahlreiche Leerstellen und Unklarheiten. Dazu kommt, dass die Interpretation des Holocaust großen Änderungen unterworfen ist, die von der Öffentlichkeit nicht immer nachvollzogen werden - zumindest nicht auch nur annähernd in der Geschwindigkeit, in der die Forschung voranschreitet. Obwohl etwa die Bedeutung des Teils des Holocaust, der sich außerhalb der Vernichtungslager durch Erschießungen und andere direkte Gewalt vollzog - immerhin etwa die Hälfte der Morde - in der Forschung seit den 1990er Jahren stark in den Fokus gerückt ist, bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch die Rampe von Birkenau und mit ihr die Vorstellung eines industriellen, organisierten, effizienten Massenmords vorherrschend. Dazu gehört auch eine kuriose Entfernung von den eigentlichen Taten: die deutsche Rezeption legte in der Forschung und legt noch immer in der Öffentlichkeit großes Gewicht auf die "Schreibtischtäter" und die Bürokratie des Terrors, die das spezifisch Deutsche des Holocaust gut zu unterstreichen scheinen - einerseits seine Singularität in der Industralität, andererseits die Effizienz, die mit dem deutschen Selbstbild auf geradezu perverse Art zusammenpasst. Tatsächlich legten die Nazis Wert darauf, die Drecksarbeit nach Möglichkeit andere für sich machen zu lassen. Auf dieses "Fußvolk der Endlösung" legt Thomas Sandkühler im vorliegenden gleichnamigen Band seine Aufmerksamkeit.



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Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2022/08/rezension-thomas-sandkuhler-das-fuvolk.html

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Rezension: Matthew Gabrielle/David M. Perry – The Bright Ages: A New History of Medieval Europe

 

Matthew Gabrielle/David M. Perry - The Bright Ages: A New History of Medieval Europe (Hörbuch)

Im Jahr 476 fiel das Römische Reich. Germanische Stämme plünderten die "Ewige Stadt", der letzte Kaiser wurde abgesetzt und das Reich zerfiel. Mit ihm ging das Licht zivilisatorischen Fortschritts aus der Welt und machte den "Dunklen Zeiten" Platz, einer Ära der Gewalt und der Unwissenheit, in der religiöser Aberglauben die Philosophie, kleine Feudalherren die römische Bürokratie und das Faustrecht den Pax Romana ersetzten. Aus diesem Morast entwickelten sich harte Krieger, die Ritter, und die Beginne der europäischen Nationen, die sich dann in der Neuzeit formieren würden. Sein Ende fand dieses dunkle Mittelalter mit der Renaissance ab dem 15. Jahrhundert, in dem die antiken Wissensbestände wiederentdeckt und der Buchdruck erfunden wurden und die Wissenschaft den Aberglauben zurückzudrängen begann, während die europäischen Nationalstaaten die Welt unterwarfen und schließlich mit der Industriellen Revolution ins Zeitalter der Moderne eintrafen. So zumindest lautet eine grob zusammengefasste Vulgärversion dessen, was viele über das Mittelalter zu wissen glauben. Das Gerede von den "Dunklen Zeiten", den "dark ages", wird von der Wissenschaft seit mittlerweile einem Jahrhundert in Zweifel gestellt, hält sich aber hartnäckig. Matthew Gabrielle und David M. Perry unternehmen in dem vorliegenden Band einen neuen Versuch: sie postulieren, es seien stattdessen "Helle Zeiten", "bright ages", gewesen. Ich kann an revisionistischer Geschichtsschreibung nie einfach nur vorbeigehen, und das Klischee des düsteren Mittelalters stört mich schon lange. Also habe ich mir das Buch zu Gemüte geführt.



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Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2022/08/rezension-matthew-gabrielledavid-m.html

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Rezension: Reinhard Schmoeckel/Bruno Kaiser – Die vergessene Regierung: Die große Koalition 1966-1969 und ihre langfristigen Wirkungen

 

Reinhard Schmoeckel/Bruno Kaiser - Die vergessene Regierung: Die große Koalition 1966-1969 und ihre langfristigen Wirkungen

Als ich meine Reihe über das Ranking der deutschen Kanzler*innen nach ihrer historischen Bedeutung schrieb, habe ich Kurt Georg Kiesinger auf den vorletzten Platz verbannt. Während wohl niemand Ludwig Erhardt den wohlverdienten letzten Platz streitig machen würde, gab es durchaus Stimmen, die sich für Kiesinger in die Bresche warfen. Und nicht zu Unrecht. Die Große Koalition ist, abgesehen von ihrer Rolle als Geburtshelferin für die (heillos überschätzt) APO, weitgehend in Vergessenheit geraten. Wie bereits der Titel des Buchs von Reinhard Schmoeckel und Bruno Kaiser verrät, vertreten die Autoren die These, dass die Große Koalition durchaus eine Menge langfristiger Auswirkungen hatte.



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Rezension: Ezra M. Vogel – Deng Xiaoping and the transformation of China (Gesamtartikel)

 

Rezension: Ezra M. Vogel - Deng Xiaoping and the transformation of China (Hörbuch)

Der Tod Mao Zedongs 1976 war eine Wasserscheide in der Entwicklung Chinas. Einer der größten Massenmörder der Geschichte, der mit dem "Großen Sprung nach vorn" und der "Kulturrevolution" sein Land zweimal mutwillig an den Rand des Abgrunds gebracht hatte, war nicht mehr. 1978 folgte ihm Deng Xiaoping nach, der China auf einen "neuen Pfad" setzt - ein Pfad, der rapide zu wirtschaftlichem Aufstieg führen sollte. Deng Xiaoping kann man wohl mit Fug und Recht als Vater des modernen China bezeichnen, was Grund genug ist, sich mit ihm und seiner Politik näher zu beschäftigen. Ezra Vogels umfassende Biografie unternimmt es, sein Leben vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen nachzuzeichnen. Er legt dabei eine Biografie kommunistischer Hinterzimmerpolitik mit all den Stärken und Schwächen vor, die an dem Ansatz hängen - aber dazu gleich mehr.



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Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2022/07/rezension-ezra-m-vogel-deng-xiaoping.html

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